Jobcenter-Chef "Da wäre viel Geld für den Staat zu holen"

Mitte Oktober will die Arbeitsministerin ihre Vorschläge für die Reform des Bürgergelds vorlegen. Dringend notwendig sei diese, sagt Jobcenter-Chef Stefan Graaf – aus Gründen, über die kaum gesprochen werde.
Wer sich mit Stefan Graaf länger unterhält, kann sich nur wundern über seinen Optimismus: Seit 20 Jahren arbeitet er beim Jobcenter und hat als Geschäftsführer der StädteRegion Aachen unzählige Reformen und Änderungen miterlebt. Kaum noch "beherrschbar" seien die vielen Regelungen inzwischen geworden, sagt Graaf, der auch Sprecher des Bundesnetzwerks der Jobcenter ist. Er hofft auf Besserung. Mitte Oktober will Arbeitsministerin Bärbel Bas einen Gesetzentwurf zur Reform des Bürgergelds vorlegen. Warum diese dringend notwendig ist, die Debatte darum aber einen falschen Eindruck erweckt, erklärt er im Interview.
t-online: Herr Graaf, wie ist bei Ihnen im Jobcenter gerade die Stimmung?
Stefan Graaf: Wir sind engagiert bei der Arbeit und warten auf die nächste sich abzeichnende große Gesetzesreform. Die Diskussion darum fing ja bereits zu Zeiten der Ampelregierung an. Zudem kämpfen wir mit der schlechten wirtschaftlichen Lage, dem eingebrochenen Arbeitsmarkt. Es gibt im Grunde keine "normalen Zeiten" mehr.
Vor einem Jahr sagten Sie, das System müsse auch einmal zur Ruhe kommen. Danach sieht es ja nun nicht aus, oder?
Nicht wirklich. Die nächste Reform steht vor der Tür.

Zur Person
Stefan Graaf (58) ist seit 2005 Geschäftsführer des Jobcenters StädteRegion Aachen, seit 2007 Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft der Jobcenter NRW und seit 2008 Sprecher des Bundesnetzwerks der Jobcenter.
Sie arbeiten seit 20 Jahren im Jobcenter. Die wievielte Reform wird es dann sein?
Wir hatten 114 Änderungen seit 2005. Es gilt der Grundsatz: Nach der Reform ist vor der Reform.
Gab es Zeiten, zu denen Sie am System verzweifelten?
Nein. Dazu neige ich nicht. Ich würde mir eher wünschen, dass wir auch mal sehen, was gut ist und dann sagen: Komm, wir optimieren das, was optimierungsbedürftig ist.
Was ist denn Ihrer Meinung nach gut?
Wir haben ein aktivierendes System, das es vielen Menschen ermöglicht, sich wieder in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft zu integrieren. Das ist in den allermeisten Ländern der Welt nicht so. Aber die aktuelle Debatte ums Bürgergeld ist da längst aus dem Ruder gelaufen.
Was genau meinen Sie?
Es wird einengend fast nur noch über Totalverweigerer und Missbrauch geredet. Ich wünschte, es würde in Talkshows und der Politik genauso viel über Steuerbetrug und Wirtschaftskriminalität gesprochen. Da wäre auch viel Geld für den Staat zu holen.
Klingt, als glaubten Sie nicht an die 5 Milliarden, die Herr Merz jedes Jahr durch eine Bürgergeldreform einsparen will.
Daran glaube ich tatsächlich nicht. Aber nicht falsch verstehen: Es ist wichtig, Fehlentwicklungen zu thematisieren und um Lösungen zu ringen. Aber darüber vergessen wir den wichtigsten Hebel.
Der da wäre?
Eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration: Bei uns in der StädteRegion Aachen haben 70 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten keine abgeschlossene oder verwertbare Berufsausbildung, 23 Prozent haben noch nicht einmal einen Schulabschluss. Außerdem haben wir immer noch viele Kriegsflüchtlinge mit großen Sprachbarrieren und ganz viele Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Diese Menschen für eine Arbeitsaufnahme zu qualifizieren, muss das Hauptziel sein.
Einer der Ansätze des Bürgergelds war es, Qualifizierung stärker zu betonen statt Sanktionierung. Das hat aber offenbar nicht so funktioniert.
Qualifizierung war für uns immer schon wichtig. Nur, die Menschen lassen sich nicht auf Knopfdruck qualifizieren. Das braucht Zeit. Richtig ist aber auch: Das Bürgergeld hat die Balance zwischen Fördern und Fordern verschoben. Die Eigenverantwortung des Einzelnen kommt zu kurz, etwa dass Termine im Jobcenter wahrgenommen werden müssen und dass es Folgen hat, wenn man nicht erscheint.
War der Name Bürgergeld ein Fehler?
Ja. Das habe ich auch unterschätzt. Der Name hat mit der medialen Begleitmusik bei einigen zu falschen Vorstellungen geführt, etwa dass es ein bedingungsloses Grundeinkommen sei. Aber das ist es nicht. Es ist eine Leistung des Staates, für die dieser Mitarbeit erwarten kann und muss.
- Reform des Bürgergelds: Erste Details sind jetzt bekannt
Die Arbeitsministerin will diese nun mit mehr Sanktionen erreichen. Details ihres Gesetzentwurfs sind bekannt geworden, nach denen bei Pflichtverletzungen wie Nichterscheinen zu Terminen künftig bis zu 30 Prozent der Leistungen gekürzt werden können. Begrüßenswert?
Ja. Das geht in die richtige Richtung. Wer Geld vom Staat zum Lebensunterhalt bekommt, der muss Gesprächstermine wahrnehmen. Passiert das nicht, müssen wir Leistungen stoppen können, bis der Gesprächsfaden wieder aufgenommen wird. Manchmal wissen wir gar nicht, ob jemand überhaupt noch in der Stadt lebt. Es macht unglaublich viel Arbeit, den Menschen hinterherzulaufen. Nur, auch hier gilt: Wir reden wieder über einen kleinen Teil der Leistungsberechtigten. Für circa 80 Prozent der Menschen gilt das nicht.
Aber 20 Prozent sind ja trotzdem eine nennenswerte Größe
Absolut. Zumal diese Ausnahmen die Akzeptanz des gesamten Systems beschädigen.
Die Akzeptanz wird auch durch Missbrauchsfälle beschädigt, die teilweise mafiöse Strukturen aufweisen. Haben Sie solche Fälle auch bei sich?
Zum Glück betrifft das die Region Aachen nicht so, weil wir keine sogenannten Schrottimmobilien haben. Ich kenne aber Kollegen in Duisburg oder anderen Ruhrgebietsstädten, wo das beispielsweise ein großes Problem ist. Da wird das Wohngeld und das Bürgergeld missbraucht: Menschen aus Südosteuropa werden nach Deutschland gebracht, mit vielen anderen in Wohnungen gesteckt und mit Minijobs versehen, sodass sie als Arbeitnehmer in Deutschland gelten, die Anspruch auf Wohngeld und Aufstockung im Bürgergeld haben. Um das abzustellen, muss wohl EU-Recht geändert werden. Ich würde da allerdings noch einen Schritt weitergehen.
Nämlich?
Wir haben insgesamt viele Minijobber, die aufstocken und Bürgergeld erhalten. Auch Schwarzarbeit kann mit Minijobs einfach vertuscht werden. Es wäre daher sinnvoll, dass Grundsicherungsempfänger generell keinen Minijob oder ihn nur temporär beschränkt ausüben. Ursprünglich waren die Jobs ja mal für Schüler, Studenten, Rentner oder Vollzeiterwerbstätige gedacht, die sich nebenbei was dazuverdienen wollen.
Aber kann ein Minijob für einen Arbeitslosen nicht auch der Einstieg in eine reguläre Arbeit sein?
Manchmal schon. Wer dem Rechnung tragen will, müsste zumindest das Aufstocken mit Bürgergeld auf ein Jahr beziehungsweise den Minijob darauf begrenzen. Aber: Wir können und sollten nicht länger jedem Einzelfall gerecht werden. Dadurch wird das System zu kompliziert. Meine Kollegen in den Niederlanden zum Beispiel sagen mir, eure Komplexität ist verrückt.
Wir können und sollten nicht länger jedem Einzelfall gerecht werden.
Stefan Graaf, Geschäftsführer Jobcenter Städteregion Aachen
Was können wir von den Niederlanden lernen?
Zum Beispiel mehr Pauschalregelungen einzuführen. Wir haben wahnsinnig komplexe Anträge, unterscheiden etwa bei der Leistungsübernahme, ob das Warmwasser über eine dezentrale oder eine zentrale Warmwasserversorgung kommt, statt zu sagen: Eine Person im Haushalt bekommt Summe X, mit der muss sie wirtschaften. Punkt. Sicher wird es dann Einzelfälle geben, bei denen der eine etwas zu wenig, der andere etwas zu viel bekommt. Aber weil wir das nicht in Kauf nehmen, sind die Regelungen kaum noch beherrschbar.
Was halten Sie dann von dem Vorschlag, bestimmte Leistungen wie etwa das Wohngeld und den Kinderzuschlag zusammenzufassen, um Regelungen zu vereinfachen?
Grundsätzlich wäre es sehr sinnvoll, die nahezu 500 Sozialleistungen in unserem Staat stärker zusammenzufassen, zu vereinheitlichen und zu schauen, was lässt sich zusammenlegen. Aber mindestens genauso wichtig wäre es, dass wir wie die Dänen einen einheitlichen Datensatz bekommen, auf den der Staat zugreifen kann. Das wäre eine Riesenerrungenschaft. Im Moment müssen Bürger meist in Papierform für jede Leistung die gleichen Unterlagen immer und immer wieder vorlegen. Bei uns wandern die Menschen von Behörde zu Behörde, Ziel muss es sein, dass die Daten bei Bedarf wandern. In diesem Sinne gilt es, auch den Datenschutz auf die Höhe der Zeit zu bringen, damit wir digitale Möglichkeiten besser nutzen können.
Die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, hat gerade gefordert, die 240.000 Menschen in Deutschland, die nur sehr eingeschränkt arbeitsfähig sind, also mindestens drei Stunden am Tag arbeiten können, besser aus dem Bürgergeldsystem herauszunehmen und ihnen eine Erwerbsunfähigkeitsrente zu geben. Sehen Sie das auch so?
Grundsätzlich hat Frau Nahles recht: Auf dem Arbeitsmarkt gibt es für diese Menschen so gut wie keine Stellen, zumal sich diese wenigen Stunden oft auch noch auf den Tag verteilen – also mit teils langen Pausen dazwischen. Aber da sind auch junge Menschen dabei. Ich kenne welche, die sind 30 oder 35 Jahre alt. Wollen Sie die einfach in die Erwerbsunfähigkeitsrente outsourcen? Das halte ich für keine gute Idee. Wir müssen uns ehrlich machen: Für diese Menschen muss es eine öffentlich geförderte Beschäftigung geben. Das ist sinnvoller, als sie ins Nichtstun abzuschieben. Denn Arbeit gibt Tagesstruktur, soziale Kontakte und Wertschätzung. Arbeitslosigkeit und Nichtstun machen erwiesenermaßen krank.
Wie sinnvoll ist es, dass neu ankommende Flüchtlinge aus der Ukraine seit April kein Bürgergeld mehr, sondern Asylbewerberleistungen erhalten?
Wir Praktiker halten das für einen Irrweg. Das führt zu noch mehr Verwaltungsaufwand und Bürokratie, etwa bei Mischbedarfsgemeinschaften, also wenn eine Frau mit einem Kind noch zu den alten Bedingungen Bürgergeld bekommt, ab dem April gekommene Verwandte aber ins Asylbewerberleistungsgesetz fallen. Außerdem gibt es für sie keine Verpflichtung mehr zu arbeiten, dabei haben viele ein gutes Erwerbspotenzial. Es sind verschiedene Behörden für die Arbeitssuche und für die Leistungsauszahlung ohne digitale Schnittstellen zueinander zuständig, was zu Informationsdefiziten führt. Da ist leider mal wieder das wichtigste Postulat nicht beachtet worden.
Das da wäre?
Verwaltungsvereinfachung. Das muss sich der Gesetzgeber bei allem, was er macht, ganz oben auf die Agenda setzen: Jedes Gesetz muss die Verwaltung vereinfachen und zudem digitalisierungsfähig sein. Denn auch wir Jobcenter haben großen Personalmangel, dem können wir nur mit Digitalisierung begegnen. Aber die funktioniert auch nur, wenn das System schlanker und einfacher wird.
Können Sie beziffern, wie viel Zeit Ihre Mitarbeiter für Bürokratie aufwenden?
Nehmen wir eine Integrationskraft im Jobcenter: Deren Hauptgeschäft sollte es sein, mit den Menschen und den Arbeitgebern zu reden. Die kommt aber locker auf circa 40 Prozent ihrer Arbeitszeit, die sie für Dokumentationspflichten und Verwaltungsarbeit aufwendet, weil sie alles minutiös dokumentieren muss. Wir brauchen da einfach mehr Vertrauen.
Sind Sie guter Hoffnung, dass einiges von dem, was Sie hier skizziert haben, unter dieser Regierung nun kommt?
Grundsätzlich schon. Ich hoffe allerdings, dass es nicht im Streit über Einzelthemen endet, sondern dass die Bundesregierung die größtenteils anerkannten Themen anpackt und zügig umsetzt. Und dass das System der Grundsicherung dann mal dauerhaft Bestand hat. Denn alle paar Jahre die nächste große Reform – das ist untragbar. Wir brauchen endlich Beständigkeit im System. Diese Debatte ums Bürgergeld muss enden, sie spaltet die Gesellschaft.
Herr Graaf, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefoninterview am 2.10.2025













