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Taurus-Debatte: Olaf Scholz liefert wirklich nicht in die Ukraine


Als "geheim" eingestuft
Der wahre Grund, warum Scholz keine Taurus liefert


Aktualisiert am 16.03.2024Lesedauer: 6 Min.
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Der Kanzler bei einer Pressekonferenz: Seit Monaten muss sich Scholz erklären, warum Deutschland keine Taurus an die Ukraine liefert.Vergrößern des Bildes
Der Kanzler bei einer Pressekonferenz: Seit Monaten muss sich Scholz erklären, warum Deutschland keine Taurus an die Ukraine liefert. (Quelle: Florian Gaertner/getty-images-bilder)

In einer wilden Bundestagsdebatte hat Kanzler Scholz sein Nein zu einer Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine bekräftigt. Nach t-online-Recherchen könnte das einen besonderen Grund haben, der bisher nicht öffentlich bekannt ist.

Es war die wohl eindrücklichste Szene in der Taurus-Debatte diese Woche im Bundestag: Kanzler Olaf Scholz (SPD), sichtlich angefasst, geht CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen persönlich an, nachdem dieser eine Frage zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine gestellt hat.

"Was mich aber ärgert, sehr geehrter Abgeordneter, lieber Norbert, dass du alles weißt, und eine öffentliche Kommunikation betreibst, die darauf baut, dass dein Wissen kein öffentliches Wissen ist. Ich glaube, das sollte in der Demokratie nicht der Fall sein", so Scholz zu Röttgen.

Nicht nur die Anwesenden und Zuschauer des Livestreams im Netz fragten sich hinterher, was der Kanzler gemeint haben könnte. Seit über neun Monaten diskutiert das Land über die Abgabe deutscher Präzisionsflugkörper an die Ukraine. Der Kanzler schwieg lange zu dem Thema, bis er vor Kurzem erstmals öffentlich Gründe vorlegte, warum er sich entschieden habe, die Taurus nicht zu liefern.

Welches Geheimwissen meint der Kanzler?

Im Kern geht es Scholz darum, die Kontrolle über die Zielführung des Marschflugkörpers zu behalten, der über 500 Kilometer weit fliegen kann, und damit – theoretisch – bis nach Moskau. Um die Kontrolle zu behalten, sei wiederum eine Beteiligung deutscher Soldaten nötig, weswegen eine Lieferung des Taurus ausgeschlossen sei. "Das ist eine Grenze, die ich als Kanzler nicht überschreiten will", bekräftigte Scholz am Mittwoch sein Nein.

Scholz handelte sich damit den Vorwurf ein, er würde der Ukraine nicht vertrauen. Röttgen bestritt zudem tags darauf in einem ARD-Interview, ein "Sonderwissen" zu haben und warf dem Kanzler vor, er nutze Angst "als Mittel und Instrument seiner Durchsetzung".

Doch der Verweis auf die Kontrolle durch Deutschland ist offenbar nur ein Teil der Wahrheit. Nach Informationen von t-online gibt es einen weiteren wichtigen Faktor, der beim Taurus-Nein des Kanzlers eine Rolle spielt. Mit seinem Vorwurf an Röttgen, dieser besitze eine Art Geheimwissen, hat Scholz selbst angedeutet, worum es sich handeln könnte. Es geht um als geheim eingestufte Informationen, die dem Verteidigungsausschuss des Bundestags erstmals zugänglich gemacht wurden, dem Röttgen, als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, allerdings nicht angehört.

"Habe zum ersten Mal Zweifel"

Entscheidendes passierte laut t-online-Informationen in der Sondersitzung des Verteidigungsausschusses am Montag. Im ersten Teil befragten die Ausschussmitglieder zunächst den vorgeladenen Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius zur Abhöraffäre der Luftwaffe. In einem zweiten, geheimen Teil ging es um Taurus, dort wurden erstmals sensible Details über den Marschflugkörper mit Abgeordneten eines Fachausschusses des Bundestags geteilt.

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Der ebenfalls geladene Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, hielt demnach ein 20-minütiges Referat über die wichtigsten Fakten zum Taurus: Neben Einsatzfähigkeit und Stückzahl (die Luftwaffe verfügt nach Schätzungen über rund 600 Taurus) soll Breuer auch über besondere Risiken einer Lieferung für die Sicherheitsinteressen Deutschlands gesprochen haben.

Eine mit dem Vorgang vertraute Person berichtet t-online, dass manchen Abgeordneten dabei "die Kinnladen heruntergeklappt" sei. "Nach Breuers Vortrag war erst mal Stille im Raum. Selbst diejenigen, die sonst laut Forderungen stellen, hatten keine Fragen mehr." Ein Ausschussmitglied und Taurus-Befürworter sagte nach der Sitzung zu t-online, dass er "zum ersten Mal Zweifel bekommen" habe und seine Position zu einer Lieferung überdenken wolle.

Zielprogrammierung komplizierter als bekannt

Auch im Interview, das der verteidigungspolitische Sprecher von CDU/CSU, Florian Hahn, im Anschluss der Sitzung der ARD gab, ist davon etwas zu spüren. Hahn, der den Kanzler in der Taurus-Frage gerne mit markigen Worten antreibt, spricht ruhig, differenziert, fast so, als müsste er seine Gedanken neu ordnen.

Was hatte Breuer gesagt?

Der Generalinspekteur informierte die Abgeordneten offenbar im Detail darüber, dass der Einsatz des Taurus komplizierter ist, als bisher von vielen angenommen wurde. Um den Marschflugkörper sinnvoll einzusetzen, seien demnach enorme Mengen an Daten notwendig.

Dass die Zielprogrammierung der Taurus-Waffen kompliziert ist, war bereits bekannt. Die "zentrale Missionsplanung" (ZMP), das technische und operative Verfahren der Zieleingabe und Routenführung, besteht aus zahlreichen unterschiedlichen Quelldaten wie Höhenmesspunkten, Vektordaten, Satellitenbildern und Rasterkarten, um dem Taurus eine möglichst präzise Flugroute zu ermöglichen. Das ZMP-System wurde von der deutschen Firma ESG entwickelt, die Ende 2023 in der Rüstungselektronikfirma Hensoldt aufging.

"Einsatzfähigkeit der deutschen Streitkräfte" stehe auf dem Spiel

Es handle sich nicht um Giga- oder Terabyte, sondern um extrem hohe und komplexe Datenmengen, die offenbar von speziellen technischen Systemen aufbereitet werden müssen. Diese technischen Anlagen allerdings gebe es nur in begrenztem Maße, heißt es. Würden diese bei einer Taurus-Lieferung ebenfalls an die Ukraine transferiert, stünden sie der Bundeswehr nicht mehr zur Verfügung. Eine Fähigkeitslücke entstünde, die die "Einsatzfähigkeit der deutschen Streitkräfte" empfindlich beeinträchtigen würde, so eine mit der Angelegenheit vertraute Person.

Um welche Art von Anlagen es sich handeln soll, ist unklar. Weder der Taurus-Hersteller MBDA noch das Bundesverteidigungsministerium möchten sich auf Anfrage dazu äußern. Auch in welcher Stückzahl diese Anlagen vorhanden sind, wie lange es dauert, diese zu ersetzen, und warum sie so schwer nachzubeschaffen sind, ist fraglich. Es handle sich um eine "technische Engstelle", die für eine lange Zeit nicht ersetzt werden könne, so eine mit der Angelegenheit vertraute Person. "Wenn wir diese Fähigkeit liefern, dann gibt es sie für uns nicht mehr."

Die Situation sei nicht vergleichbar mit der Abgabe etwa der 18 Leopard-2-Panzer an die Ukraine, auf deren Ersatz das Heer bis 2026 warten muss. "Die Taurus gehören zu unseren wirkmächtigsten Waffen im Luft-Boden-Bereich, die nahezu an strategische Fähigkeiten heranreichen." Es gehe um "elementare Fragen der nationalen Sicherheit", heißt es, so eine mit der Angelegenheit vertraute Person. Den Abgeordneten sei in Breuers Vortrag ein "Preisschild" für die Sicherheit der Bundesrepublik mitgegeben worden, das nun allen Beteiligten bewusst sein müsse.

Taurus in zwei Varianten

Ein entscheidender Faktor dabei ist offenbar, wie der Taurus eingesetzt wird: in seiner "abgespeckten", datenärmeren Variante oder in seiner vorgesehenen Form mit allen Zusatzfeatures. Spielt der Taurus all seine Vorteile aus, kann er etwa in den Tiefflug auf bis zu 15 Metern Höhe heruntergehen, wo er feindliche Luftverteidigungsstellungen besser um- oder unterfliegen kann.

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Für diese präzise Navigation mittels vier verschiedener Systeme und die Modellierung der Route sowie des exakten Ziels (bis auf wenige Meter genau) brauche es jedoch besagte Anlagen, heißt es.

So könnte man den Taurus zwar ohne Zusatzfähigkeit an die Ukraine schicken inklusive einer kürzeren Ausbildungszeit für ukrainische Soldaten. Doch dann hätte der Taurus eher den Zweck, als Nachschub für die weniger leistungsfähigen britischen Marschflugkörper Storm Shadow zu dienen. Beide Varianten seien möglich, mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen.

Der Militärexperte Fabian Hoffmann unterscheidet zwischen einer "simplen" und einer "erweiterten Missionsplanung" bei Taurus. Für Letztere müsse auch eine entsprechende technische Infrastruktur vorhanden sein, so Hoffmann. Dies mache eine Ausbildung ukrainischer Soldaten an dem System weiterhin möglich, verzögere diese aber.

Hinweise im Luftwaffen-Leak

Hinweise auf die komplexe Missionsplanung wie auch auf den unterschiedlichen Einsatz des Taurus lassen sich auch in dem geleakten Gespräch zwischen hochrangigen Offizieren der Luftwaffe finden. Ein Oberstleutnant spricht etwa von "Zieldaten, die idealerweise mit Satellitenbildern kommen", weil damit die höchste Präzision, nämlich unterhalb von drei Metern, erreicht werden könne. "Die [Zieldaten] müssen wir verarbeiten im ersten Set in Büchel", wo die Luftwaffe einen Fliegerhorst unterhält.

An anderer Stelle erklärt der Offizier, dass sich die Berechnungszeit der Modellierung auf zwölf Stunden verdoppelt, wenn man die präziseren Satellitendaten einspeist, und dass dies eine Datenleitung erfordert, "die das leisten kann".

Steht Deutschland ohne Taurus wehrlos da?

Die Informationen, die den Abgeordneten in der Ausschusssitzung am Montag gegeben wurden, hatten auf die darauffolgende Bundestagsdebatte und die Abstimmung über den Unions-Antrag wenig sichtbare Auswirkung.

Sie können dennoch die Kalkulation des Kanzlers besser beleuchten, warum er auf seinem Veto besteht. Etwa wenn es um ein Worst-Case-Szenario geht: Gibt Scholz einen Teil der Taurus samt technischer Anlagen an die Ukraine ab und verliert diese den Krieg, könnte Russland in der Westukraine an der Nato-Grenze stehen, während Deutschland eine militärische Kernfähigkeit abgegeben hat. Eine "lose-lose"-Situation.

Deutschland stünde in der Folge militärisch noch schwächer da als zuvor. Verantwortlich dafür wäre der Kanzler. Da die Taurus-Systeme, wie mittlerweile von allen Seiten betont wird, keine Gamechanger sind, sondern lediglich taktische Vorteile brächten, könnte Scholz sich denken: Warum eine Waffe liefern, die für die Ukraine nicht kriegsentscheidend ist, aber für Deutschland eine massive Beeinträchtigung der eigenen Abschreckungsfähigkeit bedeutet?

Es bleibt eine Abwägungsfrage

Letztlich bleibt es eine politische Frage. Die Hürden einer Lieferung ließen sich beseitigen. Deutschland könnte den Taurus auch in der "Premiumvariante" an die Ukraine schicken und das Risiko für die eigene Sicherheit in Kauf nehmen. CDU/CSU, Grüne und FDP, die ebenfalls in besagter Ausschusssitzung saßen, sind offenbar bereit, dieses Risiko in Kauf zu nehmen.

Folgt man der Argumentation der stärksten Taurus-Befürworter, ergibt das auch Sinn: Wenn die These lautet, dass die Ukraine auch Deutschlands Sicherheit vor den Russen verteidigt, kann die Abgabe einer militärischen Kernfähigkeit vertretbar sein.

Der Kanzler hat diese Abwägung anders getroffen. Scholz tut das, wie er stets betont, mit dem Hinweis darauf, dass er als Kanzler den Amtseid abgelegt hat, um die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten. Dass er das aus bloß innenpolitischen Motiven tut, wie ihm viele seiner Kritiker vorwerfen, erscheint vor dem Hintergrund der nun aufgetauchten Informationen als zweifelhaft.

Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Textes ist bei einem Teil der Leserinnen und Lesern der missverständliche Eindruck entstanden, Norbert Röttgen sei Mitglied im Verteidigungsausschuss, was nicht der Fall ist. Wir haben die entsprechende Textstelle verdeutlicht.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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