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Spannungsfall: So macht der Staat Bundeswehr, Behörden und Bürger mobil


Ausrufung des Spannungsfalls
Ein Schritt, der alles verändern könnte


01.10.2025Lesedauer: 4 Min.
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Panzertransport im Bahnhof Tübingen: Der Spannungsfall hätte direkte Auswirkungen auf Bundeswehr, Behörden und Bürger. (Quelle: IMAGO/Eibner-Pressefoto/Dimitri Drofit/imago-images-bilder)
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Wegen Drohnen über Deutschland soll der Spannungsfall ausgerufen werden, fordert ein CDU-Politiker. Dadurch würden schlafende Notstandsgesetze wirksam.

Der Vorstoß kommt nach mehreren Sichtungen von mutmaßlich russischen Drohnen an der Nato-Ostflanke sowie auch über Deutschland. Politisch ist der Spannungsfall die Vorstufe zum Verteidigungsfall – und würde zahlreiche Vorsorge- und Sicherstellungsgesetze freischalten.

Was ist der Spannungsfall?

Der Spannungsfall ist eine vom Bundestag festzustellende Ausnahmelage zwischen Frieden und Verteidigungsfall. Rechtsgrundlage ist Artikel 80a Grundgesetz: Danach dürfen bestimmte Rechtsvorschriften "außer im Verteidigungsfalle" nur angewandt werden, wenn der Bundestag den Spannungsfall festgestellt hat. Der Spannungsfall führt nicht zu Kompetenz- oder Verfahrensverschiebungen, sondern dient der Mobilmachung des Staates.

Eine Legaldefinition enthält das Grundgesetz nicht. Nach verbreiteter Lehre muss jedoch eine schwere außenpolitische Konfliktsituation vorliegen, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit in einen bewaffneten Angriff auf Deutschland münden könnte. Der Bundestag hat bei der Entscheidung jedoch einen erheblichen politischen Einschätzungsspielraum. So könnte er den Spannungsfall wohl auch als Reaktion auf hybride Bedrohungen beschließen. Für die Feststellung des Spannungsfalls ist eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erforderlich. Der Bundesrat ist – anders als beim Verteidigungsfall – nicht beteiligt.

Welche Gesetze werden dadurch "entsperrt"?

Mit der Feststellung werden sogenannte Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze anwendbar, die im regulären Staatsbetrieb nicht greifen und nur durch den Spannungsfall in Kraft treten. Dazu zählen etwa das Wirtschaftssicherstellungsgesetz, das Arbeitssicherstellungsgesetz, aber auch Verkehrs‑ und Versorgungsvorschriften sowie zivilschutzrechtliche Regelungen. Diese Gesetze erweitern die staatlichen Eingriffs‑ und Organisationsmöglichkeiten auf drastische Weise, um Land und Bevölkerung für den Verteidigungsfall mobil zu machen.

Welche konkreten Maßnahmen wären möglich?

Der Spannungsfall würde sich direkt im Alltag bemerkbar machen. Ein Lkw-Fahrer könnte etwa verpflichtet werden, Treibstoff für die Bundeswehr zu transportieren – auch wenn er eigentlich für einen Supermarkt fährt. Familien könnten aufgefordert werden, ihre Wohnungen für Soldaten bereitzustellen. In Grenzregionen dürften bestimmte Straßen gesperrt oder ganze Sperrzonen errichtet werden, die Zivilisten nicht mehr betreten dürfen.

Auch Produktionsbetriebe könnten angewiesen werden, statt Konsumgütern dringend benötigtes Material für das Militär herzustellen. Selbst Reisewege könnten beschränkt und Vorräte rationiert werden. Wer im medizinischen Bereich arbeitet – oder einmal gearbeitet hat – könnte einen Pflichtdienstbescheid erhalten.

Auf dieses Szenario hat sich die Bundesagentur für Arbeit jüngst vorbereitet: In Hamburg probten Mitarbeiter im Juli 2025 im Rahmen der Bundeswehr-Übung "Red Storm Bravo", wie sie im Spannungs- oder Verteidigungsfall Personal für Krankenhäuser, Versorgung und Rettungsdienste zuweisen könnten.

Video | Hamburg im Alarm – Bundeswehr probt Ernstfall
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Quelle: Glomex

Wozu dient der Spannungsfall?

Erstens schafft der Spannungsfall klare Rechtsgrundlagen: Behörden erhalten eindeutige Befugnisse – etwa für Drohnenabwehr, die Sperrung von Straßen oder die Überwachung von Funknetzen. Zweitens schafft er Zugang zu ruhenden Notstandsgesetzen: Behörden können auf zusätzliche Befugnisse zurückgreifen – etwa für den Schutz kritischer Infrastruktur wie Flughäfen, Stromnetze oder Datenleitungen. Eine echte Verschiebung von Kompetenzen oder Verfahren tritt jedoch nicht ein; diese bleibt dem Verteidigungsfall vorbehalten.

Drittens ermöglicht der Spannungsfall eine gezielte Mobilmachung: Streitkräfte dürfen zivile Objekte sichern oder den Verkehr regeln, Unternehmen können zur Bereitstellung von Gütern verpflichtet werden und staatliche Stellen können Transport- oder Energieflüsse steuern. Viertens wird die gesamtstaatliche Resilienz gestärkt – durch vorbereitete Notunterkünfte und Vorratsplanung.

Welche Risiken hat der Spannungsfall?

Die Eingriffstiefe des Staates wird massiv erhöht. Die persönlichen Freiheitsrechte jedes Bürgers könnten im Spannungsfall stark eingeschränkt werden. Außerdem bleibt der Spannungsfall rechtlich unbestimmt: Weil das Grundgesetz ihn nicht definiert, ist die Schwelle eine politische Prognose – mit entsprechendem Streitpotenzial.

Kritiker warnen daher vor einem politischen Eskalationsrisiko: Schon die Ausrufung signalisiert eine ernste Lage und könnte scharfe Reaktionen hervorrufen. Hinzu kommen wirtschaftliche Kosten durch staatliche Eingriffe in Produktion und Lieferketten sowie eine erhebliche organisatorische Belastung für Verwaltung, Unternehmen und zivile Dienste.

Was ist mit der Wehrpflicht?

Mit Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalls lebt die Wehrpflicht automatisch wieder auf. Das regelt das Wehrpflichtgesetz: Die 2011 ausgesetzte Pflicht gilt dann wieder ohne gesondertes Gesetz, inklusive Erfassung ungedienter Wehrpflichtiger und Reservistenorganisation.

Seit wann gibt es den Spannungsfall?

Der Spannungsfall wurde im Jahr 1968 als Teil der Notstandsverfassung verabschiedet. Bereits seit Ende der 1950er-Jahre wurde im Kontext des Kalten Krieges über entsprechende Änderungen diskutiert, doch lange verhinderten Widerstände in SPD, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft eine Einigung. Erst die erste Große Koalition aus Union und SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) verfügte über die nötige Zweidrittelmehrheit und brachte das Vorhaben durch den Bundestag. Begleitet war dies von massiven Protesten: Studentengruppen, Gewerkschaften und Intellektuelle warnten vor einer Aushöhlung der Demokratie und skandierten Slogans wie: "Lasst das Grundgesetz in Ruh, SPD und CDU!"

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Dennoch verabschiedete das Parlament ein Paket aus Verfassungsänderungen (u. a. Art. 80a, 115a ff.) sowie einfachen Sicherstellungsgesetzen. Ziel war es, Grundrechtseingriffe rechtlich zu binden – statt auf einen übergesetzlichen Notstand zu setzen. Dabei sollte bewusst vermieden werden, die Fehler der Weimarer Republik zu wiederholen, wo Notstandsartikel den Nationalsozialisten ermöglicht hatten, die Verfassung außer Kraft zu setzen.

Mit der Verabschiedung verloren die westlichen Alliierten ihre bis dahin geltenden Sonderrechte für den Notstandsfall; stattdessen galt nun ausschließlich deutsches Verfassungsrecht.

In der Geschichte der Bundesrepublik wurde noch nie ein Spannungs- oder Verteidigungsfall ausgerufen.

Wie endet der Spannungsfall – und was ist die nächste Stufe?

Das Grundgesetz regelt keine feste Dauer. Der Bundestag kann die Anwendbarkeit der Maßnahmen jederzeit aufheben. Erklärt er den Spannungsfall für beendet, fallen die entsperrten Vorschriften wieder in den Normalzustand zurück.

Die nächste Eskalationsstufe wäre der Verteidigungsfall (Art. 115a GG), der einen bewaffneten Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen unmittelbare Drohung voraussetzt. Daneben existieren der Zustimmungsfall (besondere Zustimmung zu einzelnen Notstandsvorschriften ohne Spannungsfall) und der Bündnisfall (Art. 80a Abs. 3) auf Grundlage eines Beschlusses eines internationalen Organs – etwa der NATO – mit Zustimmung der Bundesregierung.

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