Wehrpflichtstreit Sie haben nichts verstanden

Kanzler Friedrich Merz stellt zur besten Sendezeit das Wehrdienstgesetz von SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius infrage. Wie soll man so regieren?
Was haben führende Politiker von Union und SPD uns in den vergangenen Wochen nicht alles erzählt? Nach der "Sommerdepression der Koalition" (Markus Söder) und den Konflikten um Richterwahl und Stromsteuersenkung soll es nun endlich harmonischer zugehen. Man traf sich mehrmals zum "Teambuilding" und gab sich den Schwur, künftig pfleglicher miteinander umzugehen. Vom "Geist von Würzburg" und vom "Geist der Villa Borsig" war nach diesen Koalitions-Kuscheltreffen die Rede. Man wollte das Signal senden: Wir haben verstanden.
Jetzt zeigt sich: Nichts haben sie verstanden. Und mit "sie" ist vor allem der Unionsteil dieser Regierung gemeint.
Wie schwierig, ja fast unmöglich sie es der SPD machen, gemeinsam und einigermaßen geräuschlos zu regieren, zeigt sich an der Wehrpflichtdebatte. Vor ein paar Wochen hatte das Bundeskabinett in einer symbolischen Sitzung im Verteidigungsministerium das neue Wehrdienstgesetz verabschiedet. Der Regierungsentwurf von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sieht vor, den stark wachsenden Personalbedarf der Bundeswehr vor allem mit Freiwilligen zu decken. Falls sich nicht genügend Freiwillige melden, erlaubt das Gesetz auch – unter hohen Hürden – die verpflichtende Einziehung junger Männer.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat am Sonntagabend diesen Wesenskern des Pistorius-Gesetzes öffentlich infrage gestellt.
Bei "Caren Miosga" sagte Merz, er vermute, es werde nicht bei der Freiwilligkeit bleiben. "Wir wollen das jetzt mit der SPD zunächst freiwillig versuchen hinzubekommen", sagte Merz und fügte hinzu: "Ich bin skeptisch. Wenn es uns gelingt – umso besser."
Wie soll man so regieren?
Merz stellt sich damit an die Spitze der Bewegung der Unionsleute, die das Gesetz in den vergangenen Tagen bereits unter Beschuss nahmen. Führende Unionspolitiker – von CSU-Chef Markus Söder über CDU-Außenminister Johann Wadephul bis zu den Fraktionsspitzen – wetterten lautstark gegen den gemeinsam gefassten Beschluss. Sogar die geplante erste Bundestagsdebatte am Donnerstag wurde abgesagt, weil die Union das Gesetz für unausgegoren hält.
Man fragt sich: Wie soll man so regieren? Das Argument der Union mag inhaltlich nicht verkehrt sein: Wie die riesige Personallücke der Bundeswehr – 80.000 reguläre Soldaten und 160.000 Reservisten fehlen – allein mit Freiwilligen geschlossen werden soll, ist in der Tat schwer nachvollziehbar. Auch in der Führungsspitze der Bundeswehr glaubt kaum jemand, dass der Freiwilligenansatz auf Dauer ausreicht, um den Personalbedarf der Truppe zu decken.
Aber das Gesetz ist ein Anfang und schafft die Voraussetzungen, wo eine spätere Wehrpflicht anknüpfen kann: Es bringt die Wehrerfassung und die Musterung zurück und errichtet die nötigen Ausbildungs- und Unterbringungskapazitäten, ohne die es eine Wehrpflicht ohnehin nicht geben kann. Strukturen im Übrigen, die eine unionsgeführte Regierung im Jahre 2011 per Handstreich zerschlagen hatte und die eine Wiedereinführung der Wehrpflicht heute so erschweren.
Der Merz vom August klang noch anders
Vor allem aber wurde das Gesetz gemeinsam beschlossen – von Union und SPD. Wie soll man als Bürger den Durchblick bewahren, wenn die Regierung ein beschlossenes Vorhaben im Nachgang immer wieder selbst infrage stellt? Dass ein Gesetz den Bundestag nie so verlässt, wie es hereingekommen ist, ist eine politische Binse. Aber die Union blockiert das Gesetz, noch bevor es den Bundestag überhaupt erreicht. Das ist Gift für das gemeinsame Regierungshandeln.
Ende August, bei der Kabinettsentscheidung, klang Merz noch anders. Der Kanzler nannte das Pistorius-Gesetz einen "wichtigen Schritt" und fügte hinzu, sobald man feststelle, dass man nachsteuern müsse, "dann werden wir das tun, auch das ist in diesem Gesetz bereits angelegt."
Recht hatte er, der Merz vom August: Der Zweifel, ob der freiwillige Ansatz ausreicht, ist im Gesetz verankert: "Wenn die verteidigungspolitische Lage es erfordert", so heißt es dort, könne die Regierung nach vorheriger Zustimmung des Bundestags auch verpflichtend einziehen. Man versucht es also mit der Freiwilligkeit, lässt sich aber, falls alle Stricke reißen, eine Hintertür zur Wehrpflicht offen. Der Merz vom Oktober scheint diese Kompromisslinie bereits wieder vergessen zu haben – oder bewusst zu ignorieren.
Stichelei gegen Pistorius
Und als ob das nicht schon reichen würde, den fragilen Koalitionsfrieden zu gefährden, setzt Merz noch eine Stichelei gegen Pistorius obendrauf. Der Verteidigungsminister, der zuvor die Unionsblockade als "fahrlässig" kritisiert hatte, habe wohl die Vorgänge im Parlament offenbar nicht ganz mitbekommen, so Merz bei "Miosga". Die Verschiebung sei tatsächlich eine gemeinsame Verabredung von Union und SPD gewesen, behauptet Merz.
Was bezweckt Merz damit, seinem Kabinettskollegen nicht nur dermaßen in den Rücken zu fallen, sondern ihn auch noch zur besten Sendezeit als Ahnungslosen hinzustellen? Dass die SPD aus freien Stücken ein Gesetz ihres eigenen Ministers verschiebt, ist nicht nur unplausibel, sondern auch unglaubwürdig.
Denn auch Merz weiß ganz genau, dass das Pistorius-Gesetz ein mühsam erstrittener Kompromiss innerhalb der SPD ist, auf den sich der pragmatische und der linke Flügel nach monatelanger Selbstzerfleischung einigen konnten. Die SPD-Linke versuchte mit aller Kraft, einen verpflichtenden Militärdienst zu verhindern und drohte auf dem SPD-Parteitag im Juni sogar mit der öffentlichen Blockade ihres eigenen Ministers. Dass es nicht dazu kam, ist auch der Geschlossenheit in den SPD-Reihen zu verdanken, die sich am Ende zusammenraufte.
Fair ist was anderes
Mit seiner Aussage hat Merz nicht nur Verunsicherung im Land gestiftet, sondern auch der SPD großen Schaden zugefügt. Warum sollen sich die Sozialdemokraten in kniffligen Fragen um schmerzhafte Kompromisse bemühen, wenn diese kurze Zeit später vom Koalitionspartner zerfleddert werden? Und ganz nebenbei zeigt sich, wie wenig zielführend die "Teambuildung"-Maßnahmen der vergangenen Wochen offenbar gewesen sind. Fairer Umgang? "Empathie" für den Standpunkt des Koalitionspartners? Solche Verabredungen haben in dieser Regierung offensichtlich eine geringe Halbwertszeit.
Es fügt sich ein in eine ruhmlose Reihung seit Regierungsstart. Erneut zerpflückt die Union eine Einigung, die zuvor mit der SPD mühsam errungen wurde. Richtereklat, Stromsteuer-Debatte, Wehrdienst: Immer wieder waren es CDU/CSU, die einem Vorhaben erst zustimmten und es hinterher öffentlich in Zweifel zogen. Vertrauen wollte diese Regierung schaffen, gute Stimmung schaffen, den Populisten die Grundlage entziehen, hieß es. Mit solchen Manövern erreicht sie das Gegenteil.
Auch für die SPD ist diese Koalition kein Spaziergang im Park. Ihre Mitglieder hatten im April mit Bauchschmerzen, aber mehrheitlich dafür gestimmt. Die staatspolitische Verantwortung, die die SPD bei dieser und anderen Gelegenheiten gezeigt hat, vermisst man bei der Union. Nach wenigen Monaten Regierung muss man sagen: Sie haben es noch immer nicht verstanden.
- Eigene Beobachtungen








