Experte Bartels zur Wehrpflicht "Das hat es nie gegeben, nie!"

Union und SPD haben sich auf eine Teil-Wehrpflicht per Losverfahren geeinigt. Ist das gerecht? Der frühere Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels sagt: Ja – und fordert seine SPD auf, sich ehrlich zu machen.
Nach wochenlangen Verhandlungen haben sich Union und SPD auf ein überarbeitetes Wehrdienst-Modell geeinigt. Wie t-online und andere Medien zuvor berichteten, soll ein Teil der Wehrdienstleistenden künftig per Losverfahren gemustert und einberufen werden.
Ist das gerecht? Oder angesichts der russischen Bedrohung notwendig? Der frühere Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, Hans-Peter Bartels, lobt die Einigung als überfälligen Schritt. Eine "absolute Wehrgerechtigkeit" sei eine Illusion und habe es auch im Kalten Krieg nie gegeben. Bartels, der lange für die SPD im Bundestag saß, macht seiner Partei in der Wehrpflichtdebatte Vorwürfe. Die SPD sei immer die "Partei der Wehrpflicht" gewesen.

Hans-Peter Bartels
Dr. Hans-Peter Bartels war von 1998 bis 2015 SPD-Bundestagsabgeordneter. Dann wurde er zum Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ernannt und behielt dieses Amt bis 2020. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.
t-online: Herr Bartels, Union und SPD haben sich bei der Wehrpflicht auf einen Deal geeinigt: Freiwilligkeit zuerst, der Rest wird per Losverfahren einberufen. Ein fairer Kompromiss?
Hans-Peter Bartels: Ja, und ein notwendiger. Es ist eine Erleichterung für alle diejenigen, die eine schlagkräftige Bundeswehr planen müssen. Ohne Soldaten nützt auch das viele Geld für die neue Ausrüstung nichts. Und allein auf Freiwilligkeit zu setzen, wird nicht reichen. Das kann man jetzt schon wissen, denn damit experimentieren wir doch seit 2011, als die Wehrpflicht ausgesetzt wurde. Jede Aufwuchsplanung seitdem ist kläglich gescheitert. So schaffte man es schon nicht, auf eine Sollstärke von 203.000 zu kommen. Bei der neuen Nato-Vorgabe von 260.000 ist das Prinzip "Freiwilligkeit only" schlicht wirklichkeitsfremd.
Der Fokus soll auch beim neuen Modell zunächst auf Freiwilligkeit liegen. Nur wenn der Bedarf mit Freiwilligen nicht gedeckt werden kann, wird das Glücksrad gedreht und junge Männer per Los ausgewählt. Ist das gerecht?
Besser als keine Lösung. Irgendein Verfahren muss es ja geben, um die Zahl der Soldaten planbar zu erhöhen. Wir haben eine massiv verschärfte Bedrohungslage in Europa und ein Grundgesetz, in dem steht: Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Da steht nicht: … falls sich genug Leute finden, die gerade Lust dazu haben. Es geht um die Verteidigung unserer Freiheit. Dass einige es ungerecht finden, dass sie selbst einen Beitrag dazu leisten sollen und andere nicht, lässt sich nicht vermeiden.
Aber war nicht die fehlende "Wehrgerechtigkeit" 2011 eines der Argumente, warum die Wehrpflicht ausgesetzt wurde?
Die Wehrpflicht wurde ausgesetzt, weil der damalige CSU-Verteidigungsminister zu Guttenberg sparen musste, so sagt er es selbst. Es ging um eine Reduzierung von 250.000 auf 185.000 Soldaten. Der Wehrpflicht-Aussetzung hat die SPD-Bundestagsfraktion übrigens ausdrücklich nicht zugestimmt. Wir warben damals für ein eigenes Modell, das dem jetzt wieder vorgeschlagenen ziemlich ähnlich war.
Aber die Diskussion über Wehrgerechtigkeit gab es. Könne es nicht zu Verfassungsklagen kommen, wenn nur ein kleiner Teil zum militärischen Zwangsdienst verdonnert wird?
Ja, die Diskussion gab es immer. Das Bundesverfassungsgericht hat auch verschiedene Entscheidungen dazu getroffen – und dabei stets dem Gesetzgeber einen erheblichen Spielraum gegeben und die Verteidigungsbereitschaft als höheres Ziel anerkannt. Solange es eine durchgreifende sicherheitspolitische Begründung dafür gibt, einen Teil jedes Jahrgangs einzuziehen, ist das verfassungsrechtlich absolut möglich.
Finden Sie das Argument der fehlenden Wehrgerechtigkeit überhaupt nicht nachvollziehbar?
Die Wehrpflicht muss problemlösend sein, sie nur als Prinzip hochzuhalten, reicht nicht. Wenn die Hälfte eines Jahrgangs als untauglich ausgemustert wird, nur damit man die Zahlen runterkriegt, wirkt das schon komisch. So viele wirklich Lahme und Kranke hatten wir damals nicht und heute wahrscheinlich auch nicht. Und wenn die Grundwehrdienstzeit am Ende auf sechs Monate verkürzt ist, hat die Truppe davon nicht mehr viel. Aber Warnung vor Fehlschlüssen: Eine hundertprozentige Ausschöpfung der zum Dienst in der Bundeswehr heranstehenden Jahrgänge hat es nie gegeben, nie! Totale "Wehrgerechtigkeit" ist eine Fata Morgana. Es wurde immer nur ein Teil der jungen Männer gezogen.
Auch zu Zeiten des Kalten Kriegs?
Mein Jahrgang hatte 1,3 Millionen Kinder, davon also 650.000 Jungs. Aber eingezogen wurden nur 250.000. Manche haben verweigert, andere waren untauglich, wieder andere hatten Einberufungshindernisse, einige gingen nach West-Berlin, und dann gab es noch den berühmten "Ausschöpfungsrest". Tatsächlich wurde immer nur eine Minderheit Soldat. Auch zu Hochzeiten des Kalten Krieges waren es keine 50 Prozent eines Jahrgangs, die zur Bundeswehr einrückten.
Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist grundgesetzlich verbrieft. Wer also künftig ausgelost eingezogen wird, könnte Ersatz- statt Militärdienst leisten. Man hätte dann einen Jahrgang, in denen ein paar tausend junge Männer Zivildienst leisten müssen, der große Rest nichts. Wäre hier der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt?
Früher war das, wie gerade dargestellt, auch nicht anders. Man kann übrigens auch die Gegenfrage stellen: Wäre es "gerechter", mehr junge Menschen einzuziehen als die Bundeswehr tatsächlich benötigt? Ich glaube, die Antwort ist nein.
Ziel des Wehrdienst-Gesetzes ist es vor allem, die Reserve zu stärken, damit die Bundeswehr im Kriegsfall genügend Kräfte zur Verteidigung hat. Ist eine Wehrpflicht per Los hierfür das richtige Mittel?
Mehr Reservisten gewinnt man durch eine Vermehrung der Zahl aktiver Soldaten, insbesondere kurzdienender Wehrpflichtiger und Zeitsoldaten. Wenn sie nach zum Beispiel 12 Monaten oder zwei Jahren wieder ausscheiden, verstärken sie die Reserve. Das Ziel des Gesetzes ist absolut richtig. Anstatt wie der Nato zugesagt 200.000 haben wir derzeit nur etwa 40.000 schnell aktivierbare Reservisten, die wir kurzfristig einberufen könnten. In der Vergangenheit gab es die Verirrung, dass das Heil der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands darin liege, Ungediente in ein paar Wochenendkursen zu Reservisten ausbilden zu wollen. Das war eine abenteuerliche Notlösung. Wir brauchen stattdessen, ganz klassisch, wieder eine große Zahl von jungen Leuten, die jedes Jahr neu in die Bundeswehr hinein- und auch wieder herausgehen. Sobald sie draußen sind, sind das die Reservisten, die Deutschland braucht. Ein weiteres Argument für das Wiederaufleben der Wehrpflicht.
Auch in der aktiven Truppe klaffte eine Personallücke. Rund 80.000 Soldaten fehlen aktuell, um die deutsche Zusage an die Nato zu erfüllen. Kann die Wehrpflicht auch für mehr aktive Soldaten sorgen?
Klar! Nicht wenige Wehrdienstleistende haben sich in der Vergangenheit als Zeitsoldaten weiterverpflichtet, weil sie Gefallen daran gefunden haben. Das wird voraussichtlich wieder so sein. Und natürlich muss schon der Grundwehrdienst so ausgestaltet sein, dass er die aktive Truppe verstärkt und nicht nur Ausbildungsressourcen bindet. Das gab es alles schon mal, wir müssen das Rad nicht neu erfinden.
Reicht die Dauer von sechs Monaten für den Wehrdienst aus Ihrer Sicht?
Nein, das ist zu wenig. Aus meiner Sicht müsste der Wehrdienst wenigstens ein Jahr dauern. Die Soldaten sollten nach ihrer Grundausbildung in regulären Verbänden echte militärische Aufgaben übernehmen, als Grenadier, Jäger, Ladeschütze, Fernmelder, Logistiker. Das Heer wird voraussichtlich mehr als 50 neue Bataillone aufstellen müssen, um die Nato-Verpflichtungen zu erfüllen. Wo kommen die 500 bis 700 ausgebildeten Soldaten pro Bataillon dann her? Das werden in Zukunft auch Wehrpflichtige sein müssen oder kurz dienende Zeitsoldaten.
Pistorius wollte ursprünglich selbst einen höheren Pflichtanteil, konnte sich in der SPD aber nicht durchsetzen. Jetzt kommt doch eine Wehrpflicht, weil die Union nicht lockergelassen hat. Wie schätzen Sie das ein?
Es ist gut, dass die Union Pistorius hilft. Der Verteidigungsminister ist Realist und kennt die Notwendigkeiten. Aber er hat sich gegenüber anderen Bestrebungen in der SPD-Fraktion offenbar nicht sofort durchsetzen können. Ich meine, die jetzige Lösung hätte man schon früher haben können, schon zu Ampel-Zeiten. Denn "Zeitenwende" bedeutet eben auch: Rückkehr zur Wehrpflicht.
Ist Pistorius geschwächt, weil ihm das aus eigener Kraft nicht gelungen ist?
Nein, wenn die neue Wehrpflicht jetzt wirklich kommt, stärkt ihn das, glaube ich. Weil er die Zusagen an die Nato so tatsächlich erfüllen kann. Insofern war es auch gut, dass Außenminister Wadephul und die Union in den vergangenen Wochen Druck aufgebaut haben. Schade finde ich es hingegen, dass die SPD selbst offenbar vergessen hatte, dass sie eine Partei der Wehrpflicht ist und eigentlich immer gewesen ist. Frieden und Freiheit zu verteidigen, aus eigener Kraft, das ist doch ein ursozialdemokratisches Anliegen.
Herr Bartels, vielen Dank für das Gespräch.
- Gespräch mit Hans-Peter Bartels










