t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon


HomePolitikDeutschlandMilitär & Verteidigung

Wehrpflicht-Debatte im Bundestag: "Pistorius zündet hier den Laden an"


Wehrpflicht-Aufruhr
"Pistorius zündet hier gerade den Laden an"


Aktualisiert am 15.10.2025Lesedauer: 7 Min.
imago images 0836713867Vergrößern des Bildes
Boris Pistorius (SPD): "Ich finde das alles weit weniger dramatisch, als es gemacht wird." (Quelle: IMAGO/dts Nachrichtenagentur/imago)
News folgen

Eskalation statt Einigung: Im Bundestag führt die Koalition am Dienstag öffentlich ihren Streit über den Wehrdienst auf. Es sind schmerzhafte Stunden – für mehrere Beteiligte.

Es war alles vorbereitet, selbst die Pressemitteilung war schon geschrieben. "Neues Wehrdienstmodell: Union und SPD übernehmen gemeinsam Verantwortung für Wehrfähigkeit" steht darüber. "Stufenmodell kombiniert Freiwilligkeit, verpflichtende Musterung und Bedarfswehrpflicht". Mit dabei: das Losverfahren, über das seit Tagen diskutiert und berichtet wird.

Die Pressemitteilung kursiert am Dienstagnachmittag in Berlin. Um kurz vor 15 Uhr scheint alles klar zu sein. SPD-Fraktionschef Matthias Miersch sagt vor seinem Fraktionssaal, die vereinbarten Eckpunkte seien eine "gute Diskussionsgrundlage für das parlamentarische Verfahren". Sein Unionsamtskollege Jens Spahn sagt wenige Meter entfernt, man habe "hart gerungen", es sei aber "eine gute Lösung gefunden" worden.

Anschließend verschwinden beide in ihre Fraktionssitzungen, und plötzlich ist die "gute Lösung" keine mehr. Bei der SPD eskaliert die Debatte im Saal. Es wird ungemütlich, unschön, wohl auch persönlich. Ausgerechnet bei der Wehrpflicht, bei der was passieren muss, damit Deutschland sich verteidigen kann, da sind sich alle einig. Und ausgerechnet, weil einer den Kompromiss nicht mitträgt: Boris Pistorius, der Verteidigungsminister.

Am Vormittag scheint die Welt noch in Ordnung

Am Dienstagvormittag sind eigentlich alle noch guter Dinge. Auch Boris Pistorius. Sagt er zumindest. In einem Interview mit "The Pioneer" bemerkt er zum Losverfahren zwar, er sei "da ehrlich gesagt inhaltlich ein bisschen skeptisch". Aber er sagt eben auch, die Parlamentarier könnten sich darauf "gerne" verständigen. "Ich werde mich dem nicht in den Weg stellen. Es ist vielleicht nicht die glücklichste Lösung, aber es ist eine."

Es ist der Tenor, den die Union auch am Abend zuvor bei Pistorius wahrgenommen haben will. Da saß Pistorius mit den Leuten zusammen, die den Kompromiss für die Regierungsfraktionen im Bundestag ausgehandelt haben: mit Siemtje Möller und Falko Droßmann von seiner SPD sowie Norbert Röttgen und Thomas Erndl von der Union.

Dort habe er seine "Bedenken nicht zum ersten Mal" artikuliert, sagt Pistorius am Mittwochmorgen. Da steht er im Bundestag mit Journalisten zusammen. Es sei dann darüber diskutiert worden, einig sei man sich in mehreren Punkten aber nicht geworden. Die Union hat nach dem Abend trotzdem das Gefühl, dass er dem Kompromiss im Zweifel nicht im Weg stehen würde.

Ein Stufenmodell, keine echte Wehrpflicht

Was dann am Nachmittag im Fraktionssaal der SPD passiert, damit jedenfalls hat bei der Union einige Meter Luftlinie entfernt niemand gerechnet. Auch in der Sitzung von CDU und CSU wird natürlich diskutiert über die Wehrpflicht, so berichten es Teilnehmer. Jemand merkt an, dass die Union doch eigentlich das Gesellschaftsjahr wolle. Ob das denn berücksichtigt worden sei in den Diskussionen?

Es gibt auch hier Fragen, denn die Union will eigentlich mehr, eine echte Wehrpflicht. Nun sieht der ausgehandelte Kompromiss ein Stufenmodell vor. In den ersten beiden Stufen soll Freiwilligkeit gelten. Erst sollen alle Männer einen Fragebogen ausfüllen müssen, um Motivation und Eignung zu erfassen. Kommen so nicht genug zusammen, soll in der zweiten Stufe ein Zufallsverfahren bestimmen, wer zu einer Musterung erscheinen muss.

Erst wenn das noch nicht ausreicht, soll der Bundestag die Stufe drei beschließen können. Mit einer "Bedarfswehrpflicht" sollen dann durch Zufallsverfahren ausgewählte Männer für den Wehrdienst verpflichtet werden. Erst in Stufe vier soll eine allgemeine Wehrpflicht aktiviert werden können, aber nur im Spannungs- oder Verteidigungsfall und mit Zweitdrittelmehrheit des Bundestages.

"Pistorius zündet hier gerade den Laden an"

In der Union sind die meisten zufrieden mit dem Kompromiss. Doch dann sickern plötzlich Nachrichten aus dem SPD-Fraktionssaal zu ihnen durch: "Pistorius zündet hier gerade den Laden an", so erzählen sie es in der Union anschließend. Mehrere andere SPD-Abgeordnete sollen in die Kritik eingestimmt haben, das bestätigen sie auch in der SPD.

Pistorius selbst sagt am Mittwochmorgen: Nachdem er von der Pressemitteilung erfahren habe, habe er in der Fraktionssitzung gesagt, das könne man alles machen, er wolle nur darauf hinweisen, "dass ich als zuständiger Verteidigungsminister erhebliche Bedenken habe." Von einem "faulen Kompromiss" habe er gesprochen, das schon.

In der Union kommt noch mehr aus der Fraktionssitzung des Koalitionspartners an. Pistorius soll die SPD-Fraktionsvize Siemtje Möller, die den Kompromiss mit ausgehandelt hat, demnach persönlich kritisiert haben. Rundgemacht, so sagen es einige. Über den Kompromiss soll er sich lächerlich gemacht haben. Mancher will eine aufgelöste Siemtje Möller gesehen haben, auch Tränen bei ihr, als sie den Saal verlassen hat.

Selbst in der SPD finden einige nachher, Pistorius sei mit ihr nicht nett umgegangen. Auch etwas Hohn will mancher wahrgenommen haben. Boris Pistorius selbst bestreitet das. "Ich habe niemanden persönlich angegriffen", sagt Pistorius am Morgen danach. "Weder Siemtje Möller noch irgendjemand anderes der Beteiligten." Angesprochen auf die Tränen, sagt er: "Ich habe keine Tränen gesehen."

Loading...
Loading...

Ein schmerzhafter Prozess

Das alles ist kaum zu verstehen, ohne von der schmerzhaften Vorgeschichte der Wehrdienst-Debatte zu wissen. Schmerzhaft für die SPD, aber auch für Boris Pistorius selbst. Denn ironischerweise ist er es, der in der SPD ursprünglich mehr wollte, als er am Ende in seinen Gesetzentwurf schreiben konnte. Mehr Pflicht. Doch Teile der SPD sind nach wie vor skeptisch bei allem, was mit Wehrpflicht und der Aufrüstung gegen Wladimir Putin zu tun hat.

Ende Juni war der Konflikt zwischen Pistorius, der SPD-Fraktion und den Jusos auf einem Parteitag eskaliert. Besonders die SPD-Jugendorganisation hatte zuvor gegen seine Pläne Stimmung gemacht. Pistorius wurde am Ende auf eine komplizierte Formulierung verpflichtet, die darauf hinauslief, dass zunächst alle, alle, alle Möglichkeiten einer freiwilligen Wehrdienstlösung ausgeschöpft werden müssten. Der beliebte Verteidigungsminister, von den Jusos an die Kette gelegt.

Der Gesetzentwurf, den Pistorius dann vorlegt, geht der Union nicht weit genug. Sie artikuliert das immer wieder auch öffentlich, was der SPD gar nicht gefällt. Denn immerhin hat die Union ihm im Bundeskabinett zugestimmt, inklusive Bundeskanzler Friedrich Merz. Und es geht eben um mehr als die üblichen Korrekturen im parlamentarischen Verfahren.

Erster Aufruhr Anfang vergangener Woche

Anfang vergangener Woche eskalieren die Verhandlungen im Bundestag deshalb schon einmal. Pistorius wirft der Union vor, "fahrlässig" zu handeln, weil der Gesetzentwurf vergangene Woche doch noch nicht in den Bundestag kam wie geplant. Die Union ist irritiert, denn es ist auch ein Missverständnis, schlechte Kommunikation. Die Verschiebung ist mit der SPD-Fraktion abgestimmt. Nur Pistorius, der wusste davon nichts.

Am vergangenen Sonntag sickern dann auch noch erste Details zur Losverfahren-Idee an die Presse durch. Die Verhandlungsgruppe ist sauer, irgendwer muss geplaudert haben. Schon damals haben sie in der Union Pistorius im Verdacht, die Infos durchgestochen zu haben.

In der Union vermuten sie mittlerweile ohnehin auch persönliche Motive hinter Pistorius' Handeln. Einen Kampf um die Macht in der SPD. Und gewachsene Empfindlichkeiten aus dem schmerzhaften Prozess um sein Gesetz. Mancher in der Union wundert sich schon länger, wie aufbrausend Pistorius intern werden könne. Mit Siemtje Möller, der Frau, die seinen Gesetzentwurf für die SPD federführend umgeschrieben hat, verbinde Pistorius eine Historie. Keine gute, soll das heißen.

In der Tat war Siemtje Möller in der Ampelregierung noch Pistorius' Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium. Er behielt sein Büro im Bendlerblock, sie musste gehen. In der SPD wird Möller dem Lager von Ex-Kanzler Olaf Scholz zugerechnet, der sich mit Pistorius um die Kanzlerkandidatur 2024 gezankt hat.

Seine Kritik gilt nicht so sehr dem Losverfahren

Boris Pistorius will von all dem nichts wissen. Siemtje Möller habe von seinen Vorbehalten gewusst. "Das war also keine Überraschung", sagt er am Mittwoch. "Aber ich stelle umgekehrt die Frage, wie soll ich als Verteidigungsminister mit einer Einigung umgehen, unter der ich mich noch nicht versammeln kann. Da muss ich die Fraktion zumindest darüber in Kenntnis setzen, dass das so ist."

Seine Kritik, auch das versucht er klarzustellen, gilt nicht so sehr dem Losverfahren an sich, sondern anderen Dingen im neuen Modell. "Es geht um die flächendeckende Musterung, die ich einfach brauche für die Einsatzfähigkeit und für die Fähigkeit, einzuberufen im Ernstfall."

Ab 2027 sollten Pistorius‘ Plan zufolge alle Männer zur Musterung und nicht nur erfasst werden. Das steht nun zur Disposition, da das Fraktionsmodell nur für einen Teil der Männer eine Musterung vorsieht. Sorgen macht sich der Verteidigungsminister auch darum, dass mit den verschiedenen Stufen zu viel Zeit verloren geht.

Röttgen: "Eigene Fraktion ins Chaos gestürzt"

Es sind durchaus wichtige Fragen, die zwischen den Fraktionen allerdings schon mehrfach hin und her gewälzt worden sind. Am Dienstagabend liegen deshalb die Nerven blank. Der für die Union federführend verhandelnde Fraktionsvize Norbert Röttgen attackiert Pistorius überdeutlich.

"Ich habe es in über 30 Jahren Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag noch nie erlebt, dass ein Bundesminister in seinem eigenen Verantwortungsbereich ein wichtiges Gesetzgebungsverfahren frontal torpediert und die eigene Fraktion in Chaos stürzt", sagt Röttgen der "Süddeutschen Zeitung". Pistorius wehrt sich. "Ich torpediere nicht, und ich bin auch nicht destruktiv", sagt er dem "Tagesspiegel".

Am Mittwochmorgen im Bundestag dann ist Pistorius erkennbar bemüht, die Lage zu entspannen. "Ich finde das alles weit weniger dramatisch, als es gemacht wird", sagt er. Es habe Diskussionen gegeben, und die werde es wie üblich auch geben, wenn der Gesetzentwurf an diesem Donnerstag in den Bundestag eingebracht werden soll.

Denn das ist nun der Plan, trotz allem. Die Zeit drängt, ab 2026 sollen die ersten Fragebögen an potenzielle Wehrdienstleistende verschickt werden. Also will Schwarz-Rot nun mit einem Gesetzentwurf in den Bundestag gehen, bei dem sie sich in zentralen Grundsätzen nicht einig ist.

Kein Problem, findet Boris Pistorius. Oder sagt es zumindest. Wenn man sich "in bestimmten Dingen nicht einigen kann, dann geht man eben einfach geschmeidig über ins normale parlamentarische Verfahren", sagt er. "Und das passiert jetzt."

Geschmeidig? Alles nicht so dramatisch? Bei der Union schütteln manche nach Pistorius' Worten am Mittwoch nur noch mit dem Kopf.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen und Gespräche
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...


Bleiben Sie dran!
App StorePlay Store
Auf Facebook folgenAuf X folgenAuf Instagram folgenAuf YouTube folgenAuf Spotify folgen


Telekom