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Analyse zum Grünen-Parteitag in Bielefeld: Die Radikal-Realos


Analyse zum Grünen-Parteitag
Die Radikal-Realos

  • Johannes Bebermeier
Eine Analyse von Johannes Bebermeier, Bielefeld

Aktualisiert am 17.11.2019Lesedauer: 5 Min.
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Annalena Baerbock und Robert Habeck: Die Grünen folgen ihren Vorsitzenden auf ihren Regierungskurs.Vergrößern des Bildes
Annalena Baerbock und Robert Habeck: Die Grünen folgen ihren Vorsitzenden auf ihren Regierungskurs. (Quelle: Guido Kirchner/dpa-bilder)

Die Grünen wollen regieren – und machen das auf ihrem Parteitag in Bielefeld sehr deutlich. Hinter der Frage, wer Kanzlerkandidat wird, verschwinden andere Konflikte.

Robert Habeck hat es satt. Da reden die Grünen bei ihrem Parteitag in Bielefeld über Wohnen, Wirtschaft und Klima, über Hass im Netz, Wasserstoff und Iran, über Europa, Bauern und Seenotrettung. Und alles, was die Journalisten interessiert, ist die K-Frage: Wer wird Kanzlerkandidat? Annalena Baerbock oder Robert Habeck?

Die Grünen als Duo zu lenken, sagt Habeck, das sei das eine. "Aber etwas anderes ist es dann doch, solche Tage wie diese zu erleben, wo man permanent miteinander abgeglichen wird, wo man permanent miteinander verglichen wird, wo jede Bewegung des einen gegen die Bewegung des anderen ausgespielt und ausgedeutet wird."

Die falsche (K-)Frage

Als er diese Worte am Samstag in seiner Bewerbungsrede zur Wiederwahl als Parteichef spricht, da weiß er noch nicht, dass er mit 90,4 Prozent sehr viel Zuspruch erhalten wird. Er ahnt aber wohl, dass er das Ergebnis von Annalena Baerbock nicht toppen kann; sie wird kurz zuvor mit bislang einmaligen 97,1 Prozent im Amt bestätigt. Und Habeck ahnt wohl auch, dass die Fragen nach der K-Frage damit nicht aufhören werden.

Das Interesse daran, wer für die Grünen als Kanzlerkandidat antreten wird, ist verständlich, genauso wie es verständlich ist, dass sie sich jetzt noch nicht festlegen wollen. Die Partei ist in Umfragen so stark wie nie, sie lässt die SPD deutlich hinter sich und kommt der CDU näher als je zuvor. Ein Kanzlerkandidat würde aber sofort die geballte Kritik abbekommen, ganz ohne Not.

Hinter der K-Frage verschwindet eine viel folgenreichere Entwicklung: Aus Baerbocks und Habecks einstigem Motto "Radikal ist das neue Realistisch" ist das nicht ausgesprochene Motto "Realistisch ist das neue Radikal" geworden. Die Grünen wollen regieren, unbedingt, und verlangen von ihrer Partei dafür harte Kompromisse. Sie räumen Konflikte im Hintergrund ab und vertagen Streit, der zu heikel ist. Das ist nicht ohne Risiko.

Aus Hoffnung soll Wirklichkeit werden

Die Linie gibt Robert Habeck schon am Freitag in seiner Rede vor: Die Ära Merkel gehe erkennbar zu Ende. Es müsse ein Signal von diesem Parteitag ausgehen: "Wir wollen die Weichen mitstellen." Oder mit mehr Pathos: "Wir müssen aus Hoffnung Wirklichkeit machen."

Es ist kein neuer Kurs für die Grünen unter Baerbock und Habeck. Aber der Anspruch, mitregieren zu wollen, wurde selten so deutlich formuliert wie an diesem Wochenende. Das machen auch die Themen klar, über die diskutiert wird. Nicht etwa über neue Positionen im Kampf gegen Rechtsextremismus wird abgestimmt, sondern über die Wirtschaft. Ein Feld, das öffentlich selten mit den Grünen verbunden wird, für das sie aber eine Position brauchen werden, wenn sie regieren wollen.

Die Mitte ist für viele in der Politik ein unwirtlicher Ort geworden, Teile der SPD wollen da raus, nach links, Teile der CDU auch, nach rechts. Baerbock und Habeck führen ihre Partei gerade genau dorthin, auch wenn sie vielleicht nie ganz dort ankommen werden und das Wort nicht verwenden. Sie sprechen lieber davon, sie zur Bündnispartei zu machen, was vor allem bedeutet, dass sie sich Bündnisse mit allen demokratischen Parteien offenhalten, auch mit der Union, auch mit der FDP.

Bloß nicht zu radikal

Als Bündnispartei aber können sie zu radikale Vorgaben des Parteitags nicht gebrauchen. Die Grünen wollen die "sozial-ökologische Neubegründung der Marktwirtschaft", aber eben: Marktwirtschaft. Das ist angesichts der Vergangenheit von Teilen der Grünen in kommunistischen Gruppen nicht selbstverständlich. Sie wollen auch den Mindestlohn sofort auf 12 Euro erhöhen, aber dann eben weiter die Mindestlohnkommission über die Steigerungen entscheiden lassen.

Vieles trägt der Parteitag ohne große Diskussionen mit. Aber immer wieder werden auch Risse deutlich im neuen Baerbock-Habeck-Grünen-Konsens. Als es am Freitag ums Wohnen geht, verteidigt Habeck selbst den Antrag des Bundesvorstands, um zu verhindern, dass Enteignungen in einem eigenen Gesetz verankert werden, ein Antrag aus Berlin.

Als "letztes Mittel" will auch die Grünen-Spitze Vergesellschaftungen nicht ausschließen. Doch sie seien ein "krasser Eingriff in die Eigentumsverhältnisse", sagt Habeck, der nur mit Bedacht gezogen werden dürfe. Das Signal "Bauen lohnt sich nicht mehr" dürfe nicht vom Parteitag ausgehen. Die Mehrheit folgt ihm, wieder ein Stück weiter in die Mitte.

Kampf ums Klima

Am deutlichsten werden die Risse in der Frage des Klimaschutzes. Noch am Sonntagmorgen, als die Debatte um Klima und Wirtschaft schon läuft, müht sich der Bundesvorstand, einen Streit um den CO2-Preis auszuräumen. Während auf der Bühne geredet wird, laufen im Hintergrund die Verhandlungen.

"Mehr wagen, um nicht alles zu riskieren", lautet das Motto des Parteitags. Doch vielen Grünen reicht nicht, was die Parteispitze beim Klima wagt. Sie wollen mehr, statt dem vorgeschlagenen CO2-Einstiegspreis bei Benzin, Diesel, Heizöl und Gas von 40 Euro wollen sie 60, 80, 90, oder 100 Euro. Und sie wollen, dass der Preis in festen Schritten ansteigt, 10 Euro pro Jahr oder 20.

Der Parteispitze hingegen ist es wichtig, flexibel zu bleiben für die Verhandlungen, die sie in Berlin erwarten. Ihr ursprünglicher Vorschlag sieht eine einmalige feste Steigerung vor, im Jahr 2021 auf 60 Euro. Danach soll ein "unabhängiges Gremium" über weitere "planbare Steigerungen" entscheiden.

Kompromiss beim CO2-Preis

Es ist schon fast Mittag, als aus zwölf konkurrierenden Modellen zwei Modelle geworden sind, die auf dem Parteitag gegeneinander antreten. Der Parteispitze ist es gelungen, einen veränderten Entwurf mit vielen Arbeitsgruppen abzustimmen, auch mit der Grünen Jugend, doch sie muss Kompromisse eingehen, die sie eigentlich vermeiden wollte.

Der CO2-Einstiegspreis bleibt bei 40 Euro, aber nur für einen Monat, bis 2020, dann soll der Preis schon 60 Euro betragen. Anschließend steigt er jedes Jahr um 20 Euro, was der Bundesvorstand nicht wollte. Das "unabhängige Gremium" wird dafür gestärkt, es soll die sozialen Auswirkungen und die Klimaauswirkungen kontrollieren. Und kann den Preisanstieg im Zweifel auch abmildern. Es ist eine Hintertür.

Der Kompromiss bekommt am Ende eine große Mehrheit. Annalena Baerbock und Robert Habeck sitzen auf der Bühne und lächeln. Die Partei folgt ihren beiden Vorsitzenden derzeit, wenn es drauf ankommt. Wie könnte sie nicht bei der Bilanz der vergangenen zwei Jahre. 17,6 Prozent in Bayern, 19,8 in Hessen, 20,5 bei der Europawahl, 17,4 Prozent in Bremen. Selbst im für die Grünen komplizierten Osten lief es gut.

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Die Wehwechen der Grünen

Doch es ist kein Zufall, dass die guten Wahlergebnisse Ende 2018 anfangen, als die Erderhitzung die Debatten bestimmt. Das beginnt sich nun zu ändern, die Aufmerksamkeit für die Klimakrise lässt nach, das zeigen Umfragen. Und auch die Werte der Grünen bundesweit sinken etwas. Wenn das so weitergeht, dürften auch die Konflikte wieder schärfer werden.


Der Grünen-Spitze ist die Gefahr bewusst, ihr ist bewusst, dass sie ihrer Partei einiges zumutet. Schon in der Eröffnungsrede am Freitag sagt Habeck: "Die großen Vorbilder der deutschen Geschichte wären nicht so weit gekommen, wenn sie sich an Umfragen orientiert oder nur auf die Wehwehchen ihrer Parteien geschaut hätten."

Nur, aus Wehwehchen wird eben manchmal auch mehr.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Bielefeld
  • Umfragen und Wahlergebnisse via Wahlrecht.de
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