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Tagesanbruch: Angela Merkel verdient auch Respekt


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.09.2018Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Angela MerkelVergrößern des Bildes
Angela Merkel (Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Es gibt Tage, die eine politische Ära beenden. So ein Tag war gestern, der 25. September 2018. Seit genau 4.690 Tagen regierte Angela Merkel, und nun ist absehbar: Ihre Kanzlerschaft geht zu Ende. Sie mag sich noch weiter durch den Große-Koalition-Morast kämpfen, aber ab jetzt kann ihr ganz Deutschland dabei zusehen, wie ihre Macht von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag schwindet. Die Fraktion aus CDU und CSU im Deutschen Bundestag hat in einer geheimen Abstimmung ihren Vorsitzenden Volker Kauder abgewählt. Den Mann, der Merkel 13 Jahre lang als wichtigste Stütze im Parlament diente. Den Mann, der Merkel die Mehrheiten für ihre Politik organisierte, der den wachsenden Unmut gegen sie besänftigte, der gemeinsam mit CSU-Landesgruppenchef Dobrindt die Unionsfraktion zusammenhielt. Merkels Kanzlerschaft, viele ihrer politischen Erfolge wären undenkbar ohne ihren ersten Offizier Kauder.

Nun muss er abtreten und Platz machen für einen Mann der zweiten Reihe. Ralph Brinkhaus war den meisten Bundesbürgern bislang völlig unbekannt. Er gilt als gut vernetzter, kluger Finanzpolitiker – aber keinesfalls als Rebell. Im Gegenteil: Er hat sich nie offen gegen die Kanzlerin gestellt, seine Kandidatur kam geschmeidig, fast leise daher.

Vermutlich war genau das sein Erfolgsgeheimnis. Er machte es den Abgeordneten leicht, ihn zu wählen – nach dem Motto, mit dem Gerhard Schröder einst Kanzler Kohl ablöste: Wenn ihr mich wählt, dann wird nicht alles anders, aber vieles besser. Brinkhaus verkörpert die Hoffnung auf mehr Diskussion statt Kasernengehorsam. Auf eine intensive Auseinandersetzung mit der AfD, statt diese beleidigt zu ignorieren. Auf mehr Impulse, um jene Bürger, die von der CDU und der politischen Elite enttäuscht sind, zurückzugewinnen. Auf eine Kommunikation, die weniger auf Hinterzimmerabsprachen und gestelzte Phrasen als auf ehrlichen Klartext setzt. All das dürfen sich die Unionsabgeordneten von Brinkhaus erhoffen, und darin steckt die Chance für die CDU, sich zu erneuern, statt zu enden wie die SPD.

Das Votum der Abgeordneten ist mutig, es ist revolutionär. Die Parlamentarier stellen Kauder vom Platz und zeigen Merkel die dunkelgelbe Karte. Sie signalisieren ihr: Deine Zeit geht zu Ende, wir wollen uns jetzt für den Neuanfang aufstellen.

Zwischen der waidwunden SPD und der tollwütigen CSU in der Regierung auf der einen sowie der zu neuem Selbstbewusstsein erwachten Unionsfraktion auf der anderen Seite wird Merkel ab jetzt kaum noch politische Beinfreiheit haben. Sie wird jedes Vorhaben, jedes Projekt, jede Gesetzesinitiative mühsam abstimmen, abklopfen, abschwächen müssen, damit sie allen Interessen entspricht. Nach einer kräftezehrenden Regierungsbildung, einem unsäglichen Asylstreit mit der CSU und dem desaströsen Umgang mit der Personalie Maaßen hat Angela Merkel gestern, am 25. September 2018, endgültig das Wichtigste eingebüßt, was eine Kanzlerin besitzt: ihre Autorität. Ab jetzt beginnt ihr politischer Abstieg. Kaum vorzustellen, dass er sich noch drei Jahre lang bis zum nächsten regulären Bundestagswahltermin hinzieht.

Im Dezember muss Merkel sich auf dem CDU-Parteitag zur Wahl stellen. “Bisher sah es so aus, als käme sie mühevoll, aber doch ohne Niederlage dorthin. Plötzlich scheint alles denkbar: Dass sie nicht mehr antritt. Dass sie ein schlechtes Ergebnis bekommt. Oder sogar verliert“, schreibt unser Parlamentskorrespondent Jonas Schaible in seiner Analyse. “Wahlen können ihre eigene Dynamik entwickeln.“

Nach einem wilden politischen Sommer steht uns also ein turbulenter politischer Herbst bevor.

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Es war Kardinal Reinhard Marx anzusehen, wie schwer ihm dieser Termin fiel. Er schäme sich, sagte er. Von einem “Wendepunkt“ in der katholischen Kirche sprach er und davon, dass man nun über “mögliche Strukturveränderungen“ reden werde. Bei der Auswahl von Priestern wolle man künftig “neue Wege gehen“, das Vertrauen der Menschen wolle man sich zurückerkämpfen, denn: "Viele Menschen glauben uns nicht mehr. Und ich habe dafür Verständnis.“

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz fand klare Worte, als er gestern die Studie zu dem Grauen vorstellte, das mindestens 3.677 Kinder und Jugendliche erlitten haben, in Wahrheit aber wohl noch viele, viele mehr. Jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige hat die Kirche nun selbst dokumentiert. Im gestrigen Tagesanbruch zollte ich den Bischöfen Respekt für die Aufarbeitung der Schuld – meinte aber, dass sie nicht allein der Kirche überlassen werden könne. Es brauche mehr Transparenz und einen kritischen Blick von außen, zum Beispiel durch einen staatlichen Sonderermittler, der alle Abgründe der Kirche schonungslos erhelle.

Daraufhin meldete sich ein Leser und schrieb mir folgende Zeilen, die ich hier wiedergeben möchte:

“Ihr Statement zum Schuldeingeständnis der deutschen katholischen Bischöfe finde ich richtig. Das sage ich als katholischer Priester und Betroffener. Zwar habe ich als Kind keinen sexuellen Missbrauch erlebt, ich wurde aber als Student und junger Priester von anderen Priestern leider auch sexuell belästigt. Die Leitung der Kirche wusste davon und hat bis heute geschwiegen. Und die Beschuldigten sind bis heute im Dienst. Konsequenzen gab es nicht.

Als Priester kann ich kaum etwas dagegen tun. Denn als Priester hat man keinen Arbeitsvertrag und ist im Gehorsam dem Bischof unterworfen. Dieser kann einem Priester so viel Lohn geben, wie er will. Er kann auch einen Priester ohne große Konsequenzen aus dem Dienst entlassen, da man vor keinem Arbeitsgericht klagen kann, weil ja kein Arbeitsvertrag besteht. So sind mir als Priester die Hände gebunden. Wenn ich meinen Dienst weiter ausüben will, und das tue ich trotzdem gerne, kann ich auch nur öffentlich über diese Missstände in der katholischen Kirche schweigen – oder mich anonym äußern. Als Christ kann ich meinen Tätern vergeben, aber den Umgang unserer Bischöfe mit dem Thema finde ich sehr ärgerlich. Das Schuldeingeständnis unserer deutschen Bischöfe mag zwar echt sein. Es kommt aber meines Erachtens nicht aus ehrlicher Überzeugung, sondern nur aufgrund öffentlichen Drucks. Die Öffentlichkeit sollte deshalb jetzt auch das Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in kirchlichen Einrichtungen und Diensten angehen. Ich kann dazu nur sagen: ME TOO. Denn die Finsternis in der Kirche ist größer als bislang bekannt. Ich weiß, wovon ich spreche.“

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Ich habe großen Respekt vor den Worten dieses Priesters. Und kann für ihn, alle anderen Betroffenen und auch alle Katholiken nur hoffen, dass die Bischöfe ihren Aufklärungs- und Veränderungswillen noch ernster nehmen.

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WAS STEHT AN?

Die wichtigsten Termine des Tages in Kürze:

Tag eins nach dem Erbeben im politischen Berlin. Heute ist so ein Tag, an dem man gern Mäuschen in all den Abgeordnetenbüros, Raucherecken, Cafés und stillen Kämmerlein wäre, an denen die Unionsabgeordneten ihre Revolution bestaunen, die sie gestern gegen die Bundeskanzlerin angezettelt haben. Mal sehen, vielleicht spiele ich nachher ein bisschen Mäuschen.

Vorher aber möchte ich noch einen Gedanken loswerden: Neben all der Kritik, die nun nicht nur ich, sondern auch fast alle anderen Kommentatoren auf Merkel niedergehen lassen, will ich ihr auch mal Respekt zollen für die ungeheure Disziplin, die sie jeden Tag aufbringt. An sieben Tagen die Woche Berge von Arbeit, wenig Schlaf, ständig unterwegs, das Dröhnen der Hubschraubermotoren und die Einsamkeit im Dienstwagen, der nervige Trump und der nervige Seehofer, überall Kritiker und morgens beim Blick ins Internet auch noch der unerbittliche Tagesanbruch: Das kann ganz schön schlauchen. Bei aller Kritik an unseren Spitzenpolitikern sollten wir bedenken: Diese Menschen geben viele ihrer besten Lebensjahre für unsere Demokratie. Sie erfahren dabei Genugtuung und Erfolge, aber auch viele Verletzungen und zermürbende Momente. Und wenn wir richtig unzufrieden mit ihnen sind, dann wählen wir sie eben ab. Das ist ein Triumph des demokratischen Prozesses, aber oft eine Tragödie für die Betroffenen.

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Das Bundeskabinett beschäftigt sich heute mit dem Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit. Anschließend nimmt die von ihm eingesetzte Kommission mit dem schönen Namen “Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ihre Arbeit auf. Sie soll Vorschläge erarbeiten, wie künftig Ressourcen und Möglichkeiten für alle Menschen hierzulande gerecht verteilt werden können. Ja, das wäre wirklich schön.

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Apropos Lebensverhältnisse: In Münster beginnt heute Abend der Deutsche Historikertag. Mehr als 500 Referenten halten Vorträge, im Mittelpunkt steht das Thema “Gespaltene Gesellschaften“. Da können wir vielleicht für unsere gegenwärtige Lage in Deutschland etwas lernen.

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Abschließend vier Tipps: Wenn Sie in Berlin leben, dann kaufen Sie sich doch mal eine Ausgabe der “tageszeitung“ (taz). Die erschien heute vor 40 Jahren zum ersten Mal, und wie ich die lieben Kollegen kenne, lassen sie sich zu diesem Anlass was Kreatives einfallen. Wenn Sie in Köln leben, dann können Sie heute Abend zum Dom gehen: Ab 20 Uhr wird er mit Bewegtbildern angestrahlt. Anlass ist das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, die Südfassade der Kirche soll durch Lichtprojektionen zum “Leuchtturm des Friedens“ werden. Wenn Sie in Bayern leben, dann könnte Sie ab 20:15 Uhr das TV-Duell zur Landtagswahl mit Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und dem Spitzenkandidaten der Grünen, Ludwig Hartmann, interessieren. Die könnten nämlich bald eine gemeinsame Regierung bilden (müssen). Und wenn Sie in Stuttgart, Hamburg, Leipzig oder sonst einem schönen Ort in unserem schönen Land leben, dann lassen Sie vielleicht die Kirche Kirche und den Söder Söder sein und trinken heute Abend einfach ein schönes Glas Wein. Auch fein.

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WAS LESEN?

In der Fußball-Bundesliga trug sich gestern Ungewöhnliches zu: Die Chefs des FC Bayern versandten ungefragt eine Stellungnahme, in der sie Hoffenheims Mäzen Dietmar Hopp ihre Unterstützung aussprachen. Der war am vergangenen Wochenende von Dortmund-Anhängern übel beleidigt worden, unter anderem posierten sie mit einem Plakat, das sein Gesicht in einem Fadenkreuz zeigte. "Der Fußball muss sich gegen Aggressionen dieser Art solidarisieren“, fordern nun Herr Hoeneß und Herr Rummenigge. Das ist völlig richtig, meint mein Kollege Luis Reiß – aber solches Engagement bei gesellschaftlichen Themen sollten die Bayern-Bosse viel häufiger zeigen. Nicht nur dann, wenn einer ihrer Geschäftspartner betroffen ist. Hier ist sein Kommentar.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Sie haben es nicht leicht, unsere amerikanischen Freunde. Ein politisches Kasperltheater, das seinesgleichen sucht. Ein Narr im Weißen Haus. Ein bitteres Ringen darum, was von der amerikanischen Demokratie noch übrig bleibt. Wenn dann ein Kind die US-Hymne singt und die patriotische Seele streichelt, sei es ihnen gegönnt. Und wenn es so singt wie die siebenjährige Malea Emma Tjandrawidjaja in einem rappelvollen Fußballstadion, dann steigt etwas auf, was wir von Amerika lange nicht mehr gekannt haben. Wie lautete das Wort noch gleich? Ach ja: Hoffnung!

Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Tag.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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