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Tagesanbruch: Deutschlands Zukunft – Wo ist der Mut, wo ist die große Idee?


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 04.10.2018Lesedauer: 8 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Weithin bekannte Person am Tag der Deutschen Einheit.Vergrößern des Bildes
Weithin bekannte Person am Tag der Deutschen Einheit. (Quelle: Michael Kappeler/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Was bleibt von so einem Tag der Deutschen Einheit? Einmal richtig ausgeschlafen, ein Herbstspaziergang, ein bisschen zu Hause rumgewerkelt, abends ein guter Film – ist das alles? Natürlich nicht. Ja, wir genießen diesen Feiertag als willkommene Ruhepause; ja klar, wir erinnern uns vielleicht einen nostalgischen Augenblick lang an die Euphorie, die vor 28 Jahren unser Land ergriff. Dann aber fix zurück an die Arbeit, in die Freizeit, in den Alltag.

Vielleicht ist diese Teilnahmslosigkeit ein Fehler. Vielleicht sollten wir alle uns viel stärker mit der Geschichte unseres Landes und vor allem ihren erlebbaren Folgen beschäftigen. Denn sie sind ja überall zu beobachten, die Folgen. Sie begegnen uns in der großen Politik und in unserem eigenen kleinen Leben. Der enorme Wirtschaftsaufschwung und die mannigfachen Chancen zur Selbstverwirklichung, die europäische Führungsrolle und die lebendige Kultur, aber auch die vielerorts gepflegten Animositäten, die Enttäuschung vieler Menschen, die auseinanderklaffenden Lebenswelten und die politischen Extreme: Die Entwicklungslinien im Deutschland des Jahres 2018 lassen sich ohne die Teilung und die Wiedervereinigung nicht erklären. Auch 28 Jahre nach dem Jubeltag stoßen wir vielerorts auf Spaltendes, gegenseitiges Unverständnis, Vorurteile – und Frust, tief sitzenden Frust.

"Wir wurden übers Ohr gehauen, wir wurden ungerecht behandelt": Diesen Satz hörte ich öfter, als ich Anfang der Neunzigerjahre in Dresden lebte. Vor wenigen Wochen habe ich ihn in Chemnitz wieder gehört, und auch in mehreren E-Mails von Tagesanbruch-Lesern habe ich ihn so oder ähnlich gelesen.

"Es bricht sich ein jahrzehntelang aufgestauter Frust Bahn über das, was hier in den letzten 28 Jahren gelaufen ist", schrieb mir ein Leser aus Sachsen nach den Ausschreitungen in Chemnitz, und er meinte damit nicht den Aufmarsch der Neonazis, sondern die Leute, die in vielen Medien viel zu pauschal als "Mitläufer der Rechten" tituliert wurden. "Über die Treuhand und Hartz IV, über die Steuermilliarden, die wegen der Griechenland-Pleite an die internationalen Finanzspekulanten ausgeschüttet werden, während kein Geld für die Sanierung eines Schulklos da ist. Über eine nicht mehr zu bewältigende Bürokratie, eine abgehobene und verlogene politische Elite. Über entvölkerte Landstriche, denen die Verantwortlichen nur schulterzuckend gegenüberstehen, und über das Schmarotzerheer von Säufern vorm Nettomarkt, über Gender-Spezialisten an der Uni und den Showmaster mit sechs- oder siebenstelligem Gehalt. Es ist die Wut der Menschen, die einst ihre Kinder wegen einer Lehrstelle in 500 Kilometer entfernten Orten im Westen abgeladen haben, und die nun, im Alter, allein zu Hause sitzen, während der Staat sich aufwendig um wildfremde Jungs aus Arabien oder Afrika kümmert. Die Wut derer, die heute noch ihre Kredite abstottern, während Konzerne wie Google ihre Steuern in Irland zahlen. Wut über die Politiker von CDU, SPD und Grünen, die das alles mitmachen. Und vielleicht ist auch eine Portion Wut über die eigenen Fehler und das eigene Unvermögen dabei."

"Auch ich fühle mich von Merkel und Co. ignoriert", schrieb mir ein anderer Leser aus Sachsen. "Sie jettet lieber um die Welt, als sich um die dringlichen Probleme in Deutschland zu kümmern. Milliarden von Steuergeldern gehen ins Ausland, aber hier treiben die Mieten die Leute in die Obdachlosigkeit, Schulen zerfallen, Unterricht fällt aus, das Rentensystem muss von immer weniger Menschen immer länger gestemmt werden, viele Leute müssen zwei oder mehr Jobs machen, um über die Runden zu kommen. Die schwarz-rote Koalition besteht aus Berufspolitikern, die jegliches Gefühl für die Menschen im Land verloren haben. Ich fühle mich von diesen Leuten einfach nicht mehr respektiert und vertreten."

Harte Worte, bittere Worte. Sicher auch sehr subjektive Worte. Aber sie sind keine Einzelmeinungen, ich höre dergleichen immer öfter, deshalb zitiere ich sie hier. Und ich denke, dass man sie ernst nehmen muss. Menschen wie diese beiden Leser werden sich wohl nur dann wieder für die politischen Prozesse und das gesellschaftliche Engagement begeistern lassen, wenn sie sich gehört, verstanden, mitgenommen fühlen. Wenn ihnen Respekt und Aufrichtigkeit entgegengebracht werden. Wenn sie den Eindruck zurückgewinnen, dass sie und ihre Anliegen, ihre Lebenswelt den politischen Entscheidern wirklich wichtig sind. Das ist eine Aufgabe, die größer ist als der Koalitionsvertrag einer Bundes- oder Landesregierung, und selbstverständlich ist in den vergangenen 28 Jahren enorm viel unternommen worden, um die Lebensumstände in Ost und West einander anzugleichen. Trotzdem sind die wirtschaftlichen und vielerorts auch die kulturellen Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern immer noch gravierend. Der Dialog, die Empathie, das echte Interesse füreinander scheinen mir zwischen Autobahnausbauten, Wirtschaftsförderung und Innenstadtsanierungen oft verloren gegangen zu sein.

"Ostdeutsche nehmen Kritik an der DDR zu schnell persönlich, Westdeutsche müssen herunter vom hohen Ross. Noch ist sich Deutschland in Teilen fremd", schreibt der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder in einem Gastbeitrag für unsere Redaktion. "Mit der Kritik am Westen und den regierenden Politikern geht in vielen ostdeutschen Familien eine Weichzeichnung der DDR einher, die an die junge Generation weitergegeben wird. Der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur ist vielen jungen Menschen nicht geläufig. Sie übernehmen das schlichte Welt- und Gesellschaftsbild der Altvorderen, demzufolge 'die da oben' alles bestimmen und 'wir hier unten' nichts zu sagen haben. Das treffe auf die DDR ebenso wie auf das wiedervereinigte Deutschland zu, wo auch staatliche Maßnahmen als 'alternativlos' bezeichnet werden."

Auch CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer analysiert in einem Gastbeitrag für unsere Seite: "Heute ist leider wieder mehr vom Trennenden zwischen Ost- und Westdeutschland als vom Verbindenden die Rede. Wir sollten an den Zauber des Anfangs denken, um uns zu vergegenwärtigen, dass die Kraft der Freiheit heute noch genauso lebendig ist wie die Solidarität in ganz Deutschland. Wir brauchen Mut, Optimismus und eine klare Haltung."

Klingt gut, aber dann frage ich mich: Wo ist er denn, der Mut in der Politik, die wirklich großen Herausforderungen anzupacken? Warum beschäftigt sich die Bundesregierung vor allem mit kurzfristigen Lösungen für jetzt gerade drängende Probleme, statt mal über den Tellerrand ins Übermorgen zu schauen und zu überlegen, wie Deutschland sich aufstellen muss, um auch in 15, 20, 30 Jahren noch stark und erfolgreich zu sein? Wenn ich mit Politikern spreche oder ihren Reden lausche, frage ich mich oft: Wo ist die große Idee? Es kann doch nicht so schwer sein, sie zu finden.

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Vielleicht bin ich zu idealistisch, aber ich denke: Gelänge es der politischen Elite, eine kraftvolle und plastische Vision zu entwerfen, könnte sie große Teile der Bevölkerung hinter sich vereinen und die Einigung des Landes befördern. "Deutschland als Reformmotor eines starken und sozialen Europas" könnte so eine Vision sein oder "Wir werden das digitalste Land der Welt" oder "Wir wollen nicht auf Kosten anderer leben" oder meinethalben auch "Wir denken nicht mehr in Problemen, sondern nur noch in Lösungen". Stattdessen habe ich den Eindruck, dass die Regierenden – getrieben von Wahlen, Karriereehrgeiz und Parteizwängen – lieber nur bis morgen statt bis übermorgen denken, dass sie oft als "Sachpolitik" bemänteln, was eigentlich Klientelpolitik ist und sich ansonsten damit zufrieden geben, gut und gerne in Deutschland zu leben. Die CDU schüttet das sprudelnde Steuergeld in den ländlichen Raum, die SPD in Kitas und ins Rentensystem, die CSU in die Polizei und den Grenzschutz. Alles nicht schlecht, keine Frage, aber ich vermisse die übergreifende, langfristige Idee, wohin dieses Land steuern soll, wenn das totalitäre China zur neuen Wirtschaftsweltmacht aufsteigt, Algorithmen Fabriken ersetzen und immer mehr Afrikaner ihr Heil auf dieser Seite des Mittelmeers suchen, weil der Klimawandel ihnen die Lebensgrundlage raubt. Wie muss Deutschland sich aufstellen, wenn die ganze Welt sich verändert? Ewig, fürchte ich, werden wir auf unserer schwarz-rot-goldenen Insel nicht mehr um uns selbst kreisen können.

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WAS STEHT AN?

Die wichtigsten Termine des Tages in Kürze:

Wie geht es jetzt weiter mit der Dieselkrise? Darüber wird das politische Berlin heute reden. Der Kompromiss der großen Koalition erscheint vielen halbgar – und immer noch weigern sich die meisten Autokonzerne, endlich ihrer Verantwortung voll und ganz gerecht zu werden, nachdem sie jahrelang ihre Kunden betrogen haben. Warum lässt die Bundesregierung ihnen das durchgehen? Die Angst vor Arbeitsplatzabbau allein kann es kaum sein, nachdem die Konzerne wieder Milliardengewinne einfahren. Sei es nun Kuschen vor der Autolobby, Kapitulation vor den komplizierten Technikdetails, fehlende Lust auf Beschäftigung mit dem Thema oder schlicht mangelnde Durchsetzungsfähigkeit: Bei vielen Bürgern dürfte der sogenannte "Dieselkompromiss" den Frust auf die Politik eher noch befördern. Zumal das nächste Problem schon vor der Tür steht: Weniger Dieselfeinstaub bedeutet zugleich mehr Benziner-Kohlendioxid, erklärt unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld.

Angela Merkel ist mit großem Tross nach Jerusalem geflogen, wo heute die jährlichen deutsch-israelischen Regierungskonsultationen stattfinden. Die Kanzlerin spricht mit Ministerpräsident Netanjahu und Präsident Rivlin, besucht die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, diskutiert in Haifa mit Studenten und trifft dann gemeinsam mit ihren Ministerinnen und Ministern das israelische Kabinett. Aufwendig, aber wichtig. Und richtig.

In Hamburg beginnt heute der Mordprozess gegen einen 34-Jährigen aus dem Niger, der auf dem S-Bahnhof Jungfernstieg seine Ex-Freundin und die gemeinsame Tochter erstochen haben soll. Die Tat erschütterte nicht nur in der Hansestadt, sondern auch bundesweit viele Menschen. Entsprechend groß dürfte das Interesse an dem Prozess ausfallen.

Wenn gar nichts mehr hilft, dann hilft nur noch Humor. Und den haben die Briten bekanntlich. Also haben einige von ihnen sich eine ganz spezielle Form des Protests gegen den Brexit ausgedacht: Gemeinsam mit ihren Hunden wollen Tausende heute zum Londoner Parlament marschieren und für einen Verbleib in der EU werben. "Wooferendum" nennen sie das. Wuff!

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WAS LESEN?

Gern und oft brüstet sich Donald Trump mit seinen angeblichen Erfolgen als Geschäftsmann: Aus eigenem Antrieb und dank seiner Begabung als "genialer Dealmaker" habe er ein Milliardenvermögen aufgebaut. Alles Humbug, schreibt die "New York Times": Der US-Präsident verdanke seinen Reichtum vor allem seinem Vater – und zahlreichen illegalen Steuervergehen. Ein Jahr lang haben die Journalisten recherchiert für "einen der längsten Enthüllungsartikel, den die 'Times' je veröffentlicht hat", wie das Blatt selbst schreibt. Falls Sie nicht so viel Zeit haben: Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold hat die wichtigsten Punkte für Sie zusammengefasst.

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Fläche: 216 Quadratmeter. Monatsmiete: 15.000 Dollar. Bewohner: keiner. Aber: trotzdem voll ausgebucht. Was ist das für eine seltsame Luxuswohnung in News Yorks Szeneviertel SoHo? Die "New York Times" hat alle Infos. Und die Fotos.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Heute sind wir eingeladen, uns mal anzusehen, was der Elfjährige aus der Nachbarschaft schon alles Tolles gelernt hat auf seiner Ukulele. Setzen wir uns hin, setzen wir ein freundliches Lächeln auf. Immer schön loben, das ist wichtig für die Motivation. Ach, der Bub hat das Stück sogar selbst komponiert? Aha, ja, toll. Bloß nicht aufhören zu lächeln, das freut Kinder ja. Okay, es geht los. Ganz nett, ja, ja. Aber … Moment, was ist das …?

Ich wünsche Ihnen einen kreativen Tag. Ab morgen schreibt mein Kollege Jan Hollitzer eine Woche lang den Tagesanbruch. Ich bin dann am Montag nach der Bayernwahl, 15. Oktober, wieder für Sie da. Wird ein turbulenter Tag, vermute ich.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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