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Tagesanbruch: Bayern-Wahl und die Selbstzerstörung der großen Parteien


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 16.10.2018Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Reactions after Bavaria state election in BerlinVergrößern des Bildes
Annegret Kramp-Karrenbauer, Angela Merkel, Volker Bouffier. (Quelle: Fabrizio Bensch/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Eine große Koalition kann eine feine Sache sein. Erinnern Sie sich noch, wie Bundeskanzlerin Merkel (CDU) und Finanzminister Steinbrück (SPD) auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Jahr 2008 vor die Fernsehkameras traten und der verunsicherten Bevölkerung versprachen, dass der Staat ihre Sparguthaben garantiere? Haben Sie noch vor Augen, wie die SPD die Union im Jahr 2014 dazu brachte, ihren jahrelangen Widerstand gegen den Mindestlohn aufzugeben?

Sicher, so ein breites politisches Bündnis birgt immer die Gefahr, dass Politik und Gesellschaft eingelullt werden, dass es an Ecken, Kanten und auch mal einer schrägen Idee fehlt, die nicht sofort eine Mehrheit findet, sich aber später vielleicht als Glücksgriff erweist. Aber in Zeiten globaler Erschütterungen kann eine große Koalition auch ein Vorteil sein: stabile Mehrheiten, verlässliche Planung, wohl abgewogene Entscheidungen, die die Interessen vieler unterschiedlicher Strömungen in der Bevölkerung widerspiegeln.

Kann, ja: kann.

Haben wir derzeit aber nicht. Das Berliner Regierungsbündnis garantiert weder Stabilität noch Verlässlichkeit noch kluges Regierungshandeln. Wir haben es mit einer Truppe esprit-, ideen- und kraftloser Routiniers zu tun, die ihre Dossiers irgendwie vor sich hin verwalten, statt Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu geben und diese in konkrete Politik zu gießen. Wie muss sich Deutschland aufstellen, wenn die ganze Welt sich verändert, wenn die USA unberechenbar werden und sich nur noch um ihr eigenes Wohl kümmern, die Chinesen ihre Welteroberungspläne vorantreiben, Tech-Konzerne unsere Privatsphäre unterminieren, Digitaltechnologie zigtausende Arbeitsplätze vernichten, Klimawandel und Kleptokratien Millionen Afrikanern die Lebensgrundlage rauben, sodass diese keinen anderen Ausweg sehen als den in Richtung Europa, wenn die Schere zwischen Superreichen und Armen immer weiter auseinanderklafft, wenn Daten zur neuen Währung werden und Populisten von links bis rechts an den Grundpfeilern unseres demokratischen, pluralistischen Europas sägen?

Was, ja was sollten Parteien und Menschen, die im Berliner Regierungsviertel Verantwortung tragen, dann tun? Nicht so schwer zu beantworten, denke ich: Sie sollten die Probleme anpacken, statt sie auszusitzen, langfristige Lösungen entwickeln und diese in einem breit angelegten Prozess mit möglichst vielen Bürgern diskutieren – und dann umsetzen. Kurz: Sie sollten ihren Job machen.

Was machen die drei Regierungsparteien stattdessen, warum schneiden sie bei Landtagswahlen und in den Umfragen derzeit so schlecht ab?

Die CSU hat ihre Führung einem Mann überlassen, der von einem Zank in den nächsten tappt, der sich in seinem Innenministerium einbunkert und zugleich gern und oft auf den Berliner Politikbetrieb schimpft, der politisches Verhandeln mit Draufhauen verwechselt und es nicht merkt, wenn er so nicht nur seine eigenen Leute, sondern auch immer mehr Bürger verprellt. Kann er wirklich Teil der CSU-Neuausrichtung sein? In der Partei kursieren vier Vorschläge, die große Auswirkungen auf das Parteiensystem hätten, berichtet unser Reporter Jonas Schaible aus München.

Die SPD schwankt steuer- und orientierungslos der Bedeutungslosigkeit entgegen. Findet kein klares Profil. Hadert 16 Jahre nach Gerhard Schröders Sozialreformen immer noch mit Hartz IV. Will die Partei der sozialen Gerechtigkeit sein, aber ihre Chefin nickte mal eben die Beförderung eines Verfassungsschutzchefs ab, dessen Abgang sie vorher lauthals verkündet hatte. Propagiert den Umweltschutz, verweigert sich aber einem schnellen Ausstieg aus der Kohle und macht beim Dieselkompromisschen mit, das weder der Umwelt noch den Autofahrern hilft, sondern vor allem den Konzernen. Und sitzt in einer Bundesregierung, obwohl sie gar nicht mehr so genau weiß, ob sie das überhaupt noch will.

Und die CDU? Die steht für … nun, wofür steht sie noch gleich? Gut und gerne in Deutschland leben und Merkel soll Kanzlerin bleiben, das ist es im Wesentlichen oder? Unter Merkels Führung hat sich die CDU in einem Modus aus pragmatischem Klein-Klein und programmatischer Leere bequem gemacht. Wer keine großen Ziele hat, der muss sie auch nicht verteidigen, wenn es mal schwierig wird; der ist flexibel, mal so und mal anders zu entscheiden. Diese Strategie war jahrelang erfolgreich – aber jetzt zeigen sich ihre Folgen.

Einer, der sich traut, das offen zu kritisieren, ist der CDU-Politiker Norbert Röttgen, den mein Kollege Johannes Bebermeier und ich gestern zum Interview getroffen haben. Die Welt verändere sich durch die Digitalisierung und die Geopolitik rasant, sagt er: "Diese Veränderungen beunruhigen, verängstigen und überfordern viele Menschen. Die Parteien haben gegenüber dieser Veränderungswucht ihren Gestaltungsanspruch aufgegeben. Deshalb fühlen sich die Menschen im Stich gelassen, und die Parteien verlieren ihre Akzeptanz." Und: "Die großen Parteien dürfen diesen Prozess der Selbstzerstörung nicht einfach geschehen lassen, sondern müssen sich ihm entschlossen entgegenstellen." Deshalb müsse die CDU endlich beginnen, Debatten über diese Themen zu führen, um einen Neuanfang zu machen. Ob dieser Neuanfang mit Angela Merkel an der Spitze gelingen könne, haben wir Herrn Röttgen natürlich auch gefragt. Seine Antworten lesen Sie hier.

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WAS STEHT AN?

Die wichtigsten Termine des Tages in Kürze:

Auch heute geht es im politischen Berlin noch mal um die Bayern-Wahl und ihre Folgen. CSU-Chef Seehofer stellt sich am Mittag in der Bundespressekonferenz den Fragen der Hauptstadtjournalisten, die bestimmt nicht allzu freundlich sein werden, anschließend tagen die Fraktionen der Bundesparteien. Ich sage es mal so: Nicht ausgeschlossen, dass wir in den kommenden Tagen doch noch den einen oder anderen Rücktritt sehen.

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Was geschieht eigentlich mit Kindern, die aus Deutschland nach Afghanistan zurückgeschickt werden? Wie ergeht es ihnen, werden sie betreut, versorgt, vor Gewalt und Elend geschützt? Das wird uns heute Vormittag die Kinderrechtsorganisation Save the Children berichten. Wäre schön, wenn auch jene zuhörten, die immer besonders laut fordern, dass abgelehnte Asylbewerber schnell in das Bürgerkriegsland abgeschoben werden.

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Wenn Geflüchtete hierzulande eine Gewalttat begehen, berichten viele Medien prominent, ausführlich und tagelang darüber. Wenn Geflüchtete dagegen selbst Opfer von Gewalttaten werden, ist es vielen Medien gerade mal eine Randnotiz wert. Heute können wir das ändern. Heute sollten wir über den Prozessbeginn gegen einen deutschen Rentner in Heilbronn berichten. Er ist wegen Mordversuchs angeklagt, weil er vier Flüchtlinge mit einem Messer attackierte. Laut Gericht wollte er "ein Zeichen gegen die Flüchtlingspolitik setzen".

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Falls Sie zufällig in der schönsten Stadt Deutschlands leben, können Sie heute Abend ab 17 Uhr sehen, wie der Michel illuminiert wird. (Klammer Nummer eins: Falls Sie zufällig in der schönsten Stadt Deutschlands leben, wissen Sie, was der Michel ist.) (Klammer Nummer zwei: Falls Sie in der schönsten Stadt Deutschlands leben, obwohl dort kein Michel steht, haben sicher Sie Recht und nicht ich, denn Schönheit ist bekanntlich eine subjektive Angelegenheit.)

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WAS LESEN?

Warum hat die CSU, die Bayern seit Jahrzehnten regiert, so stark verloren? Wir Journalisten haben seit Sonntagabend viel darüber geschrieben, aber es gibt Leute, die wissen noch mehr als wir. Fragen wir also einen von ihnen: den CSU-Experten Thomas Schlemmer, den mein Kollege Marc von Lüpke interviewt hat. Er sagt: Die CSU hat in den vergangenen Jahren nicht nur individuelle Fehler gemacht, sie wird auch von einem bundesweiten Trend heimgesucht, der bereits SPD und CDU mitgerissen hat. Trotzdem: Ein Abgesang auf die CSU wäre verfrüht. Herr Schlemmer weiß nämlich auch, was die Partei tun muss, um wieder erfolgreicher zu werden.

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Wenn man etwas intensiv tut, siebenmal die Woche, 365 Mal im Jahr – kann man das komplett vergessen? Oder sich meistens dieser Tätigkeit nicht einmal bewusst sein? Man kann. Nacht für Nacht sind wir schwer beschäftigt: Wundersame Geschichten werden erdacht, schreckliche Dramen und wilde Verfolgungsjagden spielen sich ab, Monster und diffuser Schrecken lauern im Dunkel. Wir fliegen, wir fallen, wir erscheinen unvorbereitet zu Prüfungen oder haben im unpassendsten Moment blöderweise gar nichts an. Thriller und Komödien. Dann beginnt der neue Tag – und wir gehen unserer Wege, als sei gar nichts passiert.

Manche Träume jedoch bleiben im Bewusstsein hängen, zumindest kurz nach dem Aufwachen. Nicht immer ist das eine schöne Erinnerung. Albträume können so intensiv sein, dass manchen Menschen der ganze Tag verleidet wird, noch bevor er eigentlich begonnen hat. Was bedeuten diese Träume? Nicht viel, sagen manche Forscher. Ihrer Auffassung zufolge sind Emotionen im Schlaf nach wie vor präsent, aber es fehlen die einordnenden, steuernden Aktivitäten unseres wachen Hirns. Gefühle und Impulse äußern sich roh und unsortiert im Durcheinander unserer Träume.

Andere hingegen sehen mehr Sinn im nächtlichen Geschehen: Stress, Konflikte, eine schlimme Erfahrung brechen sich im Schlaf wieder Bahn. In besonders unerklärlichen Träumen spielen vielleicht auch frühkindliche Erlebnisse eine Rolle. Die Erinnerung an sie wird beim Heranwachsen aus dem Bewusstsein getilgt – ein fest verdrahteter Prozess, der als infantile Amnesie bezeichnet wird. Starke Gefühle, die aus dieser Zeit stammen, könnten jedoch noch immer den Weg an die Oberfläche suchen.

Psychologen raten, bei intensiven Albträumen nicht unbedingt auf die Handlung zu achten, sondern auf das Grundgefühl, vor allem, wenn es sich im Tagesgeschehen wiederfinden lässt. Es gibt Menschen, die träumen, jemanden umzubringen. Zum heimlichen Psychopathen wird man dadurch aber nicht. Wer aus einem solchen Traum zum Beispiel mit dem Gefühl aufwacht, etwas Schlimmes getan zu haben, sollte seinen Alltag weniger auf Mordgelüste als auf uneingestandene Schuldgefühle abklopfen. Vielleicht hat es zum x-ten Mal nicht geklappt, weniger Süßkram zu essen? Heute Morgen wieder nicht joggen gewesen? Okay, nicht toll. Aber das bringt doch niemanden um.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Tiere fressen, Menschen essen. Ist irgendwie zwar dasselbe, aber bei uns geht es kultiviert zu. Wir stürzen uns nicht einfach auf das, was uns vorgesetzt wird. Wir warten, bis alles schön angerichtet und die Getränke eingeschenkt sind. Ärgerlich nur, wenn die Getränke nicht kommen und weit und breit keine Bedienung zu sehen ist. Das Essen auf dem Teller wird langsam kalt. Ständig schauen wir uns nach dem elenden Kellner um. Zwischendurch lieber schon mal einen Happen nehmen. Immer noch kein Ober, Mann, Mann, Mann. Es sabbert schon ein bisschen an den Lefzen. Aber gebellt wird nicht. Wir sind schließlich unter Menschen. Die machen das nicht.

Ich wünsche Ihnen einen wohlgesättigten Tag.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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