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Tagesanbruch: Nostalgie in Ostdeutschland – Trauer um eine untergegangene Welt


Was heute wichtig ist
Trauer um eine untergegangene Welt

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 23.08.2019Lesedauer: 5 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Straße in der Dresdner Neustadt.Vergrößern des Bildes
Straße in der Dresdner Neustadt. (Quelle: Florian Harms)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Nostalgie ist ein Wort, das wir oft mit mitleidigem Blick aussprechen. Wer sich nach der Vergangenheit sehnt, kommt mit der Gegenwart nicht zurecht, der verklärt, was war, und will nicht akzeptieren, dass sich die Welt nun mal weiterdreht: So denken wir schnell über Nostalgiker, und so denken auch viele Westdeutsche über Ostdeutsche, die sich gelegentlich mit Wehmut an das Leben in der DDR erinnern. Warum tun die sich so schwer, den Wandel zu akzeptieren, wo er doch so viele Errungenschaften gebracht hat, Demokratie, Freiheit, Berufschancen, Aufschwung? "Die da drüben mit ihrer Ostalgie, nun ist’s aber mal gut!": Diesen Satz habe ich in den alten Bundesländern nicht nur einmal gehört.

Gestern hatte ich zwischen zwei Terminen etwas Zeit, und da ich eh in der Gegend unterwegs war, machte ich Halt in Dresden. Anfang der neunziger Jahre hatte ich dort gelebt und im Neustädter Krankenhaus gearbeitet. Es war eine enorm intensive, aufregende Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, damals viel geschlafen zu haben. Stattdessen stürzte ich mich ins Stadtleben, fand Freunde, war beeindruckt vom Zusammenhalt der Menschen in Wohnhäusern, Betrieben, Stadtvierteln, erfreute mich am Dialekt. Große Teile Dresdens waren damals noch nicht renoviert, die Häuserzeilen in Trachau, Mickten, Pieschen, Striesen und Loschwitz schauten mir grau und löchrig entgegen, aber das tat meiner Begeisterung keinen Abbruch. Ich verbrachte viele Abende in den Lokalen der Neustadt, bezahlte im “Hieronymus“ zwei Mark für die Flasche Eibauer und im “Goldenen Hufeisen“ drei Mark vierzig für ein Mittagessen.

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Gestern war ich wieder dort. Ich traf ehemalige Arbeitskollegen im durchsanierten Krankenhaus, streunte durch die Straßen von Alt-Trachau und der Neustadt. Die Fassaden sind heute rosa, gelb und weiß, dazwischen ein paar Graffiti. Die meisten Lokale von damals gibt es nicht mehr, stattdessen gibt es dieselben Dönerläden, Bio-Supermärkte und Shisha-Cafés wie in allen deutschen Großstädten. Im “Raskolnikoff“ besteht der Boden nicht mehr aus Sand, sondern aus Parkett. In Mickten und Pieschen wirken die Straßen und Plätze leer, ich hatte sie belebter in Erinnerung. In einer Seitenstraße suchte ich das Haus, in dem ein Freund gewohnt hatte. Es war nicht mehr da. Stattdessen war da jetzt ein riesiger Edeka-Markt. Smoothies im Angebot, vier Euro neunzig.

Das war der Moment, in dem mich ein Gefühl beschlich: Früher war es hier doch auch schön. War es vielleicht sogar schöner? Oder vielleicht nicht schöner, aber heimeliger, warmherziger, vertrauter? Prompt nahte der zweite Gedanke: Wenn es schon mir so ergeht, der nur anderthalb Jahre in dieser Stadt gelebt hat, aber die Stimmung von damals trotzdem vermisst, wie muss es dann erst jenen ergehen, die ihr halbes Leben im alten Dresden verbracht haben und nun immer noch dort leben? Wie empfinden sie die Stadt, die sich so stark entwickelt hat, die Altstadt renoviert, die Frauenkirche wiederaufgebaut, die Bürgerhäuser am Weißen Hirsch renoviert, das Elbtal begrünt, Industrie angesiedelt und Handwerk gefördert – aber eben doch alles ganz anders als früher? Und wie ergeht es erst den Menschen in ostdeutschen Städten, die nicht so erblühen wie Dresden?

Man kann sich mit vielem abfinden, man kann sich anpassen, man kann den Wandel freudig befürworten – und man kann trotzdem mit Wehmut an das alte Leben zurückdenken. Hat man dann auch noch das Gefühl, dass die Trauer um die untergegangene Welt nicht ernstgenommen wird, dass man belächelt oder sogar als rückständig verhöhnt wird, dann kann man Frust empfinden. Und wenn der Frust sich Jahr über Jahr aufstaut, wenn er durch weitere Enttäuschungen genährt wird, verlorene Arbeit, niedrigeren Lohn oder geringere Rente als im Westen, vielleicht auch durch den Eindruck, dass für ausländische Neuankömmlinge mehr getan werde als für einen selbst – dann kann sich der Frust zur Wut steigern.

Vielleicht klingt das alles zu einfach, vielleicht sind meine Beobachtungen holzschnittartig und meine Erklärungen lapidar. Aber manchmal ist die Wahrheit womöglich gar nicht so kompliziert. Man muss sie nur sehen wollen. Dann verliert die Nostalgie plötzlich ihren mitleidigen Klang.


Bringt das Urteil im Mordprozess von Chemnitz die erhoffte Genugtuung? Nach dem Richterspruch bleiben Zweifel. Zu neun Jahren und sechs Monaten Haft hat die Schwurgerichtskammer Dresden den angeklagten Syrer Alaa S. verurteilt. Er sei mitschuldig am Tod von Daniel H., der vor einem Jahr am Rande des Chemnitzer Stadtfestes erstochen wurde. Eine harte Strafe. Die Freunde des Opfers begrüßen sie – aber die Verteidiger des Angeklagten sind empört und sprechen von einem “traurigen Tag für den Rechtsstaat". Tatsächlich fehlen eindeutige Beweise, tatsächlich ist der mutmaßliche irakische Mit- oder sogar Haupttäter auf der Flucht, während der Syrer von vielen Leuten vorverurteilt wurde. Die Bürgermeisterin von Chemnitz hoffte schon vorab auf eine Verurteilung, "damit die Angehörigen Ruhe finden können". Auf allen Prozessbeteiligten lastete großer öffentlicher Druck. Ob das Urteil vor der Revisionskammer standhält, ist unklar.

Eines aber ist sicher: Dieser Mordfall und seine Folgen haben Chemnitz verändert. Die ehrliche Trauer um das Opfer wurde von Rechtradikalen instrumentalisiert. Viele Bürger sahen mit Erschrecken, wie manche Nachbarn an der Seite von Extremisten demonstrierten, wie ein jüdisches Lokal angegriffen und Ausländer attackiert wurden, wie Politik, Medien und Öffentlichkeit sich in eine absurde Diskussion über den Begriff “Hetzjagden“ verstrickten, wie Chemnitzer pauschal als Rechtsextreme gebrandmarkt wurden, wie Spitzenpolitiker sich erst spät herbequemten, um mit den aufgebrachten Bürgern zu reden. Dieses ganze Drama hat die öffentliche Stimmung in der Stadt, aber auch in Sachsen getrübt. Es könnte sein, dass wir die Folgen auch im Wahlergebnis am übernächsten Sonntag sehen.


WAS STEHT AN?

In Syrien tobt der Kampf um die letzte Rebellenhochburg Idlib. Es droht eine weitere humanitäre Katastrophe, Millionen Menschen könnten vertrieben werden. Plötzlich stehen sich russische und türkische Soldaten direkt gegenüber – und Präsident Erdogan hat sich in die Zwickmühle manövriert. Mein Kollege Patrick Diekmann analysiert die Lage.

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Heute wird wieder gekickt, und wer mitkicken darf, ist richtig wertvoll: Mehr als 700 Millionen Euro haben die Bundesliga-Klubs in diesem Sommer schon für neue Spieler ausgegeben. Der SC Paderborn hat sich auf 150.000 Euro beschränkt und nur Kicker aus der dritten, vierten und fünften Liga verpflichtet. Wie will der Verein denn bitteschön so den Klassenerhalt schaffen? Mein Kollege Benjamin Zurmühl hat sich die ziemlich pfiffige Transferstrategie erklären lassen.


DIE GUTE NACHRICHT

Das Wort Familienfreundlichkeit führen Politiker gern auf den Lippen, aber so richtig konsequent sind sie nicht immer. Ganz anders als Trevor Mallard: Der neuseeländische Parlamentspräsident ist kurzerhand als Babysitter für den Sohn eines Abgeordneten eingesprungen. So, und nun stellen Sie sich das bitte mal im Deutschen Bundestag vor.


WAS LESEN?

Die Entdeckung des Grabes von Pharao Tutanchamun im Jahre 1922 war eine Sensation. Viel ist darüber geschrieben worden – doch möglicherweise birgt die Anlage ein noch größeres Geheimnis: Der britische Forscher Nicholas Reeves hat die Theorie aufgestellt, dass auch die legendäre Königin Nofretete dort bestattet sein könnte, nun hat er neue Indizien vorgelegt. Unsere Archäologie-Expertin Angelika Franz erzählt Ihnen die ganze Geschichte.


Die Bundes- und die Landesregierungen wollen sicherstellen, dass möglichst alle Bürger am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilhaben können. Ein schneller Internetanschluss ist dafür unerlässlich – doch der Breitbandausbau stockt. Welche gravierenden Folgen das hat, berichtet unsere Gastautorin Inga Höltmann aus dem Wendland: Ohne Anschluss verödet das Land.


WAS AMÜSIERT MICH?

Allerlei Wissenschaftler veröffentlichen nun ihre aufwendig recherchierten Studien zum Befinden der Bürger auf dem Land. Dabei ist es doch eigentlich ganz einfach.

Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Freitag und ein sonniges Wochenende. Herzliche Grüße

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