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Fall Karamba Diaby: Rassismus in Deutschland – "Es ist eine Schande"


Was heute wichtig ist
Es ist eine Schande

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 16.01.2020Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Einschusslöcher im Büro des Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby in Halle.Vergrößern des Bildes
Einschusslöcher im Büro des Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby in Halle. (Quelle: Marvin Gaul/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Stellen Sie sich vor, Sie lebten in einem fernen Land. Die Menschen dort haben alle braune Haut. Nur Sie haben weiße. Morgens auf dem Weg zum Bäcker fangen Sie sich den ersten Spruch ein: “Bleichgesicht, elendes!” Im Bus zur Arbeit rempeln drei Typen Sie an; als Sie sich beschweren, gibt einer Ihnen eine Ohrfeige. Die anderen Mitfahrer schauen weg. Später suchen Sie vielleicht einen Job und verschicken Dutzende Bewerbungen – aber kassieren eine Absage nach der anderen. Wenn Sie abends ausgehen, werden Sie ständig von Polizisten kontrolliert. Wenn Sie sich darüber beklagen, kann es passieren, dass Sie ganz schnell auf der Wache landen. Ach ja, und im Parlament des fernen Landes sitzen rechtsextreme Abgeordnete, die in Reden, Talkshows und Facebook-Videos über ihresgleichen herziehen: “Bleichgesichter sind verkappte Verbrecher! Alle raus!”

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Haben Sie sich das vorgestellt? Gut. Dann können Sie jetzt möglicherweise nachempfinden, wie es Tausenden Menschen mit afrikanischen, arabischen oder asiatischen Wurzeln ergeht, die in Deutschland leben. Mit deutschem Pass, als anerkannte Asylbewerber oder als geduldete Flüchtlinge. Von Flensburg bis Garmisch, von Dortmund bis Dresden: Vielerorts in unserem schönen Land berichten Betroffene von üblem Rassismus, mal häufiger, mal seltener, mal dezent, mal brutal. Es gibt die schlagzeilenträchtigen Fälle. Etwa, wenn Unbekannte auf das Büro eines im Senegal geborenen, deutschen Bundestagsabgeordneten schießen. Oder wenn ein Architekturbüro grundsätzlich “keine Araber” bei Vorstellungsgesprächen duldet. Beide Fälle erregten gestern bundesweit Aufsehen.

Nicht weniger schlimm sind aber die vielen, vielen Fälle jeden Tag, die keine Schlagzeilen machen. Weil die Betroffenen nicht prominent sind oder weil die Vorkommnisse nicht in den sozialen Medien aufgegriffen werden oder, schlimmer noch, weil sie so alltäglich geworden sind, dass weder die Polizei noch die Politik noch die große Mehrheit der Bürger Notiz davon nehmen. Genau das ist die Gefahr: Dass wir uns an das Virus der Gemeinheit gewöhnen. Rassismus beeinträchtigt das Leben von Millionen Menschen in Deutschland, er ist eine Gefahr für unsere Demokratie und eine Schande für unser Land. Deshalb braucht es den Widerstand der Anständigen. Der Staat muss rassistische Beleidigungen und Angriffe konsequent und ausnahmslos ahnden. Und als Bürger sollte man Betroffene solidarisch unterstützen sowie, wo immer möglich und sofern man sich nicht selbst gefährdet, den Hetzern widersprechen. Um zu verstehen, wie wichtig dieser Beistand für die Opfer von Rassisten ist, genügt ein kurzes Gedankenexperiment: Stellen Sie sich einfach vor, sie lebten in einem fernen Land…


Vier Jahre sind eine lange Zeit in der Politik. Erinnern Sie sich noch, was die Welt im Januar 2016 bewegte? Ich habe nachgeschaut: In Deutschland ging es drunter und drüber. Flüchtlinge in Turnhallen und Notunterkünften. Nach zahlreichen sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht kippte die Willkommensstimmung. Weltweite Terroranschläge des “Islamischen Staates“. Nordkorea meldete den ersten erfolgreichen Test einer Wasserstoffbombe. Die Weltgesundheitsorganisation warnte vor der explosionsartigen Ausbreitung des Zika-Virus. Noch wusste niemand, was ein "Brexit" ist. Lange her. Man erinnert sich eher vage, vergisst so vieles.

Den Segen des Vergessens mag auch Präsident Wladimir Putin im Sinn gehabt haben, als er gestern in Moskau für eine Überraschung sorgte: In Russlands Machtzentrum werden die Karten neu gemischt. Der Mann im Kreml hat weitreichende Verfassungsänderungen angekündigt. Zugleich nahm Premierminister Dmitrij Medwedjew seinen Hut. Wurde auch Zeit. Denn die Hauptaufgabe eines Premiers im System Putin ist, an allem schuld zu sein, was nicht läuft. Die Leute sind unzufrieden: schleppende Wirtschaft, sinkende Einkommen, Altersarmut, die Liste wird immer länger. Medwedjew ist verbraucht. Ein unbelasteter, weil weitgehend unbekannter Apparatschik, der bisherige Chef der Steuerbehörde Michail Mischustin, darf nun den Dienst als neuer Blitzableiter antreten.

Mit den Verfassungsänderungen allerdings plant der Oberboss weiter voraus. Vier Jahre, um genau zu sein. Denn lästigerweise ist dem Dauerpräsidenten Putin eine nochmalige Amtszeit untersagt, und diese Beschränkung der Verfassung einfach aufzuheben, wäre dann doch ein bisschen plump. Da gäbe es womöglich Aufruhr. Das letzte Mal, als Putin dieses Hindernis umschiffen musste, ließ er sich selbst auf den untergeordneten Posten des Premierministers herab und installierte den dienstbaren Medwedjew als Platzhalterpräsidentchen, während er selbst hinter den Kulissen wie gewohnt die Strippen zog. Nach der obligatorischen Minimalpause einer Amtsperiode war die Scharade vorbei, man tauschte postwendend wieder die Plätze. Zwar verlängerte Herr Medwedjew seinem Boss und Nachfolger freundlicherweise die beiden folgenden Amtszeiten auf jeweils sechs Jahre. Doch die Zeit vergeht wie im Flug, auch als moderner Zar. Schon 2024 ist es wieder soweit: Herr Putin wird seinen Sessel räumen müssen.

Deshalb (und weil es toll klingt) hat Putin gestern verkündet, das Parlament zu stärken. Es darf in Zukunft den Premier selbst auswählen, also nicht mehr wie bisher der Präsident – weil der dann nämlich nicht mehr Putin heißt und am Ende womöglich auf eigene Ideen kommen könnte. Außerdem soll es eine neue Rolle für den Staatsrat geben, ein Gremium, das bisher den Präsidenten berät. Möglicherweise berät bald aber eher der Präsident den Staatsrat. Dessen Vorsitzender dann beispielsweise Putin heißt. Theoretisch auch anders. Aber lassen wir mal die Kirche im Dorf.

Jedenfalls darf man sich den russischen Verfassungsumbau am besten so vorstellen, dass da jemand zuhause mal die Möbel umräumt. Das alte Zeug, das im Weg steht, verschiebt, auch ein bisschen was rausschmeißt. Sich zeitgemäß einrichtet in dem Haus, das ihm schließlich gehört. Das mag uns, aus der Ferne betrachtet, dreist erscheinen, und manchen Russen sicher auch. Aber vier Jahre sind eine lange Zeit. Wenn es soweit sein wird, dass der immergleiche starke Mann schließlich doch den Sessel räumt, wird man sich der Renovierungsarbeiten von heute kaum noch erinnern. Und die Dinge werden sich ganz von selbst fügen, zur Erhaltung von Putins Macht. Als läge es in ihrer Natur. Taktisch ist das brillant. Demokratisch nicht.

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WAS STEHT AN?

Heute Vormittag stimmt der Bundestag über die viel diskutierte Reform der Organspende ab. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat die "doppelte Widerspruchslösung" initiiert. Setzt er sich damit durch, gilt künftig jeder Bürger als Organ- und Gewebespender, sofern er nicht ausdrücklich widerspricht. Unserem Politikreporter Tim Kummert hat Spahn im Interview erklärt, warum er das richtig findet – er aber trotzdem keine "Organ-Abgabepflicht" will.

Da das Thema so weitreichende Bedeutung für jeden Bürger hat, haben meine Kollegen mit weiteren Prominenten gesprochen. Die gegensätzlichen Argumente der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD, pro Widerspruchslösung) und Hermann Gröhe (CDU, kontra Widerspruchslösung) treffen hier direkt aufeinander. Außerdem hat der Transplantationschirurg Helmut Arbogast meiner Kollegin Sandra Simonsen erklärt, was genau bei einer Organentnahme passiert, nach welchen Kriterien die Ärzte handeln – und warum seiner Meinung nach nur eine Lösung richtig ist.


Franz Müntefering für den letzten großen SPD-Vorsitzenden zu halten, ist sicher nicht vermessen. Keiner seiner Nachfolger vermochte der Partei ein so klares Profil zu geben. Heute hat seine SPD zwar nicht mehr viel zu feiern, aber wenigstens er selbst darf sich heute an seinem 80. Geburtstag feiern lassen. Und sich von Bundespräsident Steinmeier rühmen lassen: “Von Beginn an war Ihr politisches Profil unverwechselbar. Sie personifizieren die Grundwerte, für die Sozialdemokraten stets gestritten haben: Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. ”In diesem Sinne: Ein Hoch auf den Jubilar und Glückauf!"


An Berliner Theatern ist immer viel los, aber heute Abend gibt es zwei besonders spannende Premieren: In “Drei Mal Leben” von Yasmina Reza steht der großartige August Diehl erstmals im Berliner Ensemble auf der Bühne. Die Volksbühne wiederum zeigt die Uraufführung des Stücks “Ultraworld” von Susanne Kennedy und Markus Selg, es geht um die Entstehung der Welt und die Bewusstwerdung des Menschen. Da man ja leider noch nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann, hat man heute als Theaterliebhaber also die Qual der Wahl.


Unser Sportreporter Cian Hartung hatte seinen Koffer für die Hauptrunde der Handball-EM in Wien schon gepackt, als das deutsche Team gegen Außenseiter Lettland fast das Ticket für die nächste Runde verschenkt hätte. Es wurde dann doch noch ein knapper Sieg – aber Euphorie? Nee, nee. Während die deutsche Mannschaft im vergangenen Jahr noch dem WM-Pokal hinterherjagte, traut ihr diesmal kaum jemand den Triumph zu. Unser Kolumnist Henning Fritz spricht Tacheles: "Vom Titel zu träumen, ist für die Mannschaft völliger Quatsch. Wenn das deutsche Team ins Halbfinale will, muss es immer an das nächste Spiel denken." Was Bundestrainer Christian Prokop verändern sollte und wie Kapitän Uwe Gensheimer in Top-Form kommen kann, erklärt er hier. Das Spiel gegen Weißrussland können sie heute ab 20.30 Uhr bei uns im Liveticker verfolgen. Anschließend versorgt Sie unser Reporter Cian Hartung mit Analysen und Einzelkritiken.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Pferde- statt Rindfleisch in der Lasagne, eingefärbtes Sonnenblumenöl statt Olivenöl, vermeintliches Bio-Gemüse aus konventioneller Landwirtschaft: nur drei von vielen Beispielen, wie Lebensmittelfälscher Supermarktkunden immer dreister hinters Licht führen. Meine Kollegin Claudia Hamburger hat die Details.


Von den Buschbränden in Australien zu lesen, ist das eine. Auf einem Vorher-Nachher-Bild zu sehen, was sie anrichten, ist das andere.


WAS AMÜSIERT MICH?

Wir regen uns hierzulande ja oft und gerne über die Bahn auf. Ständig diese Verspätungen! Wir sollten gelassen bleiben. Andernorts müssen Bahnfahrer mit ganz anderen Hindernissen rechnen.

Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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