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Hamburg-Wahl 2020: Die Grünen und SPD auf dem Weg zur Volkspartei


Was heute wichtig ist
Was die Hamburg-Wahl für Deutschland bedeutet

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 24.02.2020Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Die Grünen-Frontfrauen Katharina Fegebank und Annalena Baerbock feiern das Hamburger Wahlergebnis.Vergrößern des Bildes
Die Grünen-Frontfrauen Katharina Fegebank und Annalena Baerbock feiern das Hamburger Wahlergebnis. (Quelle: dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Uns Hamburgern werden gelegentlich unterkühlte Emotionen nachgesagt. Warum jauchzen, wenn man auch schmunzeln kann, warum "Hurra!" rufen, wenn auch ein trockenes "das ja ‘n Ding" reicht? Stimmt schon, Nordlichter behalten gerne einen kühlen Kopf und haben das Understatement zum Lebensstil geadelt. Doch wer gestern Abend die Hamburger Genossen jubeln sah, hätte sich in südlichen Gefilden wähnen können. Wohl nie zuvor hat die SPD einen Wahlverlust von mehr als sechs Prozent derart ausgelassen gefeiert: Sie schmiert zwar bei der Bürgerschaftswahl in der Hansestadt ab, fällt aber nicht ins Bodenlose wie andernorts in der Republik und kann mit ihrem Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher weiterregieren. Die Festanlässe sind rar geworden für die SPD, also feiert sie die verbliebenen umso enthusiastischer. Übertroffen wird die gute Laune nur noch bei den Grünen, die sich gestern Abend in den Armen lagen: Die Stimmen glatt verdoppelt – ein enormer Erfolg für Senatorin Katharina Fegebank und ihre Mitstreiter.

Auf der anderen Seite wurden die Gesichter von Stunde zu Stunde länger: Die CDU stürzt unter ihrem blassen Spitzenkandidaten Marcus Weinberg auf ihr bundesweit schlechtestes Landtagswahlergebnis seit fast 70 Jahren. Die FDP fällt deutlich zurück, die AfD ein bisschen.

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Klare Sache: Die Hamburger wollen rot-grün regiert werden. Sie goutieren die engagierte Wohnungsbaupolitik, die kostenlosen Kitaplätze und die Wirtschaftsförderung der SPD, verlangen aber mehr Einsatz gegen das tägliche Verkehrschaos, den Feinstaub aus dem Hafen und die Klimakrise. Schaut man sich die Wählerwanderung an, wird deutlich, warum die Koalitionsverhandlungen kein Elbspaziergang werden: Die SPD hat zwar viele Nichtwähler mobilisiert, aber auch viele Stimmen an die Grünen verloren. Die selbstbewusste Frau Fegebank dürfte das nutzen, um Herrn Tschentscher einige Zugeständnisse abzuringen.

Das Hamburger Wahlergebnis erlangt aber auch Bedeutung über den Stadtstaat hinaus. Sie lässt sich für jede Partei in einen Satz gießen:

Die SPD kann noch Wahlen gewinnen, wenn sie auf Sacharbeit und Seriosität statt auf Selbstbeschäftigung setzt; das ist ein Hoffnungsschimmer für die gebeutelte Sozialdemokratie.

Die Grünen profitieren vom gewachsenen Umweltbewusstsein der Deutschen, weil sie da als einzige Partei fundierte Konzepte haben; so können sie sich zur neuen Volkspartei aufschwingen – zumindest in Westdeutschland.

Die CDU leidet nicht nur unter dem Mangel an Führung, sie droht auch in Großstädten den Anschluss zu verlieren, weil sie zu wenig Antworten auf die Sorgen und Wünsche von Familien, jungen Menschen, Migranten und Kreativen hat.

Die FDP bekommt für ihr demokratievergessenes Taktieren in Thüringen eine Ohrfeige, muss sich aber auch überlegen, wie sie mehr profilstarke Persönlichkeiten in die erste Reihe holen kann.

Die AfD ist in den vergangenen Jahren immer weiter an den rechten Rand marschiert, bietet Rassisten und Neonazis eine Heimat und ist in dieser Form für aufrechte Demokraten nicht wählbar.

Die Linke kann den Hamburger Rückenwind nutzen, um sich neu zu erfinden – das hat sie nötig, wenn sie bundesweit eine Rolle spielen will.

Fazit: Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik war das Parteiensystem so stark in Bewegung wie jetzt. Manche Kommentatoren sprechen von einem Sturm. Wir Hamburger nennen es eher "‘n büschen Wind".


Alle Schotten dicht: Nicht nur der Erreger Covid-19, sondern auch die Strategie der maximalen Abschottung hat Europa erreicht – und wie! Noch am vergangenen Donnerstag waren in Italien nur drei Fälle des Coronavirus‘ bekannt. Gestern Abend waren es 155. Der Karneval in Venedig: vorzeitig vorbei. Die Modenschauen in Mailand: nur noch per Video übertragen. Ganze Ortschaften: abgeriegelt. Keiner rein, keiner raus, sonst ab ins Gefängnis, gegebenenfalls rückt die Armee aus. Österreich hat gestern Abend zwei Züge aus Italien am Brenner angehalten und somit kurzzeitig den Zugverkehr lahm gelegt. Wir stellen fest: Quarantänemaßnahmen wie in Wuhan rücken immer dichter an uns heran. Noch dramatischer entwickelt sich die Lage in Südkorea, das sich seit Wochen in erhöhter Alarmbereitschaft befindet: Trotz aller Vorkehrungen ist die Zahl der Krankheitsfälle dort explodiert.

An der plötzlichen Verschärfung der Krise sehen wir allerdings nicht, wie das Virus sich ausbreitet. Stattdessen wird klar, nach welchen Gesetzmäßigkeiten wir den Erreger außerhalb Chinas entdecken: erst einmal gar nicht – aber dann schlagartig. Binnen Stunden. Wie eine Lawine. Noch deutlicher wird das im Iran: Das Virus wurde von dort nach Kanada exportiert, bevor überhaupt bekannt war, dass es im Iran eingetroffen war. Erst am Mittwoch meldete Teheran erstmalig zwei Erkrankte. Inzwischen sind acht Menschen tot.

Zwei Drittel aller Infizierten, die das Virus aus China in den Rest der Welt getragen haben, seien unentdeckt geblieben, schätzen Wissenschaftler vom Imperial College in London. Das bedeutet: Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Anwesenheit des Erregers demnächst auch in Deutschland aufgedeckt wird – und zwar nicht so begrenzt und isolierbar, wie bei der Münchner Firma Webasto. Es ist möglich, dass das Virus längst unter uns angekommen ist, bevor es erkannt und nachgewiesen werden kann.

Sollten Großveranstaltungen wie im Karneval deshalb lieber abgesagt werden? Noch bewegen wir uns im Reich der Spekulation, aber die Antwort auf die Frage ist eher ein Ja als ein Nein. Denn das lernen wir von China, Südkorea, Iran und Italien: Wenn wir die Gefahr erst entdeckt haben, ist es fast schon zu spät.

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WAS STEHT AN?

In Deutschland neigen wir gelegentlich zu einem allzu engen Blickwinkel. Die Wahl in Hamburg, Tumult in Thüringen, Machtkampf in der CDU: Nationale Themen bestimmen die Schlagzeilen der Politik. Alle wichtig, zweifellos. Doch andernorts geschehen Dinge von nicht minderer Brisanz – allerdings sucht man sie in den meisten Medien vergeblich. Das ist falsch.

Schauen wir also heute Morgen in ein Land 5.500 Kilometer südlich von hier. Wenn Sie den Tagesanbruch schon eine Zeitlang lesen, dann wissen Sie, dass mir der Südsudan am Herzen liegt. Im vergangenen November habe ich Ihnen ausführlich von dort berichtet. Das Leid der Bevölkerung ist himmelschreiend. Fast 400.000 Menschen kamen im Bürgerkrieg ums Leben, anderthalb Millionen wurden aus ihren Dörfern vertrieben, mehr als zwei Millionen mussten in Nachbarländer fliehen. Bis heute hat mehr als die Hälfte der 14 Millionen Südsudanesen nicht genug zu essen, vor allem viele Kinder leiden Hunger. Krankheiten wie Malaria und Diarrhöe verschlimmern das Elend. Wer einmal in die Augen eines mit dem Tod ringenden Kindes geschaut hat, fragt sich, wie Politiker und Generäle so zynisch sein können, dieses Leid zu ignorieren.

Jahrelang haben sich Präsident Salva Kiir Mayardit und sein Kontrahent Riek Machar um die Macht gestritten. Der eine gehört zur Volksgruppe der Dinka, der andere zu den Nuer. Ihre Rivalität stürzte Millionen Menschen ins Verderben – doch jetzt gibt es einen Hoffnungsschimmer. Nach monatelangen Verhandlungen unter dem Druck der USA und des Vatikans haben sich die beiden Warlords zu einem Kompromiss durchgerungen: Am Samstag besiegelten sie in der Hauptstadt Juba den Frieden und bildeten eine gemeinsame Einheitsregierung. Kiir verzichtet auf eine Bezirksreform, die seine Macht über die ölreichen Provinzen vergrößert hätte, Machar willigt ein, sich künftig von der Präsidentengarde seines Rivalen beschützen zu lassen. "Das ist das offizielle Ende des Krieges, wir können nun eine neue Morgendämmerung verkünden", versprach Herr Kiir. "Der Frieden soll nie wieder erschüttert werden." Gemeinsam wollen die beiden das Land aus der Krise führen und in spätestens drei Jahren Wahlen organisieren. "Der Konflikt wird von den Schlachtfeldern im Hinterland in die Sitzungssäle von Juba verlagert", kommentiert ein lokaler Konfliktforscher.

Kann das wirklich gelingen – nach all dem Grauen, das die rivalisierenden Generäle, Milizen, Banden angerichtet haben? Trotz der Brutalität, mit der sie bis heute die Bevölkerung drangsalieren? Erst vor wenigen Tagen hat ein Untersuchungsbericht der Vereinten Nationen dokumentiert, wie die Konfliktparteien Zivilisten aushungern, Frauen missbrauchen und Kinder zum Kriegsdienst zwingen.

Der Südsudan kommt nur dann auf den Weg der Stabilität, wenn die Nachbarländer aufhören, den Konflikt anzufachen, wenn Hilfsorganisationen genug Geld für die Versorgung der Bevölkerung bekommen, wenn insbesondere Frauen unterstützt und ausgebildet werden – und wenn die Staatengemeinschaft ihren Druck auf die Warlords aufrechterhält. Denn die heikelsten Aufgaben haben die Streithähne Kiir und Machar noch zu lösen: Erstens müssen sie ihre bis aufs Blut verfeindeten Truppen – insgesamt 38.000 Männer – zu einer nationalen Armee vereinen. Zweitens müssen sie ihre eigene Raffgier bändigen. Eigentlich ist der Südsudan dank seiner Erdölvorkommen ein reiches Land, doch bisher fließen die Erträge nur auf die Konten der Politiker. Mit dem Geld bezahlen sie ihre Truppen, ihre Geländewagen und ihre Villen im Nachbarland Kenia. Es heißt, die Anwesen von Herrn Kiir und Herrn Machar in Nairobis Bonzenviertel stünden nur wenige hundert Meter voneinander entfernt.

Erst wenn dem Zynismus Grenzen gesetzt werden, hat der Frieden eine Chance: Das ist die Lehre beim Blick auf das arme Land 5.500 Kilometer südlich von uns.


CDU-Noch-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer will heute die Gremien über ihre Gespräche mit den Nachfolgekandidaten Röttgen, Merz, Laschet und Spahn berichten. In der Partei mehren sich Stimmen, die statt der Hinterzimmerkungelei eine Mitgliederbefragung fordern.

Nach dem rassistischen Anschlag in Hanau lädt Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) zu einem Runden Tisch der Religionen ein.

Der hessische Landtag erhält eine Petition, die fast 30.000 Bürger unterzeichnet haben. Sie fordern die sofortige Freigabe der Akten zur Terrorgruppe NSU. Vor allem die dubiose Rolle des Verfassungsschutzes soll neu beleuchtet werden. Warum das so wichtig ist, erfahren Sie in dem Interview, das NSU-Aufklärer Clemens Binninger uns vor einiger Zeit gegeben hat.

In London beginnen die Anhörungen zum US-Auslieferungsantrag für WikiLeaks-Gründer Julian Assange. Er hatte der Whistleblowerin Chelsea Manning geholfen, amerikanische Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan bekannt zu machen. Bei einer Verurteilung drohen Assange bis zu 175 Jahre Haft.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht Kenia. In seinen Gesprächen dürfte es auch um die Krise im Südsudan gehen.


WAS LESEN?

Rücken, Nacken, Wechseljahre: "Tatort"-Kommissarin Ulrike Folkerts gewöhnt sich mit 58 Jahren so langsam ans Älterwerden. Mit meiner Kollegin Janna Halbroth hat sie über Seniorenteller, Botox und starke Frauen gesprochen.


Nach dem Anschlag in Hanau weist die AfD jede Mitverantwortung für das Erstarken von Hass und Rassismus von sich. "Doch kann niemand mehr die Augen davor verschließen, dass diese Partei die völkische Aufwiegelung zum Geschäftsmodell gemacht hat", schreibt "FAZ"-Herausgeber Berthold Kohler.


WAS AMÜSIERT MICH?

Selbst wenn man ganz dicke Muskeln und ganz viel Kraft hat, muss man manchmal einsehen: Andere sind einfach stärker.

Ich wünsche Ihnen einen richtig starken Tag. Morgen schreibt mein Kollege Luis Reiß den Tagesanbruch, mich lesen Sie am Mittwoch wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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