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Coronavirus: Kontaktsperre – Wie es jetzt weitergehen kann


Was heute wichtig ist
Kontaktsperre: Wie es jetzt weitergehen kann

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 14.04.2020Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Polizist mit Atemmaske bei der Grenzkontrolle in Weil am Rhein.Vergrößern des Bildes
Polizist mit Atemmaske bei der Grenzkontrolle in Weil am Rhein. (Quelle: Patrick Seeger/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hoffentlich haben Sie sonnige Ostertage genossen und ein wenig Abstand vom Virenwirbel gewonnen. Diese Woche entscheidet, wie es in Corona-Deutschland weitergeht. Hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Man müsse den Laden eigentlich ganz anders aufziehen, befand vor 2300 Jahren der Philosoph Plato in seinem Werk über den Staat. Wenn nicht sein eigener Berufsstand weise die Geschicke der Menschen lenke, werde es kein Ende haben mit dem Übel für Staaten und Menschheit. Naja, die Idee hob nicht so richtig ab. Knapp zweieinhalb Jahrtausende später haben Philosophen im Politikbetrieb nix zu melden, aber immerhin wird gelegentlich die Weisheit von Experten hervorgekramt – vor allem, wenn es eng wird mit dem Handlungsspielraum und ein bisschen kompliziert. Beraten dürfen die Weisen unserer Tage, Gutachten verfassen auch. Aber das schwierige Geschäft des Entscheidens bleibt jenen vorbehalten, die wir ins Amt gewählt haben – und das mit gutem Grund. Denn ihre Expertise erhebt die Professoren keinesfalls in hehre Sphären der Objektivität, frei von Meinung und weltlicher Fehlbarkeit. Die Perspektive der Spezialisten klebt ebenso dicht am Boden wie die ihrer fachlich weniger ausgebufften Artgenossen.

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Daran dürfen wir uns kurz erinnern, wenn wir nun das Werk des wissenschaftlichen Gremiums aufschlagen, das unter dem ehrwürdigen Namen der Leopoldina zusammenkommt. Die nationale Akademie der Wissenschaften hat auf siebzehn Seiten Handlungsempfehlungen notiert, die uns den Weg aus der Corona-Krise weisen sollen. Wenn die Bundeskanzlerin am Mittwoch mit den Ministerpräsidenten über mögliche Lockerungen der Kontaktsperre berät, wird das Dokument eine wichtige Rolle spielen. Die Öffnung von Geschäften, Restaurants und Behörden stellen die Experten in Aussicht, den Start des Schulbetriebs "sobald wie irgend möglich". Dienstreisen, Urlaubsreisen: Demnächst alles wieder drin. Kultur- und Sportveranstaltungen? Geht klar. Nach und nach natürlich. Aber kommt.

Natürlich geht es nicht schnurstracks in den gewohnten Alltag zurück. Das Wörtchen "schrittweise" kommt im Schnitt einmal pro Seite vor, "allmählich" soll es vorangehen und "differenziert" muss es sein, wobei die Pandemie das Leben in Deutschland "auf Monate bestimmen wird". Gesichtsmasken, vor zwei Monaten noch als asiatische Marotte verpönt, kommt nun eine Schlüsselrolle zu, um das Ansteckungsrisiko in vertretbaren Maßen zu halten. Ein niedriges Niveau der Infektionen ist ohnehin Voraussetzung für jede Lockerung. Und wenn wir beim Händewaschen und Abstandhalten anfangen zu schlampen, schreiben uns die Professoren hinter die Ohren, dann ist die Party ganz schnell wieder vorbei.

Aber die Risiken und Nebenwirkungen der deutschlandweiten Radikalkur sind jetzt in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Schluss müsse sein, finden die Professoren, mit der verengten Perspektive, die "allein auf das Ziel der Eindämmung der Pandemie" ausgerichtet ist. Eine Gesamtabwägung müsse her, das Gebot der Verhältnismäßigkeit dürfe nicht einem "seuchenpolizeilichen Imperativ" geopfert werden. Anstelle der bisherigen, aus Zeitdruck "recht pauschal" verhängten Maßnahmen soll zielgenaues Eingreifen auf der Basis eines Epidemie-Wetterberichts treten: Simulationsmodelle, die von uns allen freiwillig per Smartphone-App mit "Datenspenden" gefüttert werden, sollen Voraussagen darüber ermöglichen, wo ein, zwei Wochen später örtliche Ausbrüche von Covid-19 zu erwarten sind. "Auch der Effekt einer Lockerung von Maßnahmen kann in verschiedenen Szenarien untersucht werden", freuen sich die Autoren.

Vertreter vieler Disziplinen haben an den Empfehlungen mitgearbeitet, die nun die Debatte über den Kurs in Deutschland prägen werden. Doch über jede Kritik erhaben sind sie deshalb nicht. Gelegentlich stellt sich bei der Lektüre der Eindruck ein, als hätten die Autoren hier und da die Bodenhaftung verloren. Umfassende "staatliche Maßnahmen" sollen selbständige Einzelkämpfer ebenso wie große Konzerne vor dem Bankrott bewahren und den gesamtwirtschaftlichen Kollaps verhindern – doch wünscht sich das Gremium, dabei möge man doch bitte die Gunst der Stunde nutzen und zugleich den Umbau zu nachhaltigerem, umwelt- und klimafreundlichem Wirtschaften vorantreiben. Regelmäßige Leser des Tagesanbruchs wissen, welch hohen Stellenwert ich der Bekämpfung der Klimakrise zuschreibe. Ob man aber, während man den Hausbrand bekämpft, die geplante Umgestaltung des Dachstuhls fest im Blick behalten kann – da bin ich mir nicht so sicher.

Auch beim Neustart des Schulunterrichts überkommen uns leise Zweifel, wenn die Expertengruppe als erstes Viertklässler einbestellen will, die im Klassenzimmer und drumherum bitte eisern Abstand voneinander halten sollen. Gewiss, nur 15 Schüler pro Klassenraum, eingeschränkter Unterricht, versetzte Pausenzeiten, all das soll sichergestellt werden. Trotzdem fragt man sich unwillkürlich, ob die Damen und Herren Professoren eigentlich schon mal eine real existierende Horde Grundschüler erlebt haben. Immerhin, vielleicht werden die Seifenspender auf den Schultoiletten ja in Zukunft öfter aufgefüllt. Und sogar repariert. Wär ja auch schon mal was.

Vor allem jedoch präsentiert uns die Leopoldina ein Ergebnisprotokoll, nicht eine Abwägung verschiedener Alternativen. Überhaupt keinen Raum erhält dagegen die bisher einzige Strategie, die im Umgang mit Covid-19 ein einigermaßen normales Alltagsleben ermöglicht und das in der Praxis auch tatsächlich schon bewiesen hat: Die Unterdrückung von Covid-19-Ausbrüchen sofort beim ersten Anzeichen wird in Südkorea und Taiwan erfolgreich praktiziert, erfordert aber, dass jede einzelne Infektionskette, Person für Person, nachverfolgt werden kann. Dazu ist die Reduzierung der Neuinfektionen auf nahezu null erforderlich. Die Leopoldina-Professoren hingegen wünschen sich lieber möglichst zeitnahe Lockerungen und sind bereit, dafür ein niedriges Restniveau der Ansteckungen in Kauf zu nehmen, das im Einzelfall nicht nachvollziehbar ist.

Statt auf die Unterdrückung von Covid-19 setzt die Expertengruppe auf dessen Eindämmung: darauf, die Epidemie nicht zu stoppen, sondern sie lediglich in leidlich geordnete Bahnen zu lenken. Zu dieser Strategie gab es, solange die Verbreitung des Virus in Deutschland außer Kontrolle war, keine Alternative. Angesichts des erfreulichen Rückgangs der beobachteten Neuinfektionen ist die Unterdrückung der Krankheit jedoch inzwischen auch bei uns keine Utopie mehr. Die asiatischen Staaten setzen darauf, in Europa hat dagegen die bloße Eindämmung von Covid-19 Konjunktur. Das erlaubt eine schnellere Lockerung für die Ungeduldigen, erfordert im Gegenzug aber permanente Einschränkungen über die gesamte Dauer der Epidemie. Monatelang, vielleicht jahrelang. Es fordert mehr Opfer. Und es betritt Neuland, was die Risiken dieses Weges nur schwer kalkulierbar macht.

Fazit: Die Vorschläge der Professoren sind nicht alternativlos, und die Alternativen gehören auf den Tisch. Deshalb ist es gut, dass die Entscheidung in der Demokratie eine politische ist – nicht die der Philosophen.


WAS STEHT AN?

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Wechseln wir also in die Politik. Aber bitte nicht zu bieder. Sind die Zeiten düster, kann der Humor uns den Weg erleuchten. Und was könnte launiger sein, als sich über die Mächtigen zu mokieren? Stellen wir uns also heute Morgen einen Moment lang die bundesrepublikanische Politik als Komödienstadel vor und werfen wir einen nicht ganz ernst gemeinten Blick auf diese Szenerie:

Da sehen wir zunächst den Jens, der sich sogleich in die Mitte der Bühne stellt. Da gehört er nämlich hin, findet er, und diese Corona-Sache hat ihm nun endlich die Gelegenheit dazu gegeben. Vor einigen Wochen meinte er noch, dass niemand sich wegen dieser seltsamen Krankheit aus dem fernen China sorgen müsse. Als sie sich dann leider doch besorgniserregend schnell verbreitete, bekundete der Jens, dass das wirklich besorgniserregend sei. Altbekannte Mängel im Gesundheitswesen (zu wenig Schutzmaterial, zu wenig Fachpfleger, zu schlechte Bezahlung, zu viel Profit- und zu wenig Patientenorientierung) weiß der Jens geflissentlich zu überspielen, indem er in vielen Pressekonferenzen und vielen Interviews viele Sätze über das große Ganze sagt, die im Großen und Ganzen sicher nicht falsch sind. Das hat den Vorteil, dass sich später nur noch wenige an die kleinen Sätze erinnern werden, die er kurzerhand in Gesetze schreiben lassen wollte und die wohl leider nicht nur falsch, sondern auch schädlich sind. Urteile wie "herbe Enttäuschung", "eine Farce" und "fataler politischer Fehler" wird man daher nur von Fachleuten, eher nicht von einfachen Wählern hören. Und um die geht es dem Jens ja vor allem, schließlich will er noch ganz lange in der Mitte der Bühne stehen.

Das will allerdings auch der Armin aus Düsseldorf, der mit pastoraler Gravität und vor Selbstbeweihräucherung bebender Stimme vorträgt, was ihm sein Spin Doctor Nathanael Liminski aufgeschrieben hat, um den Chef zurück ins Rampenlicht (und zurück ins Rennen um den CDU-Vorsitz) zu bringen: Gesundheit und Wirtschaft sind beide wichtIG! Die AusgangsbeschränkungEN zügIG lockERN! Natürlich vorsichtIG! Immer verantwortungsvoll handELN! Und immer die letzte SilbE betonEN! So omnipräsent ist der Armin (beziehungsweise der Nathanael) mit diesem Choral der Selbstverständlichkeiten, dass ihm niemand widersprechen mag. Aber hinterher wird es heißen: Ja, der Armin, der hat Mumm gezeigt.

Den will aber eigentlich der Markus für sich gepachtet haben, unten in Bayern, wo er jeden Tag auf die Bühne drängt. Mit ernstem Blick legt er die Stirn in Sorgenfalten, weil das gut zur Landesvaterrolle passt, und überlegt, wie er den gemütlichen Armin, der plötzlich gar nicht mehr so gemütlich wirkt, aus dem Scheinwerferlicht zurück in die Kulissen schieben kann. In dieser Disziplin macht ihm nämlich keiner was vor, davon können schon andere Verflossene ein Lied singen, der Horst zum Beispiel. Also hat der Markus in seiner Osteransprache ein Loblied auf den Markus und dessen entschlossenes Krisenmanagement gesungen und nun ebenfalls eine Lockerung der Kontaktsperre herbeigeraunt: "Es gibt Bereiche, da kann es schneller gehen…" Soll keiner sagen, dass nur der Armin den Laden auflockern kann!

Ebenfalls recht locker zeigt sich auch der Horst, wer wollte es ihm vergällen? Nach monatelangem Stimmungstief hat er endlich die Chance erhalten, wieder Oberwasser zu bekommen, entsprechend eifrig strampelt er sich ab und müht sich redlich, 50 Flüchtlingskinder aus dem Elend der griechischen Lager zu erretten. Die restlichen 42.000 Elenden mögen bitte selbst sehen, wo sie bleiben.

Wer ebenfalls gerne nachsieht, wo er selbst bleibt, das ist der Olaf. Nach seiner Niederlage im aufreibenden Fight mit den Hinterbänklern Saskia und Norbert um den Parteivorsitz war er bei seinen Genossen eigentlich schon durch – aber dank Corona schnuppert er nun als Krisenmanager Morgenluft und riecht die Chance, doch noch was zu werden. Kanzlerkandidat zum Beispiel.

Womit wir bei der Angela wären, denn noch sitzt die ja im Kanzleramt. Eigentlich wollte sie nichts mehr werden und ihre letzten beiden Jahre im Amt gemütlich mit Europa- und Außenpolitik aussitzen – nun wird sie auf den letzten Metern doch noch mal gebraucht. Als oberste Trostspenderin der Nation und besonnene Lenkerin der Landesgeschicke verkörpert sie jene empathische Autorität, nach der sich nun so viele Bürger sehnen. In einem Land mit eher wenigen Autoritäten ist der wohlwollende Eintrag in die Geschichtsbücher also schon geritzt. Am Ende ist im Rampenlicht nämlich nur Platz für Eine.

Und die Moral von der Geschicht‘? Wir stehen amüsiert und sehn betroffen: den Vorhang zu und alle Fragen offen.


WAS LESEN?

"Wir reden hier über Störungen epischen Ausmaßes!": Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze beschreibt die Corona-Krise in drastischen Worten. Im Gespräch mit unserem Zeitgeschichtsredakteur Marc von Lüpke erklärt Tooze, der so genau wie kein anderer Wissenschaftler die Finanzkrise 2008 erforscht hat, welche gravierenden Fehler Deutschland gerade macht, warum die Finanzwelt schneller auf die Hiobsbotschaften aus China reagiert hat als die Politiker – und warum sich Europa nun eine große Chance bietet.


Seriöse Medien klären umfassend und ausgewogen über die Pandemie auf – doch sie erreichen zum Teil viel weniger Leser und Zuschauer als selbsternannte Experten, die im Internet Halbwahrheiten verbreiten. Eine Analyse des NDR zeigt, wie erschreckend viele Menschen den Corona-Mythen aufsitzen.


Angehörige von Verstorbenen sind von der Krise besonders betroffen. Der Bestatter Eric Wrede hat meiner Kollegin Melanie Muschong erzählt, was er in diesen Tagen auf Friedhöfen erlebt – und weshalb er sich nun auch mal absichtlich verzählt.


In der Corona-Krise geht es buchstäblich um Leben und Tod, Politik und Gesellschaft stehen vor gewaltigen Entscheidungen. Im Interview mit unserem Reporter Johannes Bebermeier erklärt der Chef des deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, worauf wir alle jetzt unbedingt achten sollten.


WAS AMÜSIERT MICH?

Es heißt, der Hund sei der beste Freund des Menschen. Ich hatte da bislang meine Zweifel, aber nun bin ich kuriert.

Ich wünsche Ihnen einen sportlichen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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