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Corona und Angela Merkel: Verliert die Politik die Kontrolle über die Lage?


Was heute wichtig ist
Corona-Gefahr: Hier wird unser Grundrecht verletzt

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 22.04.2020Lesedauer: 7 Min.
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
In Berlin ist man nun gern wieder gesellig und pfeift auf die Kontaktsperre-Regeln.Vergrößern des Bildes
In Berlin ist man nun gern wieder gesellig und pfeift auf die Kontaktsperre-Regeln. (Quelle: Lutz Jäkel)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Sonnenschein, gute Laune, endlich raus aus der Bude! Wer sich in deutschen Innenstädten umsieht, kann die Szenerie vielerorts kaum mehr von normalen Zeiten unterscheiden: Da wird gejoggt, geshoppt, geklönt und gesonnt, gerne auch in Gruppen. Wer wochenlang zu Hause saß, darf nun endlich in die Einkaufsmeilen drängen, um sich neue Turnschuhe/Blumentöpfe/Badelatschen oder sonstigen Firlefanz zu gönnen. Man hat es in der Konsumwüste ja kaum ausgehalten. Atemberaubend, wie schnell viele Bürger die Lockerung der Kontaktsperre als Freibrief für die grenzenlose Freiheit missverstehen. "Trotz der schrittweisen Öffnung von Schulen und Geschäften wächst der Unmut in der Bevölkerung und die Ungeduld vieler Unternehmer: Vielen geht das alles zu langsam", berichten meine Kollegen Tim Blumenstein und Tim Kummert.

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Das kann man angesichts der anhaltenden Virusgefahr riskant finden, aber schuld sind die Bürger sicher nicht allein. Die Fahrlässigkeit, mit der die Ministerpräsidenten binnen weniger Tage ein bundesweites Regelwirrwarr angerichtet haben, könnte dereinst, wenn die Corona-Krise in den Geschichtsbüchern aufgearbeitet wird, als historischer Fehler vermerkt werden. Heute nennen sie es fröhlich Föderalismus, später werden sie es Verhängnis nennen. Die Besonnenheit zu Beginn der Corona-Krise beginnt der Ignoranz zu weichen, das dürfte kaum zu einem glücklichen Ende gereichen. Jedes Bundesland macht seine eigenen Regeln, aber eingehalten werden sie vielerorts eh nicht mehr. Ich spiele ungern die Kassandra, und ich lasse mich auch gern verlachen, sollte sich diese Warnung später als falscher Alarm entpuppen. Dann dürfen sich meinethalben auch jene E-Mail-Schreiber, die mir "sentimentales Geschwafel" vorwerfen, im Recht fühlen. Hier geht es nicht ums Rechthaben. Hier geht es um ein Grundrecht: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." Grundgesetz, Artikel zwei. Solange wir den Eindruck haben, dass politische Fehlentscheidungen und unsolidarisches Verhalten auf Kosten der Gesundheit vieler Menschen gehen, müssen wir den Finger heben.


WAS STEHT AN?

Geschichte wiederholt sich nicht, aber Parallelen gibt es schon. In diesen krisengeschüttelten Tagen wird Angela Merkel für ihren besonnenen Kurs sehr gelobt. Da werden Erinnerungen an ein anderes Krisenjahr wach: Die große Mehrheit der Bevölkerung stand schon einmal geschlossen hinter der Kanzlerin. Im Spätsommer 2015 war es, als sie eine Richtungsentscheidung traf und Tausende Opfer des syrischen Bürgerkriegs in Deutschland einreisen ließ. Frau Merkel hatte den Nerv der Nation getroffen: Bürger aus allen Teilen der Gesellschaft versammelten sich an den Bahnsteigen, um die Ankömmlinge mit Applaus zu begrüßen und zu helfen, wo es nur ging. Ein Jahr später: Pegida brüllte auf den Plätzen, vielen Helfern drehte sich der Kopf nach den sexuellen Übergriffen der Silvesternacht und Gewalttaten einzelner Flüchtlinge. Die Verwaltung kämpfte mit dem Chaos, die Antragsstapel im Bundesamt für Migration machten dem Mittelgebirge Konkurrenz. Auf Angela Merkel, eben noch gefeiert, prasselte die Kritik von allen Seiten ein. So schnell kann es gehen in Krisenzeiten.

Auch in der gegenwärtigen Krise wirft die Zukunft ihren Schatten voraus. Noch wird die Bundesregierung für ihren Corona-Kurs mit Lob überschüttet. Vorsichtig tasten sich Frau Merkel und ihre Minister durch die Krise, trotz der Kritik am Regelchaos der Bundesländer ist der Beifall verdient. Aber man muss sich gar nicht weit aus dem Fenster lehnen, um vorherzusagen, dass die Stimmung im Land bald kippen könnte. Aus zwei Gründen.

Zum einen sind die Schreihälse der Politik zwar im Moment noch vom Platz verbannt, aber sie laufen sich am Spielfeldrand schon mal warm. Die AfD konnte mit ihrem Versuch, sich von den übrigen Parteien abzugrenzen, bisher nicht punkten. Die Parteispitze ziert sich noch, Fraktion und Basis sind allerdings schon weiter. Wer sich als einzige Alternative profilieren will, muss eben immer etwas hinausposaunen, was niemand sonst über die Lippen bringt: Alles übertrieben mit diesem Lockdown! Das Coronavirus ist nicht schlimmer als die Grippe! Bloß ein Trick der Regierung, um eine dubiose Agenda durchzudrücken! Der gewohnte Mix aus verdrehten Fakten und kruden Verschwörungstheorien, in dem viele Aufwiegler wieder einmal ihre Chance sehen, hat in der breiten Öffentlichkeit zwar noch nicht gefruchtet – doch er zieht auf Facebook, Whatsapp, Youtube und Co. immer größere Kreise. Und die amerikanischen Konzerne winken das Meiste davon durch, sie verdienen ja prächtig daran. Dieser Schund wird früher oder später bei vielen Bürgern verfangen, die ersten Anzeichen sehen wir bereits. Etwa an den Millionen Klicks auf Verschwörungsvideos oder an den Troll-Attacken auf den Berliner Charité-Virologen Christian Drosten. Populisten leben vom Riss in der Gesellschaft, deshalb haben sie nun auch in der Corona-Krise mit dem Ziehen und Zerren angefangen.

Die Saat in den sozialen Medien allein dürfte trotzdem kaum genügen, um die breite Solidarität der Bevölkerung mit einer Welle der Missgunst zu unterspülen. Den Zusammenhalt wirklich zu Fall bringen kann erst die Täuschung, die wir selbst uns stricken. Auch dafür hat das Flüchtlingsjahr 2015 die Blaupause geliefert: Euphorisch waren die meisten Bürger damals und zufrieden mit sich selbst, weil sie anständig gehandelt hatten. Aber ungetrübt war das Hochgefühl nicht. In der Begeisterung und Selbstlosigkeit schwang eine heimliche Hoffnung mit: Wer das Richtige tue, der werde dafür vom Leben belohnt. Aber so kam es nicht, natürlich nicht. Das Leben hat niemals nur eine Farbe. Erst nach und nach begriffen viele, dass Deutschland nicht nur dankbaren und friedliebenden Flüchtlingen Zuflucht gewährt hatte; auch traumatisierte Menschen zählten zu den Neuankömmlingen. Junge Männer, deren Seele im syrischen Bombenhagel zerbrochen war oder die aus der Ignoranz der Europäer den Schluss zogen, dass Gleiches nur mit Gleichem zu vergelten sei: Da ihr uns jahrelang unter Krieg und Terror leiden ließet, tragen wir nun eben den Terror zu euch. Auch das war eine Folge des Krisenjahres 2015, und viele Bürger machten sich das noch nicht hinreichend klar, als sie begeistert an den Bahnsteigen standen. Umso böser war das Erwachen: Paris, Nizza, Brüssel, Hannover, Essen, Berlin, Würzburg, Ansbach, Straßburg, Hamburg, London, die Liste der Anschlagsorte lässt sich lange fortsetzen, und die vereitelten Attacken sind noch gar nicht mitgezählt.

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Und die Parallele zur Gegenwart? In der Corona-Krise haben sich bis vor wenigen Tagen die meisten Bürger an die Kontaktsperre-Regeln gehalten, Rücksicht genommen und einander stolz auf die Schulter geklopft: Sind wir nicht vorbildlich diszipliniert? Wieder ist der Enthusiasmus berechtigt, und wieder lassen wir dabei außer Acht, dass das Leben deshalb nicht freundlicher zu uns sein wird. Kaum jemand macht sich derzeit wirklich klar, was noch auf uns zukommt. Wir werden um einschneidende Maßnahmen gegen diese Pandemie nicht herumkommen, wohl viele Monate lang. Andernfalls kehrt Covid-19 mit Wucht zurück. Die harten Einschnitte in unseren Alltag retten uns vielleicht vor der Gesundheitskatastrophe (wenn alle sich an die Regeln halten). Aber bitter bezahlen müssen wir trotzdem.

Ebenso wie den meisten Staaten Europas steht auch Deutschland voraussichtlich eine Rezession ins Haus, wie wir sie bisher noch nicht gekannt haben. Viele Menschen werden ihre Arbeit verlieren, noch mehr einen erheblichen Teil ihres Wohlstands. Der Staat, der den Schaden mit Milliardensummen mildert, wird ärmer sein als zuvor. EU-Länder wie Spanien, Italien und Frankreich, die von der Seuche noch härter getroffen werden und in deren Staatskassen ohnehin Ebbe herrscht, werden noch viel länger brauchen, um sich aufzurappeln. Diese Krise nach der Krise in unseren Partnerländern kann auch die exportabhängige deutsche Wirtschaft wie Blei hinabziehen.

Sobald die bittere Wahrheit des Wohlstandsverlusts – der verlorene Arbeitsplatz, die geschrumpften Ersparnisse, die gekündigte Wohnung, der abgesagte Urlaub, die gekürzte Rente – uns zu Bewusstsein kommt, werden die Jubelgesänge auf den umsichtigen Kurs der Kanzlerin enden. Dann wird vielen Menschen der Frust aus jeder Pore rieseln und als fruchtbarer Humus die Parolen der Populisten sprießen lassen. Schuldzuweisungen und Vorwürfe wird es geben, und natürlich haben es dann alle immer schon gewusst.

So könnte sie aussehen, die Zukunft. Eine düstere Vorhersage. Warum sollten wir sie trotz aller Zuversicht ernst nehmen, und zwar hier und jetzt? Weil die Landung auf dem Boden der Tatsachen dann weniger hart sein wird und die Macht der Populisten nicht so bedrohlich wächst. Die Stimmung in Deutschland braucht nicht zu kippen. Nicht, wenn wir die Erwartungen an ein schnelles Ende des Corona-Schlamassels jetzt dämpfen. Und der Krise mit stoischem Gleichmut begegnen statt mit falschen Hoffnungen.


Der Top-Virologe Jonas Schmidt-Chanasit warnt davor, das Coronavirus zu unterschätzen: "Es ist absolut gefährlich", sagt er im t-online.de-Podcast "Tonspur Wissen". Bisher gebe es keine Hinweise, dass sich die Ausbreitung "irgendwie verlangsamen würde oder die Menschen weniger krank werden". Er dämpft die Hoffnung auf schnelle Erfolge beim Impfstoff ("frühestens nächstes Jahr – wenn überhaupt") und benennt die Probleme bei der Suche nach Medikamenten ("klar ist, dass diese Medikamente erst mal in den USA eingesetzt werden"). Entsprechend nüchtern fällt sein Fazit aus: "Wir müssen jetzt mit diesem Virus leben."


Gesundheitsminister Jens Spahn und Verkehrsminister Andreas Scheuer müssen sich heute einer Regierungsbefragung im Bundestag stellen. Bei Ersterem kann man sich eine Antwort auf die Frage erhoffen, warum er nicht früher Millionen Gesichtsmasken für die Bevölkerung bestellt hat, bei Letzterem wundert man sich, dass er überhaupt noch da ist.


Am Abend überlegen CDU, CSU und SPD im Koalitionsausschuss, wie sie das Geld für Kurzarbeiter, Kommunen und Bafög-Studenten weiter aufstocken und Gastronomen einen Teil der Steuern erlassen können. Die Corona-Krise wird teurer und teurer.


WAS LESEN?

Wirtschaftsminister haben in der Krise keine Macht. Aber sie haben eine Aufgabe: Sie müssen den wirtschaftspolitischen Kompass im Blick behalten. Warum tut Wirtschaftsminister Peter Altmaier das nicht?, fragt sich unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld.


Ein Wildtiermarkt in Wuhan oder doch ein chinesisches Hochsicherheitslabor: Wo nahm das Coronavirus wirklich seinen Ursprung? Es gibt die Theorie einer menschengemachten Biowaffe, doch Forscher finden immer mehr Belege, die dagegen sprechen. Unsere Gesundheitsredakteurin Nicole Sagener klärt Sie auf.


Die Krankheit Covid-19 befällt die Lunge: Kurzatmigkeit, Husten und Erstickungsgefühle können Folgen sein – aber längst nicht die einzigen. Meine Kolleginnen Lara Schlick und Sandra Sperling zeigen Ihnen anhand von 3D-Aufnahmen, was das Virus in der Lunge anrichtet.


Noch immer setzen Millionen Deutsche auf eine Lebensversicherung, obwohl die Zinsen seit Jahren sinken. Die Corona-Krise dürfte die Erträge weiter schmälern – oder? Der Chef der Versicherung R+V, Norbert Rollinger, hat sich den Fragen meiner Kollegen Florian Schmidt und Mauritius Kloft gestellt.


WAS AMÜSIERT MICH?

Können Sie den Corona-Frust mancher Gastronomen nachvollziehen? Ich schon.

Ich wünsche Ihnen einen erbaulichen Tag. Bitte bleiben Sie wehrhaft gegen das Virus. Und gegen das Gift der Populisten.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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