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Tagesanbruch: Das Geheimnis der Corona-Superspreader


Was heute wichtig ist
Das Geheimnis der Superspreader

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.05.2020Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Nach einem Gottesdienst der Evangeliums-Christen-Baptisten in Frankfurt am Main haben sich mehr als 100 Menschen mit dem Coronavirus infiziert.Vergrößern des Bildes
Nach einem Gottesdienst der Evangeliums-Christen-Baptisten in Frankfurt am Main haben sich mehr als 100 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. (Quelle: Arne Dedert/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Die Autoindustrie rühmt sich, Deutschlands wichtigster Wirtschaftszweig zu sein. Mehr als 830.000 Menschen verdienen bei VW, Audi, Daimler, BMW und Co. ihre Brötchen. Rechnet man die Zulieferer und die Mitarbeiter in Autohäusern, Tankstellen, Werkstätten und anderen Dienstleistern hinzu, sind es mehr als 1,8 Millionen Menschen. Die Bosse der Konzerne verweisen gerne auf diese Zahlen, vor allem dann, wenn sie Minister, Abgeordnete oder das Kanzleramt mit einem Besuch beehren. Jahrelang haben sie es fertiggebracht, dass ihre Branche mit Samthandschuhen angefasst und mit Steuerzucker gepäppelt worden ist. Darüber mag man sich empören, wenn man für den Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club arbeitet oder mit Fridays for Future auf die Straßen geht. Man kann diesen Lobbyismus im Namen von Beschäftigten und Aktionären aber auch als Ausdruck gesellschaftlicher Mitbestimmung betrachten. Solange die Entscheider im Berliner Regierungsviertel nicht nur einem, sondern unterschiedlichen Einflüsterern ihr Ohr schenken und sich dann ein unabhängiges Urteil bilden, ist Lobbyismus legitim. Sogar anrüchige Wechsel wie jenen des CDU-Politikers Eckart von Klaeden, der unbelastet von moralischen Skrupeln den Staatsministerstuhl im Bundeskanzleramt mit dem Sessel des Daimler-Cheflobbyisten tauschte, hat die deutsche Demokratie verkraftet. Aber Spuren haben all die Besuche und Manöver schon hinterlassen. Die Autoleute genossen ihre wachsende Macht. Wenn ein Winterkorn oder ein Zetsche von der eigenen Bedeutung schwärmte, war schnell klar, wen die Bosse für die wahren Lenker des Landes hielten.

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Macht jedoch macht träge und manchmal macht sie auch kriminell. Die deutschen Autofürsten gefielen sich so sehr zwischen ihren glänzenden Karossen, dass sie gar nicht bemerkten, wie sich die Welt veränderte. Wie das gesellschaftliche Umweltbewusstsein wuchs und der Trend zur Nachhaltigkeit entstand, wie die Digitaltechnik vorangaloppierte und wie eine kleine Firma aus Kalifornien mit der Erfindung eines E-Mobils binnen weniger Jahre den Weltmarkt eroberte. Mehr als vier Jahre Entwicklungsvorsprung hat Tesla heute vor VW, Audi und Daimler, in den Zyklen der Autoindustrie eine halbe Ewigkeit. Den versuchen sie nun in Wolfsburg, Ingolstadt und Stuttgart mit Milliardeninvestitionen aufzuholen, aber sie tun sich schwer dabei. Das liegt erstens daran, dass es viel schwieriger ist, einen Öltanker bei voller Fahrt umzurüsten, als ein neues Schnellboot zu bauen. Und zweitens daran, dass die deutschen Konzerne bleischwer an ihrer kriminellen Vergangenheit zu tragen haben. Nach Strich und Faden haben sie ihre Kunden betrogen, indem sie betrügerische Software in ihre Dieselwagen schraubten. Die Kaltblütigkeit und Arroganz, mit der die Autobosse versuchten, die Verantwortung für ihre Machenschaften abzuwälzen, zählt zu den größten Unverschämtheiten der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Vor wenigen Tagen kaufte der VW-Konzern seine Chefs mit einer Millionensumme frei. Zeitgleich klingeln die Auto-Lobbyisten im Kanzleramt Sturm, um die geplante Corona-Abwrackprämie auf ihre Spritschluckermodelle auszudehnen – offenbar mit Erfolg.

All das muss man wissen, um das gestrige Urteil des Bundesgerichtshofs einordnen zu können. Seine Bedeutung ist kaum zu überschätzen. Wozu Politiker nicht imstande waren, das haben die Richter geschafft: Sie haben den Autofürsten das Einmaleins des Rechtsstaats vorbuchstabiert und ihnen die Grenzen ihrer Macht aufgezeigt. Millionen Käufer manipulierter Dieselautos haben grundsätzlich Anspruch auf Schadenersatz; sie können ihren Wagen zurückgeben und den Kaufpreis teilweise zurückverlangen: Das ist das Ergebnis des Karlsruher Urteils (hier mehr zu den Details). Aber seine Botschaft reicht noch darüber hinaus: Ein einzelner Dieselfahrer – und damit potenziell jeder Bürger – hat in unserem Staat dieselben Rechte wie ein mächtiger Autofürst, und wenn seine Ansprüche verletzt werden, dann verhilft ihm die Justiz zu seinem Recht. Was beim ersten Hören selbstverständlich klingt, entpuppt sich beim zweiten als Lobgesang auf unsere Demokratie. In einer Welt, in der rücksichtslose Autokratien ihre Macht ausdehnen und sich viele multinationale Konzerne nicht um ihre gesellschaftliche Verantwortung scheren, hält die deutsche Justiz die Fackel der Rechtsstaatlichkeit und der Bürgerrechte hoch.

"Sittenwidrig" habe sich der VW-Konzern gegenüber dem klagenden Kunden verhalten: Die Wortwahl der Richter ist eine schallende Ohrfeige für die Automanager. Sie wird lange nachhallen. Hoffen wir, dass nicht nur in Wolfsburg, sondern auch in Stuttgart und Ingolstadt jeder sie hört.


WAS STEHT AN?

Es ist gar nicht so leicht, ein Feuer in Gang zu bringen. Ein paar Streichhölzer brechen eh immer ab. Mal glimmen endlich die Späne, dann sind sie wieder aus. Aber wenn es an ein, zwei Stellen ordentlich flackert, stehen plötzlich auch die dicken Scheite in Flammen. Allerdings kann es auch anders enden: mit einem kleinen Stapel verkohltem Anzünder und kaltem Holz. Wir basteln uns allerlei Metaphern, wenn wir uns vorstellen, wie ein kleines, neues Virus einen weltweiten Flächenbrand entfacht. Der manchmal schleppende Start eines Kaminfeuers gehört normalerweise nicht dazu. Inzwischen glauben wir, uns bei Covid-19 vor allem mit der Restglut zu befassen. Herr Laschet in NRW doktert schon länger an den angeblich zu strengen Brandschutzvorschriften herum. Herr Ramelow in Thüringen will nun sogar seinen Feuerlöscher verhökern. Vielleicht lassen sich so ja ein paar der Wähler zurückgewinnen, die früher seiner Linkspartei anhingen, aber nun die AfD bevorzugen?

Wobei man eingestehen muss: In der Fläche Deutschlands scheint der Friede wieder eingekehrt zu sein. Die Infektionsraten sind niedrig. In Mecklenburg-Vorpommern ist die Pandemie noch gar nie richtig angekommen. Zugleich schrecken uns plötzliche Ausbrüche auf. Im Landkreis Leer: mehr als 20 Infektionen aus dem Nichts, als Folge eines Restaurantbesuchs. In Frankfurt: mehr als 100 Angesteckte nach einem Gottesdienst. Mancherorts muss das Gesundheitsamt zur Stelle sein wie die Feuerwehr, während die Kollegen an der Ostsee allmählich anfangen können, ihre Stifte auf dem Schreibtisch nach Größe und Farbe zu sortieren. Dieses seltsame Nebeneinander beschäftigt auch die Wissenschaft. Nicht als Widerspruch. Sondern als zwei Seiten derselben Medaille.

Gelegentlich zündet das Virus mit einer Wucht, die uns das Fürchten lehrt. Ein hochbetagter Herr im chinesischen Harbin steckte binnen weniger Tage 78 Personen an. In New York verteilte ein Anwalt das Virus an mehr als 50 Menschen. Südkoreas Hauptstadt Seoul erzitterte angesichts eines Partygängers, der an einem Abend mehr als 100 Personen infizierte. Alle diese Fälle erzählen dieselbe Geschichte: In manchen Episoden verbreitet sich das Virus explosionsartig – aber eben nur in manchen. Warum das so ist, wissen wir leider noch nicht. Dennoch lohnt es sich, festzustellen: Die meisten Infizierten geben das Virus offenbar gar nicht oder höchstens an eine Person weiter. Die wenigen, die übrig bleiben, sorgen dafür umso dramatischer für die weitere Verbreitung, weshalb man sie als Superspreader bezeichnet.

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Das würde auch erklären, warum sich das Virus zunächst ohne erkennbares Muster ausbreitete. In alle Welt wurde es aus Wuhan exportiert, doch die meisten dieser Exkursionen dürften im Sande verlaufen sein. Aber hier und da hat der Funke bei Ankunft gezündet, im Iran, in Italien, mit verheerenden Folgen. Wenn das Virus neue Regionen erobert – oder, wie in Deutschland, nach dem Niederringen der Pandemie wieder aufflackert –, dann ist dabei der Zufall kräftig mit im Spiel. Ob im ostfriesischen Leer oder doch einmal auf Rügen, kann vorher niemand sagen.

Doch es ist nicht alles dem Zufall überlassen. Denn auch für das Virus gilt: Gelegenheit macht Diebe. Auch huckepack auf einem Superspreader kann sich das Virus nicht in neue Orte hineinstehlen, wenn sich der ahnungslose Gehilfe an die Kontaktsperre hält und seine Zeit vorwiegend zu Hause auf dem Sofa verbringt. In fröhlicher Runde im Restaurant oder nach dem Gottesdienst hingegen? Wir wissen: All das ist inzwischen erlaubt, und meist gehen solche Events glimpflich über die Bühne. Aber am Tag, an dem der Superspreader vorbeikommt – nichts ahnend, bei anscheinend bester Gesundheit –, brennt anschließend die Hütte.

Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass zurzeit nur vereinzelt die Flammen hochschlagen, während sich im Rest der Republik die Ereignislosigkeit breitmacht. Das müsste uns nicht weiter aus der Ruhe bringen, wenn die Forscher nicht noch eine weitere Erkenntnis lieferten. Denn Modellrechnungen zeigen: Schon wenige Superspreader- Ereignisse, die nicht rechtzeitig entdeckt werden, können genügen, um die Epidemie wieder zum Großfeuer anzufachen. Wenn Covid-19 in Deutschland erneut an Kraft gewinnt, dürfen wir uns das demnach nicht als allmähliche, flächendeckende Zunahme von Krankheitsfällen vorstellen, sondern als Häufung örtlicher, heftiger Ereignisse.

Was dagegen hilft? Erstens konsequentes Einhalten der Vorsichtsregeln: mindestens anderthalb Meter Abstand, Mundschutz in der Öffentlichkeit, Hygiene. Zweitens beständige Wachsamkeit. Drittens den Erreger seiner besten Chancen berauben. Gruppen in Gaststätten, Veranstaltungen, die Chorprobe: So sehen die Anlässe aus, die in epidemiologischen Untersuchungen in einem Atemzug mit großen Ausbrüchen genannt werden. Meistens geht das Feiern, Essen und Singen gut. Aber irgendwann eben nicht. Dann merkt sogar Herr Ramelow in Thüringen, dass er dem Frieden besser nicht getraut hätte. Aber der Feuerlöscher ist ja schon so gut wie verkauft.


Apropos Feuerlöscher: Thüringens Regierungskabinett berät heute, ob es Herrn Ramelow beim weitgehenden Verzicht auf landesweite Corona-Schutzvorschriften folgen will. Auch das Kabinett in Brandenburg befasst sich mit weiteren Öffnungen. Der Berliner Senat dito. Der Wettbewerb "Wer ist das lockerste Bundesland?" geht also weiter.

Das Bundesverfassungsgericht verkündet sein Urteil zur Altersversorgung geschiedener Frauen. Es geht um die Ansprüche aus Betriebsrenten nach einer Scheidung.


Nicholas Burns zählt zu Amerikas erfahrensten Diplomaten. Unter Präsident George W. Bush diente er als Nato-Botschafter, anschließend im Außenministerium. Nun berät er Donald Trumps wahrscheinlichen Herausforderer Joe Biden – und rechnet im t-online.de-Interview mit der US-Außenpolitik in der Corona-Krise ab: "Wir erleben die erste große internationale Krise seit 75 Jahren, in der sich die USA entschieden haben, nicht zu führen", wettert er im Gespräch mit unserem Washington-Korrespondenten Fabian Reinbold. "Auch unsere Verbündeten in Europa glauben nicht, dass wir führen." Den Umgang mit Angela Merkel kritisiert er scharf: "Für mich ist es, ehrlich gesagt, peinlich, wie oft sich Präsident Trump unhöflich gegenüber Kanzlerin Merkel verhalten hat." Sollte Trump in der Wahl im Herbst unterliegen, stellt Burns eine Aufwertung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses in Aussicht: "Deutschland muss wieder der unerlässliche Partner Amerikas werden." Was er außerdem über Deutschland, China und das globale Ringen sagt, lesen Sie hier.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Jonas Schmidt-Chanasit zählt zu den führenden deutschen Virologen. In unserem Videoformat "Frag mich" stellt er sich ein weiteres Mal den Fragen unserer Leserinnen und Leser und erklärt unter anderem, wie sich Familien jetzt verhalten sollten und wie lange Coronaviren in einer Gesichtsmaske haften bleiben.


Man kann seriösen Journalismus betreiben. Dann berichtet man differenziert über Stärken und Schwächen wissenschaftlicher Studien, etwa zum Übertragungsrisiko des Coronavirus durch Kinder. Oder man betreibt Aktivismus. Dann sucht man Einzelstimmen, die zur eigenen Meinung passen, und setzt Studienautoren wie den Berliner Charité-Virologen Christian Drosten unter Druck, weil der Dinge sagt, die einem nicht passen. Ein bemerkenswertes Beispiel für den als Journalismus verkleideten Aktivismus liefert uns ein Reporter der "Bild"-Zeitung.


"Das richtige Spiel zum perfekten Zeitpunkt – für beide Mannschaften": So beschreibt unser Kolumnist Stefan Effenberg das Duell um die Meisterschaft zwischen dem Tabellenzweiten Borussia Dortmund und dem Ersten aus München, das Sie heute Abend ab 18.30 Uhr im Liveticker auf t-online.de verfolgen können. Er seziert die Chancen der Rivalen und stellt sechs Thesen zu den besten deutschen Klubs auf.


WAS AMÜSIERT MICH?

Selbsterkenntnis soll ja helfen.


Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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