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Empörung über Stuttgart-Randale: Die Phrasen der Politiker bleiben dieselben


Was heute wichtig ist
Absurde deutsche Rituale

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 23.06.2020Lesedauer: 8 Min.
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Bundesinnenminister Seehofer (rechts) macht sich mit Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Kretschmann und Innenminister Strobl ein Bild nach den Krawallen in Stuttgart.Vergrößern des Bildes
Bundesinnenminister Seehofer (rechts) macht sich mit Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Kretschmann und Innenminister Strobl ein Bild nach den Krawallen in Stuttgart. (Quelle: imago images)

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Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Rituale können etwas Beruhigendes haben: Man ahnt, was da kommt, man labt sich am gemeinsamen Ritus und fühlt sich hinterher stärker. Deutsche Rituale entsprechen leider oft dem Gegenteil, zumindest in der politisch-medialen Öffentlichkeit: Sie stiften Unruhe, schüren Verwirrung und manchmal auch Vorurteile, sie entzweien die Bürger. Dennoch werden sie von einigen Akteuren gern und ausgiebig gepflegt.

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Ein besonders beliebtes Ritual ist das der demonstrativen Empörung. Vorgeführt bekommen wir es im Nachgang der Randale-Nacht von Stuttgart. Zugedröhnte Jugendliche, die in Corona-Zeiten mangels Diskos und Clubs im Freien feiern, hatten dort nach einer Polizeikontrolle nichts Besseres zu tun, als Geschäfte zu demolieren, Beamte anzugreifen, Verwüstung anzurichten: Nicht nur für das biedere Landeshauptstädtle war der plötzliche Gewaltausbruch ein Schock, sondern auch für viele Bürger im Rest des Landes. Selbstverständlich müssen die Gewalttäter ermittelt und bestraft werden, so wie sich das in einem Rechtsstaat gehört und wie das in aller Regel in Deutschland auch geschieht. In Stuttgart erwägen die Behörden nun außerdem, auf öffentlichen Plätzen in der Innenstadt ein Alkoholverbot zu verhängen. Bedenkenswert.

Bedenklich ist hingegen das Ritual, das schon wenige Stunden nach der Randale einsetzte und gestern den lieben langen Tag durch die sozialen Netzwerke, Boulevardmedien und den Politikbetrieb waberte: Jeder, der etwas auf sich hält, beeilte sich, Gott und die Welt seiner Empörung zu versichern. Der Ablauf entsprach einem wohlbekannten Muster:

Zunächst greifen einzelne Aktivisten und Journalisten Fotos und Videos aus der Tatnacht in den sozialen Medien auf und verbreiten sie mit gepfefferten Kommentaren. Auf Instagram, Twitter und Facebook teilen sich dann schnell die Fronten: Das rechtskonservative Lager von "Cicero" und "Neue Zürcher Zeitung" bis zu Friedrich Merz und Hans-Georg Maaßen will schon immer gewusst haben, dass der deutsche Staat seine Sicherheitsmacht viel zu lasch durchsetzt. Das linksliberale Lager von der Linkspartei über die Grünen bis zur SPD-Vorsitzenden Saskia Esken fühlt sich dem Generalverdacht der Verharmlosung von Gewalt gegen Polizisten ausgesetzt und verurteilt die Taten umso eindringlicher. Überhaupt fühlt sich jede und jeder bemüßigt, ganz dringend in jedes Mikrofon zu sagen, dass diese abscheulichen Gewalttaten zu verurteilen seien und "mit der ganzen Härte des Gesetzes" geahndet werden müssten. Ob Kommunalpolitiker, Fraktionsvorsitzende, Bundesminister oder Bundespräsident: Die Absender wechseln, die Phrasen bleiben dieselben.

Gern werden dabei allerhand Bezüge bemüht, um die Empörung zu unterstreichen. Findet man keine naheliegenden, zieht man eben welche an den Haaren herbei. Zum Beispiel, indem man einen ziemlich dämlichen Meinungsbeitrag aus einem ziemlich kleinen Nischenblatt wie der "tageszeitung" (Auflage: 49.000 Exemplare) an die bundesweite Glocke hängt. Darin schlug die Autorin vor, Polizisten auf der "Mülldeponie" zu entsorgen. Ob es sich dabei um eine missratene Satire oder um einen menschenverachtenden Kommentar handelt: Die Meinungen gehen sogar in der "taz"-Redaktion auseinander. Tatsächlich kann man so ein Textchen wahlweise verdammen oder mit Nichtbeachtung strafen, als Beleg für generelle polizeifeindliche Tendenzen in der Öffentlichkeit taugt es nicht.

Wohl aber als Zunder für das Feuer öffentlicher Rituale. Nachdem die "FAZ" die "taz" an den Pranger gestellt hatte, konfrontierte die "Bild" Horst Seehofer mit dem Artikel. Prompt sprang der Innenminister über das Stöckchen und kündigte an, die linke Journalistin zu verklagen. Als er sah, welche Welle er damit auslöste – Eilmeldungen, noch mehr Twitter-Gebrabbel, aufgeregte Leitartikel –, ruderte er zurück und tat kund, sich erst mit seinen Juristen beraten zu wollen. Die hätten ihm allerdings schon früher sagen können, dass die inkriminierte Formulierung höchstwahrscheinlich durch die Pressefreiheit gedeckt ist.

Was wieder einmal auffällt: wie verschreckt manche Spitzenpolitiker auf die Mechanismen des öffentlichen Erregungszirkus reagieren. Aus der Kölner Silvesternacht 2015/16 haben sie die Lehre gezogen, lieber zu schnell als zu langsam zu kommentieren, um Medien und den Hitzköpfen auf Twitter, Facebook und Co. keinen Vorwand für den Vorwurf der Untätigkeit zu liefern. Also sagen sie lieber ganz schnell ganz viel, im Zweifel auch, ohne ihre Worte durchs Hirn zu schleusen, bevor sie sie aus dem Mund entlassen. So lassen sie sich treiben – auch der Innenminister, der im Übrigen mit zweierlei Maß misst: Während Herr Seehofer die missratene Glosse zu einem Fall von bundesweiter Relevanz adelt, gelingt es seinen Strafverfolgungsbehörden bis heute nicht, Hetze, Verleumdungen und Morddrohungen im Internet konsequent zu ahnden.

Und die Moral von der Geschicht? Selbstverständlich brauchen Polizisten die Rückendeckung des Staates. Besonnene Politiker, die erst denken und dann reden, werden allerdings von allen Bürgern gebraucht. Absurde Rituale dagegen braucht niemand.


WAS STEHT AN?

Lassen Sie uns kurz die Lage betrachten: Wir stecken in einer Pandemie, der Wirtschaft geht es mies, so weit sind sich alle einig. Wie wäre es, wenn wir da mal ein paar ordentliche Handelsbarrieren einziehen und kräftige Zölle aufschlagen? Vielleicht noch ein Chaos unausgegorener bürokratischer Regeln obendrauf? Und am besten möglichst schlagartig? Gut, Sie finden das möglicherweise haarsträubend, aber ich sage nur eines: Brexit.

Auf den Tag genau vier Jahre liegt das epochale britische Referendum heute zurück. Angesichts des tiefen Grabens in der Bevölkerung, jahrelanger Blockade und politischer Selbstzerfleischung im britischen Parlament grenzt es an ein Wunder, dass Großbritannien und die EU inzwischen einen Deal zustande gebracht haben: das Brexit-Abkommen. Es regelt allerdings nur, was der Bagger mit der Abrissbirne alles zu Klump hauen soll. Ob auf den Trümmern ein neuer Zweckbau entsteht, der die Briten und die übrigen Europäer wenigstens unter einem schlichten Dach zusammenbringt, darüber wird im gemeinsamen Konstruktionsbüro noch heftig gestritten. Bestenfalls wird es eine Lagerhalle sein, in der man ohne große Umstände die Kartons der Europa GmbH in die Regale der Insulaner Ltd. verfrachten kann und umgekehrt. Die Konstrukteure der Lagerhalle schauen gelegentlich vom Reißbrett auf, um zu beteuern, wie sehr ihnen an einem gemeinsamen Umschlagplatz gelegen sei. Und wie hart sie um einen Entwurf ringen, der nicht gleich in sich zusammenfällt. Dann zerreißen sie schnell die Bauzeichnung des Gegenübers.

Am kommenden Dienstag läuft wieder einmal eine Deadline für den Konstruktionsfortschritt ab. Was soll’s, könnte man meinen – das Verpuffen von Fristen ist beim Bau und beim Brexit ja Routine. Chefplaner Boris Johnson allerdings will die Zeit bis zur Vollendung eines Handelsabkommens nicht verlängern, obwohl es ein Leichtes wäre, die Verzögerung mit der Corona-Krise zu rechtfertigen. Das Verschieben und Vertagen war das Markenzeichen seiner gescheiterten Vorgängerin Theresa May. In deren Fußstapfen treten? Gäbe kein gutes Bild ab.

Wie jeder waschechte Populist wird auch Herr Johnson nicht von Prinzipien und Überzeugungen getrieben, sondern von der Suche nach einer vorteilhaften Optik. Jede Lösung ist denkbar, wenn sie (und er) dabei gut aussieht. Davon geleitet, hat er während der Brexit-Verhandlungsschlingerfahrt im vergangenen Herbst das Ruder in letzter Minute herumgerissen. Das Ergebnis: das Brexit-Abkommen mit der EU. Der Effekt: Herr Johnson stand als strahlender Überraschungssieger da. Es wäre aber falsch, darauf zu setzen, die Gelenkigkeit des Londoner Vorturners werde auch jetzt wieder einen unerwarteten Kompromiss ermöglichen, wenn es um die künftigen Beziehungen geht. Denn es sind andere Probleme als der Deal mit der EU, um die der Premier sich gegenwärtig herumschlängeln muss. Die Radikalen vom rechten Rand laufen gegen seine Corona-Auflagen Sturm und machen zugleich gegen Zugeständnisse an die EU mobil. Viele Briten hat der Schlingerkurs des Premiers in der Pandemie verstört. Er braucht dringend einen Erfolg – aber dieser Erfolg muss nicht unbedingt das versöhnliche Ende im Brexit-Epos sein.

Aber kämen dann nicht doch die Zölle und Schlagbäume zurück? Es stimmt: Die britische Wirtschaft steuert durch Covid-19 auf eine schlimme Rezession zu, und ein hartes Ausscheiden Großbritanniens aus der EU setzt noch einmal kräftig einen drauf. Andererseits: Scheitert der Deal, kann sich Herr Johnson als Prinzipienreiter gebärden – als derjenige, der den Brexit entschlossen durchgezogen hat. Und das wirtschaftliche Desaster? Fällt im Pandemie-Schlamassel kaum noch auf. Lässt sich auf das böse Virus schieben. Ein Ausstieg ohne Abkommen wäre schlecht für Europa und schlimm für die Briten. Aber eine Chance für Boris Johnson bietet er auch.


Vor der Corona-Pandemie schien sich Peter Altmaiers Karriere dem Ende zuzuneigen: Als der bayerische Ministerpräsident Markus Söder im Januar eine Kabinettsumbildung verlangte, glaubten manche bereits, der Wirtschaftsminister müsse bald seinen Sessel räumen. Doch in der Corona-Krise erstarkt der CDU-Mann. Er verhandelt milliardenschwere Hilfen für Unternehmen, kämpft um Arbeitsplätze und organisiert Geld für die Impfstoffforschung. Woraus schöpft er seine neue Kraft? Meine Kollegen Florian Schmidt und Tim Kummert haben den Wirtschaftsminister zu seiner Krisenstrategie befragt.


Eigentlich wollte Innenminister Horst Seehofer (CSU) heute den Verfassungsschutzbericht vorstellen. Gestern Abend ließ er den Termin kurzfristig absagen. Im politischen Berlin rätselt man nun, ob das etwas mit seiner angekündigten Anzeige gegen die "taz"-Journalistin zu tun hat. Auch die blieb bisher aus.

Die Wirtschaftsweisen der führenden Forschungsinstitute geben ihre Konjunkturprognose für 2020 und 2021 ab. Dürfte düster ausfallen.

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WAS LESEN?

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