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EU-Gipfel in Brüssel: Die Ergebnisse sind ein Rückschlag für Angela Merkel


Was heute wichtig ist
Die Geschichte von den sieben Zwergen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 21.07.2020Lesedauer: 7 Min.
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Pedro Sánchez, Emmanuel Macron und Angela Merkel mit Unterhändlern im Brüsseler Verhandlungspoker.Vergrößern des Bildes
Pedro Sánchez, Emmanuel Macron und Angela Merkel mit Unterhändlern im Brüsseler Verhandlungspoker. (Quelle: John Thys/Pool/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

vielen Dank, dass Sie dem Tagesanbruch und meinen Kollegen in den vergangenen Wochen treu geblieben sind. Ich habe mich unterdessen bemüht, hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen ein wenig Abstand vom politischen Trubel zu bekommen. Hat geklappt. Umso mehr freue ich mich, für Sie nun wieder die Ereignisse in Deutschland und der Welt kommentieren zu dürfen. Zum Auftakt bleiben wir aber noch einen Moment bei den sieben Zwergen.

WAS WAR?

Europa will ein Riese sein: das erfolgreichste, wohlhabendste und einflussreichste Staatenbündnis der Welt. Die EU "fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten", steht im Vertrag über die Europäische Union. Doch damit ist es nicht mehr weit her, heute kommen die EU-Vertreter mehrheitlich als selbstsüchtige Zwerge daher. Auf dem ersten Gipfeltreffen in Brüssel seit Monaten, auf dem die 27 Staats- und Regierungschefs sich endlich wieder ohne Videoschalte in die Augen schauen und gegenseitig ins Gewissen reden konnten, stand formal der Aufbauplan zur Bewältigung der Corona-Krise und der Finanzrahmen bis 2027 auf der Agenda. De facto ging es um viel mehr: um die Frage, ob die Allianz noch die Kraft hat, ihre Zukunft selbst zu gestalten, statt ihren schleichenden Niedergang zu verwalten.

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Heute morgen dann die Meldung: Die Einigung auf ein billionenschweres Corona-Paket steht – nach viertägigem Verhandlungspoker. Schon als gestern Abend die Eilmeldung von einer Teileinigung auf den Smartphones bimmelte, klingelte das Aber sofort hinterher: Weitere wichtige Fragen noch offen. Nur ein erster Schritt. Schaler Kompromiss. Giftige Stimmung zwischen den Verhandlern. Dieser sauer und jener düpiert. Die Antwort der EU auf die größte Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten droht durch nationale Feilscherei zerlegt zu werden. Statt 500 soll das Corona-Hilfspaket nun nur 390 Milliarden Euro an Zuschüssen beinhalten, hinzu kommen 360 Milliarden Euro an Krediten. Ein paar Zahlen hin oder her? Mitnichten. Der Streit übers Geld offenbart schonungsloser als je zuvor, dass am Brüsseler Verhandlungstisch inzwischen ziemlich viele Damen und Herren sitzen, die nicht der Glaube an gemeinsame Prinzipien zusammenschweißt, sondern die vor allem Egoismus antreibt. Der niederländische Premier Mark Rutte sprach es frank und frei aus: "Jeder macht hier Geschäfte für sein eigenes Land." Das gelingt dem einen besser und dem anderen schlechter, und mancher scheint gar nicht zu merken, wie sein Einfluss und seine Stellung schrumpfen. Viele der EU-Chefs sind allenfalls noch Scheinriesen. Eher sind sie sogar Zwerge. Sieben, um genau zu sein:

Der erste Zwerg ist Ratspräsident Charles Michel, der eigentlich konstruktive Kompromisse schmieden soll, aber ein ums andere Mal von den Regierungschefs zurechtgestutzt worden ist. Unter dem Druck knickte er früh ein, was sowohl die sparsamen Länder um Österreich und die Niederlande als auch Ungarn und Polen ermunterte, immer neue Forderungen zu stellen. Ihm fehlt zum erfolgreichen Schlichter nicht nur die Erfahrung, sondern offenbar auch die Kaltschnäuzigkeit und das Machtbewusstsein seines Vorgängers Donald Tusk.

Zweitens Ursula von der Leyen: Auch sie ist längst nicht so groß, wie sie sich als EU-Kommissionspräsidentin selbst sieht. Überbordendes Ego oder Ungeschicktheit? Jedenfalls liefert sie sich mit Ratspräsident Michel Konkurrenzkämpfchen, statt sich mit ihm die Bälle zuzuspielen und die Länderchefs so zu besseren Ergebnissen zu treiben.

Drittens Viktor Orbán und viertens Mateusz Morawiecki: Die Ministerpräsidenten Ungarns und Polens treten europäische Prinzipien mit Füßen und kommen als moralische Zwerge daher. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Pressefreiheit sind im Jahr 2020 in der EU keine Selbstverständlichkeit mehr, sie werden von Semiautokraten zermürbt. Dass auf einem Brüsseler Gipfel überhaupt darüber verhandelt werden muss, ist an sich schon ein Skandal. Eigentlich dürften Regierungen, die demokratische Grundregeln derart eklatant verletzen, keinen einzigen Cent mehr aus dem EU-Haushalt bekommen – so lange, bis die Normen wiederhergestellt sind.

Das fand fünftens früher auch mal Emmanuel Macron, aber heute ist er längst nicht mehr der Überflieger, als der er einst gestartet ist. Die Gelbwestenproteste, die Implosion seiner En-Marche-Bewegung und die Corona-Krise haben ihm die Flügel gestutzt. Sein Wort hat in Brüssel nicht mehr das entscheidende Gewicht, das einem französischen Präsidenten eigentlich zusteht, da mag er noch so oft auf den Tisch hauen.

Und Angela Merkel? Fast erschreckend zu sehen, wie rapide die Bundeskanzlerin an europäischem Gewicht verliert. Auch sie zählt in Brüssel plötzlich zu den Zwergen. Ihr gemeinsam mit Herrn Macron präsentierter Vorschlag, der Zuschüsse von 500 Milliarden Euro für die Corona-gebeutelten Mitgliedstaaten vorsah, ist in den Verhandlungsmühlen zerhäckselt worden – und als Ratspräsidentin konnte sie ihn nicht vehement verteidigen, sondern musste auf alle Kritiker Rücksicht nehmen. Nachdem die viel beschworene Achse Berlin–Paris dank Corona endlich zu funktionieren begann, ist sie prompt von einem neuen Kräftebündnis ausgekontert worden: Plötzlich geben die "sparsamen Chefs" aus den Niederlanden, Österreich und Nordeuropa den Takt vor. Nun rächt sich, dass Merkel ihren Vorstoß zwar mit Macron und von der Leyen abstimmte, aber nicht mit den anderen Geberländern, die wie Deutschland mehr in den EU-Topf einzahlen, als sie herausbekommen. Wer aber zahlt, der will wissen, was mit seinem Geld geschieht – und sicherstellen, dass es nicht in Bürokratie oder Schlamperei versickert: Diese Lektion haben Mark Rutte und Sebastian Kurz ihre Kollegen Angela Merkel und Emmanuel Macron gelehrt.

Sind also der Premier aus Den Haag und der Kanzler aus Wien die neuen europäischen Riesen? Nein. Durch Beharrlichkeit, taktisches Geschick und eine Prise Frechheit haben sie es geschafft, für ihre Länder großzügige Rabatte herauszuschlagen, während sie Spanien und Italien die Daumenschrauben anlegten und zugleich Ungarn und Polen an den Pranger stellten. Als Druckmittel forderten sie, die Geldvergabe an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu knüpfen. Was eigentlich ein richtiger Gedanke ist, wirkt fragwürdig, wenn er als taktischer Kniff eingesetzt wird, um den eigenen Vorteil zu mehren. Entsprechend schwammig lesen sich die Kompromisszeichen, die nach Mitternacht in Brüssel kursierten. Ungarische Medien feierten sie prompt als Sieg für Viktor Orbán. So schicken sich die Niederlande und Österreich an, in der EU die Rolle der ausgeschiedenen Briten einzunehmen: Was zählt schon das große Ganze? Jeder macht Geschäfte für sein eigenes Land.

Kurzfristig können sich Herr Kurz, Herr Rutte und ihre nordeuropäischen Mitstreiter an ihrem Erfolg erfreuen. Doch ewig wird er nicht währen, weshalb sie sich schon bald in der Rolle des siebten Zwergs wiederfinden könnten. Sie müssen fortan mit dem Risiko leben, dass die Süd- und Osteuropäer es ihnen bei nächstbester Gelegenheit heimzahlen: Wie du mir, so ich dir. Für die großen Zukunftsaufgaben Europas sind das keine guten Aussichten. Das Ringen mit China, den USA und Russland, mit Internetkonzernen und Steueroasen, die Herausforderungen durch Flucht und Migration, die dringend notwendige Bildungs- und Digitalisierungsoffensive, der Kampf gegen den Klimawandel und der Einsatz für eine nachhaltige Wirtschaft: All das wird nun nicht leichter. Und die nächste Krise kommt bestimmt. Dass Europa dann geeinter und stärker dasteht als heute, ist nach diesem Brüsseler Verhandlungsmarathon unwahrscheinlich. Geld kann eben nicht jedes Problem lösen. Wie war das: "Die EU fördert die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten"? Schön wär’s!


WAS STEHT AN?

In Magdeburg beginnt der Prozess zum rechtsterroristischen Anschlag in Halle. Der 28-jährige Attentäter hatte am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht, in der dortigen Synagoge ein Blutbad anzurichten. Als es ihm nicht gelang, in das Gotteshaus einzudringen, erschoss er auf der Straße eine Frau und in einem Döner-Imbiss einen Mann. In den Polizeivernehmungen hat er keinerlei Reue gezeigt, sondern bedauert, dass es ihm nicht gelang, noch mehr Menschen zu töten. Ein Gutachter hat ihm zwar eine Persönlichkeitsstörung, aber auch volle Schuldfähigkeit bescheinigt. Demnach handelte der Mann aus Antisemitismus, Menschenverachtung und Hass. "Der Prozess wird vermutlich der weltweit am meisten beachtete seit dem Verfahren gegen die rechtsradikale Mörderbande NSU sein", schreibt Annette Ramelsberger, Gerichtsreporterin der "Süddeutschen Zeitung". Ihre Berichterstattung sollte man in den kommenden Wochen verfolgen.

In Wiesbaden befasst sich der Innenausschuss des hessischen Landtags mit den rechtsextremistischen Droh-E-Mails gegen Frauen mit Migrationshintergrund. Daten der Betroffenen waren von einem Polizeicomputer abgerufen worden. Innenminister Peter Beuth (CDU) muss sich kritischen Fragen nach möglichen Extremisten in der Polizei stellen.

In London treffen sich die Unterhändler der EU und Großbritanniens, um ein weiteres Mal über das geplante Anschlussabkommen zu verhandeln. Es geht nur zäh voran, und die Zeit bis Jahresende wird immer knapper.

In Washington hält US-Verteidigungsminister Mark Esper eine Rede zur Sicherheit im Indopazifik-Raum. Die Nachrichtenagenturen behandeln das Thema nur unter ferner liefen. Trotzdem ist es wichtig: Das US-Militär will den immer vehementeren Einfluss Chinas eindämmen. Hier zeichnen sich die Krisen von morgen ab.

Heute vor 30 Jahren führte Roger Waters von Pink Floyd gemeinsam mit weiteren Rockröhren die Oper "The Wall" am Potsdamer Platz auf. Mit mehr als 200.000 Besuchern war es nicht nur eines der größten Spektakel in der Geschichte der Rockmusik, sondern auch das einzige Konzert, das gleichzeitig in zwei Staaten stattfand: der BRD und der DDR (die Bühne stand genau auf der Grenze). Aufnahmen von damals verursachen mir immer noch Gänsehaut.


WAS LESEN, HÖREN, SEHEN?

Heute mache ich es kurz: Das beste Hörbuch, das ich im Urlaub genossen habe, ist Yuval Noah Hararis kenntnis- und erkenntnisreiche "Kurze Geschichte der Menschheit". Nun weiß ich endlich, wo wir alle herkommen und warum wir aufpassen müssen, nicht zu Halbcomputern zu mutieren. Sehr gern gelesen habe ich das Buch "Die Chinesen" von Stefan Baron und Guangyan Yin-Baron. Nun sehe ich das wohl mächtigste Volk der Erde mit neuen Augen. Gelauscht habe ich dabei John Coltranes flauschigen "Ballads". Und als ich ein wenig Abwechslung von Wissen und Flausch brauchte, habe ich mir Hal Hartleys herrlich skurrilen Film "Simple Men" aus der amerikanischen Provinz endlich wieder einmal angesehen.


WAS AMÜSIERT MICH?

Das ist eben der Unterschied zwischen Journalisten und Karikaturisten: Die einen brauchen viele Worte, den anderen genügen ein Bild und ein Satz. Chapeau, Mario!

Ich wünsche Ihnen einen kurzweiligen Tag. Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
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Mit Material von dpa.

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