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Öffnung von Schulen: ein akutes Corona-Risiko für Deutschland?


Kann das gut gehen?

Von Florian Harms

Aktualisiert am 04.08.2020Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Corona-Forschungslabor an der Universität Hannover.Vergrößern des Bildes
Corona-Forschungslabor an der Universität Hannover. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Zeichen der Hoffnung sind rar in diesen Zeiten. Fast die ganze Welt wird vom Coronavirus heimgesucht, doch Italien hat es besonders hart getroffen. Überfüllte Kliniken, mehr als 35.000 Tote, monatelanges Ausgangsverbot, und nun auch noch ein Wirtschaftseinbruch von mehr als zwölf Prozent haben das Land gezeichnet. Inzwischen ist das Leben wieder angelaufen, behutsam tasten sich die Bürger in den Alltag zurück. Die Angst vor der Seuche bleibt gleichwohl groß, besonders in Oberitalien. Anders als hierzulande tragen viele Bürger auch im Freien eine Maske, halten penibel Abstand zu den Mitmenschen, befolgen die Ansagen der Behörden. Das Parlament hat den Ausnahmezustand bis Mitte Oktober verlängert: Man will vorbereitet sein, falls die zweite Welle kommt. Das Virus hat die italienische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert – aber es hat ihr zugleich eine große Chance eröffnet.

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Schon lange vor der Corona-Krise galt Italien als der kranke Mann Europas. Horrende Staatsschulden, wuchernde Bürokratie, Missmanagement, Vetternwirtschaft, politischer Stillstand und nicht zuletzt die Mafia lähmen das stolze Industrie- und Kulturland seit Jahrzehnten; manchem Beobachter gilt es gar als reformunfähig. Umso größer ist nun die Freude vieler Italiener über das spektakuläre Bauwerk, das gestern Abend eröffnet worden ist: Über die Hafenmetropole Genua schwingt sich nun wieder ein intakter Bogen aus Beton. Nüchtern betrachtet ist es eine Autobahnbrücke. De facto ist es viel mehr: Hoffnungszeichen, Aufbruchssignal, Zukunftsversprechen.

Vor rund zwei Jahren war die alte Morandi-Brücke eingestürzt, 43 Menschen starben, Genuas Hafen verlor eine seiner wichtigsten Verkehrsachsen, die Privatisierung der Autobahnen offenbarte sich als Debakel: Der Milliardärs-Clan Benetton hatte sich an den Mauteinnahmen gütlich getan, während er Straßen und Brücken vergammeln ließ. Das war das alte Italien. Das neue soll so aussehen: Der Staat hat den Clan aus dem Betrieb der Autobahnen herausgedrängt, und eintausend Arbeiter haben zehn Monate lang rund um die Uhr geschuftet, um eine neue Brücke zu errichten. Langwierige Ausschreibungen? Gab es nicht. Bürokratiestau? Im Gegenteil: Genuas Bürgermeister Marco Bucci achtete darauf, das mehr als 200 Millionen Euro teure Projekt nicht im Behörden-Kleinklein versanden zu lassen. Und zack, war er fertig, der neue Mammutbau.

Das zeigt: Wenn Italien wirklich will und sich anstrengt, kann es Großes leisten. Dann gelingt es, den Gordischen Knoten des Stillstands zu durchschlagen. So kann die neue Brücke in Genua zum Sinnbild werden: als Startpunkt für die Generalreform des ganzen Landes. Mehr als 81 Milliarden Euro an Zuschüssen und weitere 127 Milliarden Euro an Darlehen erhält Italien aus dem Corona-Hilfspaket der EU. Regierungschef Giuseppe Conte will den Geldsegen nutzen, um das Land von Grund auf zu sanieren: Autobahnen, Fernstraßen und öffentliche Gebäude renovieren. Schulen, Universitäten und Behörden digitalisieren. Bürokratie entschlacken, klimafreundliche Technologien fördern, die Korruption bekämpfen. "Aus einer Wunde, die nach wie vor nur schwer heilt, erhebt sich das Symbol eines neuen Italiens", verkündete Conte gestern mit Blick auf Genuas neues Wahrzeichen. Es ist unseren Freunden im Süden sehr zu wünschen, dass sie die Chance des Aufbruchs wirklich nutzen. Zu ihrem eigenen Wohle. Und dem ganz Europas.


WAS STEHT AN?

Das ist mal klare Kante: "Gerade eben erreichte mich aus einer deutschen Wochenzeitung, die sie alle kennen, die Nachricht: Schulschließungen sind extremst effektiv in der Pandemie. Ich würde gerne provokativ sagen: Wenn wir unseren Kindern schaden wollen, sind sie in der Tat effektiv." Diese Sätze sagt nicht irgendwer, sondern Wieland Kiess, federführender Wissenschaftler bei einer der größten deutschen Corona-Studien unter Schulkindern, durchgeführt in Sachsen. Der Mann muss es wissen.

Die aufrichtige Sorge über das Schicksal der jungen Generation war herauszuhören, als der Leipziger Professor die Ergebnisse seiner Studiengruppe referierte. Familien mit psychischen Vorerkrankungen, die an die Grenze zum Suizid geraten. Gähnende Leere in den Aufnahmestellen für misshandelte Kinder, weil niemand außerhalb der häuslichen Hölle die Misshandlungen mehr bemerkt. Abgehängte Kinder aus benachteiligten Bevölkerungsschichten. Zu Risiken und Nebenwirkungen des Lockdowns in Schulen gibt es vieles zu erzählen, das zwischen schlecht und schlimm rangiert.

Kaum ein Bereich der Corona-Regeln ist so umkämpft und emotional aufgeladen wie die Frage, in welchem Umfang Kinder in Schulen und Kindergärten zurückkehren. Dabei geht es längst nicht nur um das Wohl der Kleinen. Eingeschränkter Schulbetrieb oder gar geschlossene Schulen legen auch die Eltern an die Kette. Die gehen irgendwann zuhause auf dem Zahnfleisch, statt im Betrieb oder Büro ihr Einkommen und unser aller Bruttosozialprodukt zu erwirtschaften. Einschnitte im Bildungs- und Betreuungswesen treffen die deutsche Wohlstandsmaschinerie ins Mark.

Bildungspolitiker und Kultusminister werden deshalb nicht müde, die neue Vokabel vom "Regelbetrieb" zu beschwören, der Ordnung ins Corona-Chaos bringen und die Normalität an den Schulen wiederherstellen soll. Wie die in der Praxis aussieht? Das unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland, hat aber mit den zögerlichen Schulstartversuchen des Frühsommers nichts mehr gemein. Alle Kinder sollen kommen, dichtgedrängt wie eh und je. Abstandsregeln? Mehrheitlich keine – wie denn auch in dem Gewusel. Manche Bundesländer versuchen sich in der Trennung von "Kohorten", soll heißen, innerhalb eines Jahrgangs herrscht innige Nähe, die anderen Jahrgangsstufen mögen aber bitte auf Distanz bleiben. Von maximal 120 Kindern pro Kohorte spricht beispielsweise das Schulkonzept in Hamburg, wo es übermorgen wieder losgeht. Für die tägliche Corona-Party ist das bereits eine stattliche Größe.

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Kann das gutgehen? Ja, sagt Professor Kiess. "Im Mai, Juni waren Kinder in Sachsen kaum Träger von Antikörpern und nicht aktiv infiziert. Also, wer da über Schulschließungen reden will, den kann ich nicht verstehen." Tatsächlich tut das gegenwärtig auch keiner mehr. Vielmehr geht es darum, wie viel Schule wir uns leisten können, ohne die Reise in den zweiten Lockdown anzutreten. Zu dieser Frage haben die eigentlich erfreulichen Zahlen aus Sachsen allerdings nichts beizutragen. Im Erhebungszeitraum war Covid-19 dort bereits zur Strecke gebracht. Kein Wunder also, dass man keine akuten Infektionen fand, findet auch der Professor.

Also haben die Forscher per Antikörpertest zusätzlich nach zurückliegenden Infektionen gesucht, die aus der ersten großen Krankheitswelle hätten stammen können. Auch dabei haben sie kaum etwas gefunden: Nur 0,5 Prozent der Schüler und 0,8 Prozent der Lehrer waren positiv. Zum Vergleich: Eine bundesweite Studie unter Blutspendern fand ebenfalls nur bei 1,3 Prozent der Getesteten die Zeichen einer früheren Infektion. Die verbleibende Differenz zwischen Land und Bund ist erklärlich: Sachsen hat mit Covid-19 vergleichsweise wenig zu kämpfen gehabt. Die Zahlen belegen deshalb nur, dass Deutschland die Pandemie schnell und erfolgreich niedergerungen hat. Zum Risiko des regulären Schulbetriebs sagen sie: nichts. Die Schulen waren während der großen Welle, die so groß gar nicht war, sowieso geschlossen.

Um zu erfahren, was passiert, wenn man auf die Vorsicht in der Schule pfeift, müssen wir deshalb ins Ausland schauen. In Israel waren angesichts beneidenswert niedriger Infektionszahlen die Schulen schnell wieder auf – und ebenso schnell wieder dicht. Das Land kämpft inzwischen mit hohen Infektionsraten, selbst ein vollständiges Ausgangsverbot wird diskutiert. Aus den USA hören wir von vergleichbaren Rückfällen beim Versuch, die Kinder wieder die Schulbank drücken zu lassen. In einem einzigen Sommerferienlager wurden hunderte Kinder infiziert. Das klingt nicht gut.

Hierzulande behelfen sich die zuständigen Minister angesichts steigender Infektionszahlen mit Spontan-Ankündigungen einer schulischen Maskenpflicht, von der noch vor Wochenfrist keine Rede war. Doch Aktionismus ist kein Plan. Anstatt blindlings mit dem Regelbetrieb in die Vollen zu gehen, wäre ein stufenweises Herantasten, ein vorsichtiges Hochfahren des Unterrichts, die schrittweise Vergrößerung der Gruppen vermutlich sinnvoller. Denn von einem Rückschlag haben weder die Eltern noch die deutsche Wirtschaft etwas, von den Kindern und Jugendlichen ganz zu schweigen. Wir könnten uns zu Schulbeginn wohler fühlen, wenn die Kultusminister und Schulbehörden das getan hätten, was sie von ihren Schützlingen zu Recht verlangen: ihre Hausaufgaben.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Jean-Claude Juncker hat Zeit seines Lebens Politik gemacht – aber anders als andere Politiker: Der Ex-Chef der EU-Kommission beliebte auf Gipfeltreffen zu scherzen, herzte mit Inbrunst jeden, der nicht bei drei auf dem Baum war, schnorrte vor laufender Kamera Zigaretten und begrüßte einen Regierungschef als "Diktator". Zugleich konnte er knallhart verhandeln, wenn es darauf ankam. Donald Trump kann ein Lied davon singen (falls der singen kann). Heute ist es ruhiger um Juncker geworden – dabei hat er immer noch viel zu sagen: Er blickt voller Sorge auf Europa, weil jedes Land sich selbst das nächste ist. Wie sich das wieder ändern könnte, hat er meinen Kollegen Daniel Schreckenberg und Madeleine Janssen erklärt.


Keine Frage, die Corona-Hygieneregeln sind unbequem. Abstand halten, Maske tragen, Menschen meiden: Das kann ganz schön nerven, erst recht in der Urlaubszeit. Aber es ist nötig und ein Gebot der Rücksicht. Der Bundespräsident hat in einer eindringlichen Videobotschaft daran erinnert. "Die Sommerlaune tut uns allen gut. Doch sie darf nicht dazu führen, dass wir nachlässig werden im Kampf gegen die Pandemie", sagt Frank-Walter Steinmeier – und hat auch für leichtsinnige Demonstranten eine Botschaft: " "Die Verantwortungslosigkeit einiger weniger ist ein Risiko für uns alle!"


WAS AMÜSIERT MICH?

Schlagfertigkeit hat noch nie geschadet.

Ich wünsche Ihnen einen schlagfertigen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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