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"Schnauze voll" – Angela Merkels Regierung kämpft gegen den Kontrollverlust


Tagesanbruch
Kampf gegen den Kontrollverlust

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.02.2021Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Eine nachdenkliche Kanzlerin nach dem EU-Sondergipfel zur Corona-Lage.Vergrößern des Bildes
Eine nachdenkliche Kanzlerin nach dem EU-Sondergipfel zur Corona-Lage. (Quelle: John Macdougall/AFP Pool/dpa-bilder)

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WAS WAR?

Krisenmanagement in Corona-Zeiten ist ein permanenter Kampf gegen den Kontrollverlust: Die Infektionen dürfen nicht überhandnehmen, die Intensivstationen dürfen sich nicht zu schnell füllen, die Wirtschaft darf nicht zusammenbrechen, Senioren und Kinder dürfen nicht im Stich gelassen werden, die Stimmung in der Bevölkerung darf nicht kippen. Alles schwierig, aber Letzteres fürchten viele Politiker in diesen Tagen am meisten: Der Dauer-Lockdown nervt, die Sonne scheint, immer mehr Bürger nehmen es mit der Disziplin nicht mehr so genau. "Die Leute haben die Schnauze voll", schnauzt Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU).

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Der Haken ist: Dem Virus ist egal, was die Leute denken. Es mutiert, es verbreitet sich, solange nicht genügend Menschen ihren Piks bekommen haben. Das kann jeder verstehen, aber es will nicht mehr jeder hören – und viele Entscheider in Staatskanzleien und Ministerien wollen nach den langen Monaten des Warnens und Ermahnens nicht mehr als Oberlehrer auftreten, die den Bürgern täglich die Leviten lesen: Dies dürft ihr nicht und das kriegt ihr nicht!

Das ist sogar verständlich. Zur Aufgabe politischer Amtsträger gehört es, Gefahren von den Bürgern abzuwenden. Aber eben auch, Stimmungen in der Bevölkerung eine Stimme zu geben. Das tut Herr Bouffier mit seinem deftigen Satz, und das tut auch die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), die im Interview mit meinen Kollegen Johannes Bebermeier und Sven Böll schnelle Öffnungsschritte fordert: "Wir können eine Gesellschaft nicht dauerhaft abschließen."

Von Mainz bis Magdeburg, von Kiel bis Düsseldorf übertönen sich die Ministerpräsidenten nun gegenseitig mit Lockerungsforderungen. Gartencenter, Baumärkte, Musikschulen, Sporthallen: Der eine will dies aufmachen, der andere das, und am wichtigsten ist, dass jeder der Erste ist. Wer braucht schon einen fundierten Plan, wenn eine schöne Schlagzeile lockt? Jeder ruft seine jeweilige Forderung in die Mikrofone, nennt sie "Konzept" und hofft darauf, damit irgendwie durchzukommen. So entsteht statt Klarheit eine Kakofonie, die viele Bürger noch ratloser zurücklässt – genauso wie gegen Ende des ersten Lockdowns im vergangenen Jahr. "Niemand blickt mehr durch", kommentiert mein Kollege Patrick Diekmann. "Die Länder erarbeiten eigene Öffnungspläne – in der Hoffnung, dass sich auf Grundlage dieser Pläne beim nächsten Corona-Gipfel am 3. März eine gemeinsame Strategie finden lässt. Das bedeutet aber auch: Aktuell könnten Pläne verkündet werden, die dann auf dem Gipfel vielleicht wieder einkassiert werden. Maximal verwirrend."

Und maximal riskant. Denn wie immer, wenn alle durcheinanderreden, wächst der Druck auf die Führungsspitze – doch auch dort herrscht mehr Durcheinander als Klarheit: Das Kanzleramt kämpft gegen den Kontrollverlust. Die Lockerungsdebatte lässt sich kaum noch einfangen, wohl auch nicht mit drastischen Worten wie im vergangenen Frühjahr, als Angela Merkel vor "Öffnungsdiskussionsorgien" warnte. Deshalb beginnt die Kanzlerin nun vorsichtig vom Inzidenzwert 35 abzurücken, den sie bei ihrem letzten Treffen mit den Ministerpräsidenten als bundesweiten Zielwert festgelegt hatte. Politiker aus allen Parteien stoßen ins selbe Horn.

Die Argumente gehören allerdings eher in die Kategorie wackelig: Erstens seien nun ja immer mehr Menschen aus der Risikogruppe geimpft, vor allem Senioren und Vorerkrankte, also werde es absehbar auch weniger Covid-Patienten auf den Intensivstationen geben. Was die bislang wenig erforschten Virusmutationen anrichten können – auch unter Jüngeren – bleibt dabei unberücksichtigt. Es gibt Hinweise, dass sie nicht nur zu einer schnelleren Ansteckung, sondern auch zu gravierenderen Krankheitssymptomen führen können. Zweitens soll es ja bald Schnelltests geben. Wann es so weit ist, und zwar bundesweit, ist aber noch unklar, bis zum 3. März klappt es jedenfalls nicht. Auch hier: mehr Hoffnung als Planung.

Das kommt nicht von ungefähr. Selbst wenn man der Bundesregierung zugutehält, dass die Pandemie-Herausforderung historische Ausmaße hat, treten ihre Versäumnisse immer deutlicher zutage: Sie war gut im Runterfahren, aber sie ist nicht gut genug im Hochfahren. Sie brachte die Bürger dazu, monatelang harte Beschränkungen ihres Lebens zu akzeptieren. Aber sie patzt bei der Organisation der Gegenmittel. Sie hat zu spät auf medizinische Masken gesetzt, zu spät die Impfkampagne organisiert, zu spät den Vorteil von Schnelltests erkannt – und sich bei jedem neuen Schritt wochenlang im Zuständigkeitsgeflecht der Ministerien, Bundesländer und Behörden verheddert. In den Lockdown steckte sie viel Energie, in den Unlockdown zu wenig. Und nun verstrickt sich die Kanzlerin auch noch in einen Kompetenzkampf mit ihrem Gesundheitsminister. Es sind auch diese offensichtlichen Widersprüchlichkeiten, die immer mehr Menschen daran zweifeln lassen, dass die Regierung einen klugen Plan hat, wie sie das Land erfolgreich aus der Pandemie herausführen kann.

Angela Merkel, der ein gutes Gespür für Stimmungen nachgesagt wird, bemerkt dieses Misstrauen. Auf der Pressekonferenz nach dem EU-Videogipfel gestern Abend versuchte sie, die Kommunikationshoheit zurückzuerobern. Doch statt Klartext zu liefern, verlor sie sich schnell in Phrasen: Die Öffnungsdiskussion sei "in mehreren Strängen zu betrachten", die man "zu Paketen verbinden" müsse, schwurbelte sie. Wer das Lexikon Merkeldeutsch/Deutsch zur Hand hatte, konnte das ungefähr so übersetzen: Man kann nicht ENTWEDER Sportstätten ODER Kultureinrichtungen ODER die Gastronomie zuerst öffnen, sondern allenfalls aus jedem Bereich einzelne Angebote – also zum Beispiel zuerst Fußballplätze, Museen und Gartenrestaurants. Oder so ähnlich.

Den deutlichsten Satz sprach die Kanzlerin, als sie ihre Grundüberzeugung zusammenfasste: "Wir können nicht erst die Öffnungen definieren und dann mal schauen, ob uns das Testen was hilft." Immerhin das war mal eine klare Ansage an die Rasselbande der Ministerpräsidenten. Die wird nun noch bis zum kommenden Mittwoch munter weiterrasseln. Und falls sie bis dahin nicht komplett die Kontrolle verloren hat, gelingt es ihr vielleicht ja doch noch, ein gemeinsames Konzept zu entwickeln. Wäre gut.


WAS STEHT AN?

Gestern konferierten die EU-Regierungschefs zur Impffrage – und waren sich mal wieder uneins. Zwar wollen nun alle 27 Mitgliedsstaaten an einem Strang ziehen, um schneller zu impfen. Aber schon bei den Grenzschließungen, wie sie Deutschland wegen der Virusmutationen vorgenommen hat, ist es mit der Harmonie vorbei. Genauso wie bei der Frage, wozu der EU-weite Impfpass dienen soll. Urlaubsländer wie Österreich und Griechenland wollen Geimpften, Getesteten und Genesenen schnell freies Reisen ermöglichen, es lockt das Sommergeschäft. Frau Merkel findet das riskant, solange nicht klar ist, ob Geimpfte womöglich trotzdem ansteckend sein können. Drei Monate will man sich nun Zeit nehmen, um, Sie ahnen es, ein Konzept zu entwickeln.

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Auch am heutigen zweiten Gipfeltag dürfte es ähnlich vage zugehen, denn da steht die Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf der Agenda. Zwar ist das Was definiert: Die EU will in internationalen Konflikten künftig unabhängiger handeln und bei Militäreinsätzen weniger auf die Amis angewiesen sein. Aber beim Wie scheiden sich die Geister: Paris plädiert für vollkommene Unabhängigkeit, Berlin sorgt sich dagegen um die engen Beziehungen zu Washington (von einer nötigen Steigerung des Verteidigungsbudgets ganz zu schweigen). Ach ja, zu Beginn der Tagung schaut Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vorbei, um die Bündnispartner wieder mal daran zu erinnern, dass sie eigentlich versprochen haben, zwei Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die Verteidigung auszugeben. Mehr als Versprechungen wird er aber wohl nicht mitnehmen.


Die Linkspartei fristet ein Schattendasein, nun wollen zwei Frauen sie zurück ins Rampenlicht führen: Bei der Neuwahl des Vorstands auf dem heute beginnenden Online-Parteitag bewerben sich die thüringische Landesparteichefin Susanne Hennig-Wellsow und die hessische Fraktionschefin Janine Wissler um die Nachfolge von Katja Kipping und Bernd Riexinger. Sowohl im Osten als auch im Westen erhoffen sich viele Mitglieder von den Neuen frischen Wind, doch die Doppelspitze birgt Konfliktpotenzial:
Während Hennig-Wellsow einen pragmatischen Regierungskurs verkörpert, steht Wissler der Trotzkisten-Truppe Marx21 nahe, die vom Parlamentarismus wenig hält und vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Noch bis vor wenigen Monaten war sie dort Mitglied. "Wie radikal ist Janine Wissler?", fragt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Gute Frage.


Es sei ein schlechter Tag für die Pflege in Deutschland, kommentierte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die gestrige Entscheidung der Caritas gegen einen flächendeckenden Tarifvertrag in der Altenpflege. Zwar steht heute noch das Votum der Diakonie an, doch selbst wenn das positiv ausfiele, würde das wohl nicht zu mehr als neuen Gesprächen führen. Völlig unklar bleibt einstweilen, wie die krassen Lohnunterschiede der 1,2 Millionen Beschäftigten in der Pflege ausgeglichen werden können. Herr Heil will nun Tempo machen und die "Pflegemindestlohnkommission" einberufen. Wenn das Gremium so arbeitet, wie es klingt, wird es wohl nix mit dem Tempo.


WAS LESEN?

Zu den Helden meiner Jugend gehörte Franz Xaver Kroetz. Weniger der Klatschreporter Baby Schimmerlos aus "Kir Royal" als eher der Dichter wilder, harter, ehrlicher Theaterstücke. Gestern ist er 75 Jahre alt geworden, der Franz, aber es ist nicht leicht, ihn zu erreichen. Schon seit Jahren lebt er zurückgezogen in einem Häuschen in… nein, das verrate ich Ihnen jetzt nicht. Lieber empfehle ich Ihnen das Gespräch, das mein Kollege Steven Sowa mit ihm geführt hat. Ich habe es gern gelesen, und am meisten hat mich gefreut, dass er trotz allem Schmerz immer noch wild ist, der Franz.


Die ersten drei Corona-Selbsttests sind zugelassen. Gesundheitsminister Spahn kündigte an, dass sie "in den nächsten Tagen" in Supermärkten und Geschäften erhältlich sein sollen. Leider wussten die Händler nichts davon. Tja, und nun? Meine Kollegin Sandra Simonsen hat überraschende Antworten bekommen.


Über sexualisierte Gewalt an älteren Frauen wird kaum berichtet. Doch nicht nur Junge werden Opfer von Vergewaltigungen, auch 70-, 80- oder 90-Jährige. In Köln setzt sich ein Verein für die Opfer ein. Unser Reporter Thomas Dahl hat mit der Gründerin gesprochen.


"Die Drehscheibe", "Zimmer frei!", "Das Literarische Quartett": Seit fast 50 Jahren steht Christine Westermann als Moderatorin vor der Kamera, aber Privates behielt sie bisher für sich. Nun hat sie meiner Kollegin Janna Halbroth ihr Herz geöffnet.


WAS AMÜSIERT MICH?

In diesen Tagen komme ich mir manchmal wie Frau Müller vor.

Ich wünsche Ihnen einen gepflegten Tag. Morgen bekommen Sie den Wochenend-Tagesanbruch von Marc Krüger und Frau Müller, Pardon, Herrn Harms.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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