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Abzug der Bundeswehr: In Afghanistan herrscht die nackte Angst


Tagesanbruch
Es herrscht die nackte Angst

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 06.08.2021Lesedauer: 6 Min.
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Russische Soldaten üben bei einem Großmanöver mit Usbekistan und Tadschikistan, wie sie das Eindringen von Terroristen verhindern können.Vergrößern des Bildes
Russische Soldaten üben bei einem Großmanöver mit Usbekistan und Tadschikistan, wie sie das Eindringen von Terroristen verhindern können. (Quelle: Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa-bilder)

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Nach uns die Sintflut

Die Welt ist klein geworden. Aber noch immer gibt es Länder, von denen man kaum jemals etwas hört und bei deren Erwähnung man erst einmal zum Atlas greifen muss. Turkmenistan zum Beispiel: ehemals eine Sowjetrepublik, heute eine Diktatur, in der sich der Alleinherrscher mit einem bizarren Personenkult huldigen lässt. Aber das alles spielt sich fern von uns in den Wüsten und Steppen Zentralasiens ab. Früher hätte Karl May vielleicht seine Helden Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar dort ihre Abenteuer erleben lassen. Heute muss uns Turkmenistan in der Regel nicht interessieren. Deshalb haben wir auch von den gegenwärtigen Truppenbewegungen dort keine Notiz genommen.

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Nebenan gibt es noch ein paar Länder, die man nicht so gut kennt: Tadschikistan zum Beispiel und Usbekistan. Die halten gerade ein gemeinsames Großmanöver ab, bei dem auch russische Soldaten kräftig mitmischen. Aha! Russland sagt uns immerhin etwas. Aber was treiben die alle dort hinten am anderen Ende der Welt? Warum rollen auf einmal Panzer durch die Steppe? Hecken die Russen wieder etwas aus, spielen ihr Machtspiel, wollen klammheimlich eine Region annektieren? Falsch. Die Soldaten lassen nicht aus Übermut ihre Muskeln spielen. Es herrscht die nackte Angst.

Wie ein Dornenkranz drückt sich die Krise Afghanistans ins Fleisch der umgebenden Länder. Afghanische Soldaten, die keinen Sinn mehr darin sehen, den Taliban noch länger Widerstand zu leisten, fliehen in Scharen in die Nachbarstaaten. Bei Kämpfen vor wenigen Tagen retteten sich binnen wenigen Stunden mehr als tausend von ihnen nach Tadschikistan. Zwei Drittel der Grenze zwischen den beiden Staaten sollen bereits unter Kontrolle der Taliban sein. Die Islamisten heuern Subunternehmer an: Radikalislamische tadschikische Milizionäre übernehmen im Auftrag ihrer großen Brüder das Management der Grenze.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 trat eine internationale Koalition unter Führung der Amerikaner an, den Taliban das Handwerk zu legen. Jetzt, 20 Jahre später, sehen wir den Gotteskriegern beim Durchmarsch zu. Ein Blick auf die Karte zeigt, wie rasch das verbliebene Territorium der Regierung in Kabul zusammenschnurrt. In diesen Tagen wird um mehrere Provinzhauptstädte gekämpft, darunter Lashkar Gah in Helmand, zu dessen Verteidigung britische und amerikanische Truppen große Opfer bringen mussten. Früher. Als sie noch da waren.

Afghanistan implodiert vor unseren Augen. Die Schockwellen erfassen die gesamte Region und lassen selbst Großmächte ratlos zurück. China, das in seinem äußersten Westen an Afghanistan grenzt, sucht nach einer Haltung: Soll es mit den extremistischen Aufsteigern kooperieren? Immerhin haben die Taliban Interesse an guten Beziehungen bekundet. Aber Peking hat zugleich allen Grund, einen Schulterschluss der Islamisten mit den Uiguren zu befürchten, die Präsident Xi im eigenen Land brutal unterdrückt. Natürliche Verbündete sehen anders aus. Zurzeit beäugt man sich argwöhnisch.

Was alle wissen: Der Schlüssel zum Aufstieg der Taliban, ihrem jahrzehntelangen Durchhaltevermögen und ihrem Comeback liegt im Nachbarland Pakistan. Dessen mächtiger Geheimdienst war mehr als nur der Geburtshelfer der Bewegung. Initiator trifft es besser. Er hat einst die Taliban zu einer politischen und militärischen Kraft erster Güte aufgepäppelt und mischt bis heute bei ihren Aktionen mit. Doch Druck auf Pakistan auszuüben, um die Kämpfer zur Räson oder gar an den Verhandlungstisch zu zwingen, ist ein heikles Unterfangen. Denn Pakistan ist selbst ein klappriges Gebilde: gebeutelt von Korruption, geplagt von Kriminalität, Terror und eigenen islamistischen Gruppen, hohe Arbeitslosigkeit, katastrophaler Bildungsstandard, 40 Prozent der Erwachsenen können nicht lesen und schreiben. Aber Atomwaffen besitzt Pakistan sehr wohl. Drohungen gegen so ein Land, weitere Destabilisierung, gar Chaos auch dort? Das wollen wir lieber schnell vergessen.

Nun gut: Der Westen hat sich aus Afghanistan zurückgezogen. Die deutschen Soldaten sind schon daheim, und das einzige, was hiesigen Politikern zu dem Debakel noch einzufallen scheint, ist die Diskussion darüber, ob man straffällige afghanische Flüchtlinge vielleicht doch schon mal in ihr "sicheres Herkunftsland" rückführen könnte. Auch die US-Truppen sind eilig auf dem Weg nach Hause, während Afghanistan in die Gewaltherrschaft abgleitet. Was haben wir, der ehemals so engagierte Westen, uns eigentlich gedacht, als wir uns für den Rückzug entschieden haben? Was, glaubten wir, würde denn wohl passieren? Wohl ungefähr dies: Die Taliban sind ja keine Terrortruppe mit internationalen Ambitionen. Die toben sich ja nur zu Hause aus – also tschüss und bye-bye! Nach uns die Sintflut. So sah die westliche Rückzugsstrategie aus, wobei "Strategie" noch zu hoch gegriffen ist.

Der Aufruhr in der Region sollte uns eines Besseren belehren. Während die Taliban das Machtvakuum füllen, das der Abzug der westlichen Koalitionäre hinterlassen hat, entlässt das gebeutelte Land nun Flüchtlinge in die Welt. Bald werden Drogen folgen. Die Taliban haben sich schon früher nicht von ihren radikalen Moralvorstellungen abhalten lassen, die Kasse mit Rauschgiftgeld zu füllen. Auch dass die Terroristen des "Islamischen Staates" in dem Chaos ein geschütztes Eckchen ergattern, um von dort aus ihre Tentakel wieder in alle Welt auszustrecken, ist denkbar.

Was also tun? Unsere Möglichkeiten sind begrenzt. In Afghanistan ist im Moment leider nicht mehr viel zu richten. Aber wenigstens müssen wir unsere Lehren aus dem Debakel ziehen. Vor allem diese: Engagiert man sich in einem Konflikt, dann kann man nicht einfach nach Hause gehen. Jedenfalls nicht, ohne für das folgende Machtvakuum einen klaren, realistischen Plan zu haben. In Afghanistan hat es der Westen vergeigt. Im Irak oder in Mali sollten wir es besser machen.

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Deutschland spielt um Gold

Heute Mittag um 12.30 Uhr ist es so weit: Zum dritten Mal spielt eine deutsche Tischtennismannschaft im olympischen Finale gegen China um Gold. Ein Sieg wäre eine Sensation. Die Männer verloren vor 13 Jahren glatt 0:3, die Frauen vor fünf Jahren ebenfalls – und auch heute wird es schwer, schließlich steht bei den Chinesen Einzel-Olympiasieger Ma Long an der Platte. Aber nach dem 3:2-Halbfinalsieg gegen Japan strotzen die Schützlinge von Bundestrainer Jörg Roßkopf vor Selbstbewusstsein: "Wir sind noch nicht fertig", verkündet sein Ass Dimitrij Ovtcharov, "wir wollen definitiv gewinnen." Na, dann los!


Geschichtsvergessenheit

Heute vor 76 Jahren, am Morgen des 6. August 1945 um 8.15 Uhr, warf ein US-amerikanisches Kampfflugzeug eine Atombombe über Hiroshima ab. Mehr als 70.000 Menschen wurden sofort getötet, bis Ende desselben Jahres sollen insgesamt 140.000 an den Folgen von Verbrennungen und nuklearer Strahlung gestorben sein. Nur drei Tage später zündeten die Amerikaner eine weitere Atombombe in Nagasaki. Dort kamen rund 22.000 Menschen sofort ums Leben, Zehntausende weitere in den folgenden Monaten. Kurz darauf kapitulierte Japan, der Zweite Weltkrieg war auch in Asien zu Ende.

Zum Gedenken an die Opfer hatte die Stadt Hiroshima das Internationale Olympische Komitee IOC aufgerufen, heute um 8.15 Uhr eine Schweigeminute anzusetzen – aber eine Absage erhalten. Der deutsche IOC-Boss Thomas Bach habe dem Bürgermeister Hiroshimas einen Brief geschrieben, hieß es. So sieht sie aus, die Geschichtsvergessenheit eines Bürokraten.


Endlich wieder feiern

Wie können Clubs trotz Corona wieder aufmachen? Das will Berlin ab heute Abend mit einem Pilotprojekt testen. Sechs Clubs, darunter das Kitkat und das SO36, sollen ein Wochenende lang öffnen – ohne Maske und Abstand, dafür mit PCR-Tests für die Feiernden. Teilnehmen kann nur, wer sich eine Woche später nochmals testen lässt. Wissenschaftler der Charité begleiten den Versuch.


Was lesen?

Das eigene Kind zu verlieren ist wohl das Schlimmste, was Eltern erleben können. Dem ehemaligen Nationalmannschafts-Kapitän Michael Ballack ist genau das gestern passiert. Mein Kollege Robert Hiersemann hat sich von einem Experten für Trauerbewältigung erklären lassen, wie Angehörige solche Situationen überstehen können.


In den neuen Bundestag wollen auch viele junge Frauen einziehen. Drei Kandidatinnen von CDU/CSU, Grünen und FDP haben den Kollegen der "Welt" erzählt, was sie verändern wollen und wie sie auf männliche Arroganz reagieren.


Die Rente ist längst nicht mehr sicher, sie bedarf dringend einer Reform. Mein Kollege Mauritius Kloft hat sich einen interessanten Vorschlag angesehen.


Im Olympiastadion in Tokio brechen die Athleten einen Weltrekord nach dem anderen. Wie ist das möglich? Mein Kollege Alexander Kohne ist auf bemerkenswerte Gründe gestoßen.


Was amüsiert mich?

Man sollte ja immer genau hingucken.

Ich wünsche Ihnen einen abwechslungsreichen Tag. Der Wochenend-Podcast ist noch in der Sommerpause, ich melde mich am Montag wieder bei Ihnen.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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