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Éric Zemmour: Kann dieser Rechtsextremist Europa zerstören? | Frankreich


Tagesanbruch
Kann dieser Mann Europa zerstören?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 01.12.2021Lesedauer: 6 Min.
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Éric Zemmour im Kreis von Anhängern.Vergrößern des Bildes
Éric Zemmour im Kreis von Anhängern. (Quelle: Tom Nicholson/REUTERS)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Paris, Stadt der Liebe, dahin möchte jeder mal. Besonders eilig hat es der künftige Kanzler, der sich schon vor der Bundestagswahl auf sein erstes Reiseziel im Amt festlegte: "Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist zentral dafür, dass wir es schaffen, Europa voranzubringen", hat Olaf Scholz gesagt. Auch wenn man sich aus seinem Mund eine flottere Formulierung gewünscht hätte (was wir vermutlich noch oft tun werden), recht hat er ja. Ohne Frankreich und Deutschland geht nichts in Europa. Deshalb wird er also in wenigen Tagen nach Paris düsen, zum Rendezvous mit Emmanuel Macron. Ein Zeichen der Kontinuität wird das sein – aber eines, über dem ein Fragezeichen schwebt. Denn im Frühjahr wird in Frankreich der Präsident neu gewählt. Und bei unseren Nachbarn ist ganz schön viel in Bewegung.

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Wahlen in Frankreich sind immer für eine Überraschung gut. Dass ihr Ausgang aufregender ist, als man es sich für eine stabile deutsch-französische Allianz im Herzen Europas wünschen würde, daran ist diesmal aber ausgerechnet Monsieur Macron selbst schuld. Bei seinem Aufstieg ins höchste Amt hat er eindrucksvoll demonstriert, dass man als Präsidentschaftsaspirant auf eine Partei locker verzichten kann. Die Partei, das bin ich, verkündete er und staffierte seine Kandidatur nur rasch mit einem eigens gegründeten Unterstützerverein aus, der "Die Republik in Bewegung" heißt – womit vor allem die Beförderung des Chefs ins Präsidentenamt gemeint war. Eine richtige Partei mit all den Querelen und Richtungskämpfen, der Konkurrenz, den Profilierungsbemühungen und dem langen Weg an die Spitze: Braucht man alles nicht. Hauptsache, das Sendungsbewusstsein des Kandidaten ist groß genug (und das Ego auch).

Was der kann, kann ich schon lange, hat sich jetzt ein anderer gesagt und ist ebenso überraschend aufs Parkett des Präsidentschaftswahlkampfs gehüpft wie ehemals Herr Macron: Éric Zemmour hat gestern seine Kandidatur angekündigt und damit in Frankreich eine politische Bombe gezündet. In den Umfragen liegt der Grünschnabel hinter Präsident Macron. Und zwar, Moment, ich schaue mal gerade ... oh: soeben noch auf Platz zwei.

Die Franzosen kennen ihn. Éric Zemmour hat als Kommentator in einem rechten TV-Kanal Karriere gemacht, schreibt Bestseller und provoziert bei jeder Gelegenheit. Er stört sich an einer linken Kultur, die von der 68er-Bewegung hervorgebracht worden sei, die mit Feminismus, sexueller Revolution und der Amerikanisierung des Lebens den Niedergang der großen französischen Nation verschuldet habe. Gewiss, das klingt altbacken, als wäre da einer in der Vergangenheit stecken geblieben und führe noch die Diskussionen, die vor mehr als vierzig Jahren mal für Aufregung sorgten.

Aber es lohnt sich für diesen Herrn Zemmour. Er ist der Kandidat der Alten. Sie sind das demografische Schwergewicht, mit dem man Abstimmungen gewinnen kann, zahlreich vertreten in der Bevölkerung und an der Wahlurne. Der Aufwiegler versucht, das wohlhabende, aber unzufriedene Bürgertum für sich einzunehmen: die Generation 65 plus, in der viele alten Zeiten und vergangener Größe hinterhertrauern. Er gibt sich kultiviert, als Mann des Buches, das kommt in Frankreich bei vielen gut an. Ach ja, und noch etwas zeichnet ihn aus: Er ist ein rechtsextremer Rassist.

"Er sagt, wie es ist", loben seine Anhänger ihn und meinen damit, dass er auf politisch korrektes Geschwurbel verzichtet, dass er rücksichtslos Dinge ausspricht, die sonst keiner in den Mund zu nehmen wagt. Das kann man wohl sagen. Ausländisch klingende Vornamen will Herr Zemmour verbieten ("Muhammad" zum Beispiel) und Eltern auf französische Vornamen für ihre Kinder verpflichten. Gerne schwadroniert er vom "Bevölkerungsaustausch", durch den angeblich Frankreichs Christen durch Muslime ersetzt würden – eine Verschwörungstheorie, die inzwischen in ganz Europa zum Standardrepertoire von Rechtsradikalen und Neonazis gehört. Wie alle Populisten setzt auch Éric Zemmour darauf, dass seine Fans die Tabubrüche und Provokationen mit der Wahrheit verwechseln. Mit diesem Sound ist er inzwischen auch zum Kandidaten der Jungen geworden, mancher jedenfalls. Unter den jungen Rechten sind seine Fernsehauftritte Kult.

Schon vor seiner Präsidentschaftskandidatur ist im ultrarechten Lager die Strategiefrage entbrannt. Bei den Regionalwahlen im vergangenen Juni hat Marine Le Pen, die bisher unangefochtene Spitzenfrau der Rechten, mit ihrer Partei eine empfindliche Schlappe erlitten. Madame achtet seit geraumer Zeit genauer auf das Erscheinungsbild und hängt den Rechtsradikalen ein bürgerliches Mäntelchen um, bevor sie sie im Wahlkampf vor die Tür lässt. Die offene Opposition gegen den Euro und die EU gilt ihr inzwischen als zu riskant, sie hat sie feinsäuberlich unter den Teppich gekehrt. Als Alternative für Frankreich will sie für Unzufriedene aus dem bürgerlichen Lager wählbar sein, zugleich gesellschaftlich Abgehängten von links und rechts eine politische Heimat bieten. Für manche ist das zu viel Weichspüler im braunen Hemd.

Der parteilose Herr Zemmour ist nun ausgeschert, um Frau Le Pen rechts zu überholen. Mit Rassismus ohne Schnörkel beschwört er den rechtsradikalen Markenkern. Zugleich vermeidet er, vom Ausstieg Frankreichs aus der EU und dem Euro oder anderen Eskapaden zu fantasieren, die der wohlhabenden Generation der Älteren Angst machen und ans Portemonnaie gehen würden. Éric Zemmour, der als "TV-freundlicher Faschist" betitelt worden ist, baut an einer Brücke zwischen Rechtsextremen und Konservativen.

Ins politische Spektrum Deutschlands übersetzt, sähe das so aus: Er würde nicht nur auf Wähler schielen, die von der AfD und der NPD kommen, sondern auch von der CSU und dem rechten Flügel der CDU – also dem wertkonservativen Teil der Basis, der sich hinter einen Mann wie Friedrich Merz stellt und von der Merkel-Mitte nichts wissen will. Hierzulande würde ein solcher Brückenschlag vermutlich schnell an dem haarsträubenden Gefasel Éric Zemmours scheitern.

In Frankreich jedoch hat eine lange Liste politischer Verfehlungen die Angst vor dem Islam bis ins Extreme geschürt: das Debakel bei der Integration der Einwanderer aus Algerien und den ehemaligen Kolonien, die Kriminalität in den Vorstädten, Straßenschlachten, brennende Autos und Prügeleien mit der Polizei, auch die viel größere Gefahr islamistischer Terroranschläge. Selbst für Bürgerliche ist der Kandidat Zemmour nicht automatisch ein rechtsextremer Spinner, sondern eine akzeptable Wahl.

Die gute Nachricht für Europa und auch für den Frankreich-Reisenden Olaf Scholz: Emmanuel Macron hat in den Umfragen deutlich die Nase vorn. Doch bis zum Wahltag im April ist es noch lange hin, und in Corona-Zeiten polarisiert sich die Gesellschaft weiter. Die politische Landschaft ist rechts und links zersplittert, das Ergebnis schlecht vorhersehbar. Drücken wir also die Daumen, dass in Paris nicht der Extremist siegt. Sondern die Liebe.

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Ampel macht die Kehrtwende

Nach tagelangem Zögern beugen sich SPD, Grüne und FDP dem Druck der Tatsachen: Um die vierte Corona-Welle zu brechen, wollen sie ihr verkorkstes Infektionsschutzgesetz nun eilig nachbessern. Dazu laufen heute vor dem Bund-Länder-Gipfel hektische Abstimmungen im Berliner Regierungsviertel. Beschlossen werden könnten morgen dann: eine Ermächtigung der Bundesländer, Restaurants zeitweise zu schließen; eine 2G-Pflicht in allen Einzelhandelsgeschäften; Impfungen durch Apotheker, Zahnärzte und Tierärzte; eine Begrenzung des Corona-Impfschutzes auf sechs Monate (anschließend müsste man sich erneut impfen lassen, um das Zertifikat zu verlängern). Außerdem soll der Bundestag über eine Impfpflicht für alle Bürger abstimmen. "Einfacher wäre es gewesen, wenn Deutschland in den vergangenen Wochen nicht so viel Zeit verloren hätte", schreiben unsere Reporter Johannes Bebermeier und Tim Kummert in ihrer Analyse.


Gedenken in Trier

Heute vor einem Jahr raste ein Autofahrer durch die Trierer Fußgängerzone und fuhr wahllos Menschen über den Haufen. Fünf wurden getötet, viele weitere verletzt, ein sechstes Opfer starb später an den Folgen. Hunderte Augenzeugen sind seither traumatisiert. Der 51-jährige Fahrer, der kurz nach der Tat rauchend neben seinem Fahrzeug festgenommen wurde, muss sich derzeit vor dem Landgericht Trier verantworten – das Motiv des offenbar psychisch gestörten Mannes ist immer noch unklar.

Zum Gedenken an die Opfer läuten heute um 13.46 Uhr, dem Beginn der Amokfahrt, in der Trierer Innenstadt die Glocken. Anschließend folgt ein ökumenischer Gottesdienst im Dom, der im Fernsehen übertragen wird.


Der Lichtblick des Tages …

kommt heute von meiner Kollegin Michaela Fischer. Sie schreibt dazu: "Dieser Leckerbissen besteht aus Mehl, Hefe, Milch, Butter, Zucker, Rosinen, Marzipan und Puderzucker. Gut gemischt, gerührt, geknetet, ein bisschen genascht, anschließend gebacken und ordentlich gepudert, hat sich alles in einen zauberhaften Weihnachtsstollen verwandelt." Nun hoffe ich inständig, dass ich probieren darf.


Was lesen?

Ohne Maske und Abstand protestieren jeden Montag in Sachsen Hunderte Menschen gegen die Corona-Politik. Wieso lässt Innenminister Roland Wöller das zu? Meine Kollegen Annika Leister und Jonas Mueller-Töwe haben Bemerkenswertes über den Politiker herausgefunden.


Das Historische Bild zählt zu den beliebtesten Formaten auf t-online. Ab heute bereichert es auch den "Tagesanbruch". Den Anfang macht dieses Foto einer Geheimwaffe. Was es damit auf sich hatte, lesen Sie hier.


Apropos: In Deutschland gibt es Millionen illegaler Waffen. Warum das ein Problem ist, berichtet Ihnen unser Rechercheur Lars Wienand.


Was amüsiert mich?

Olaf Scholz hat einen General zum Chefcoronabekämpfer befördert. Das zeigt bereits Wirkung.

Ich wünsche Ihnen einen dynamischen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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