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Boris Johnson – ein politischer Hallodri, der den Rechtsstaat aushebeln will


Tagesanbruch
Johnson will Grundrechte aushebeln

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 27.01.2022Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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Boris Johnson will Großbritanniens Rechtssystem umbauen.Vergrößern des Bildes
Boris Johnson will Großbritanniens Rechtssystem umbauen. (Quelle: Reuters TV via/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Politiker sind auch nur Menschen wie Sie und ich. Wer es jedoch mit der Bodenständigkeit zu weit treibt, mag zwar immer noch ein gewöhnlicher Typ sein. Ein geeigneter Politiker ist er aber nicht mehr. Beweis gefällig? Stellen Sie sich vor, der deutsche Regierungschef hätte die Bevölkerung erwiesenermaßen mehrfach belogen. Nicht mit beiläufig dahingenuschelten Halbwahrheiten, wie man sie gelegentlich in Talkshows hört, sondern mit faustdicken Lügen. Stellen Sie sich außerdem vor, dieser Mann hätte wiederholt die strengen Corona-Regeln verletzt, die er selbst allen Bürgern aufgebrummt hat. Während zwei Lockdowns mit striktem Versammlungsverbot hätte er sich mit Kumpels bei Wein und Käse, Drinks und Torte vergnügt. Mal in seiner Dienstwohnung, mal in seinem Amtssitz. Mehrmals im kleinen Kreis, aber auch mal mit 30, 50, 100 Gästen. Er hätte es richtig krachen lassen, während er gleichzeitig die Bürger ermahnte, jeder Geselligkeit zu entsagen. Ein neuer Kühlschrank wäre ihm durch die Hintertür geliefert worden, damit bei seinen Lockdown-Partys genügend Bier und Weißwein vorrätig ist. Ein andermal hätten seine Leute Alkohol in einem Koffer in den Amtssitz geschmuggelt.

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Irre? Es kommt noch dicker: Stellen Sie sich vor, es gäbe von diesen verbotenen Feiern Aufnahmen, auf denen auch der Regierungschef zu sehen ist. Und um das Maß vollzumachen, nehmen wir schließlich an, dass bereits mehrere Untergebene des Politikers ihren Hut nehmen mussten. Und dass nun sogar die Polizei ermittelt. Was, meinen Sie, würde mit so einem Regierungschef geschehen, säße er im Kanzleramt in Berlin? Genau, er säße sicher nicht mehr lange dort. Ziemlich wahrscheinlich müsste er sich nicht nur öffentlich entschuldigen, sondern auch zurücktreten. Nichts anderes wäre redlich in einem normalen demokratischen Land.

Leider ist Großbritannien kein normales Land mehr. Dort hält sich ein Mann auf dem Premierministersessel, der erstens als Lügner entlarvt worden ist und zweitens kein Problem darin sieht, für ein paar Gläschen zum Gesetzesbrecher zu werden. Mit britischer Schrulligkeit lässt sich das nicht mehr erklären, meinen auch Millionen empörte Bürger auf der Insel: Die regierende Tory-Partei stürzt in den Umfragen ins Bodenlose. Das Drama kommt nicht aus heiterem Himmel und es lässt sich auch nicht nur mit der Corona-Krise begründen. Großbritannien ist eine verwundete Nation, verletzt von der jahrelangen Brexit-Schlacht, von keifenden Boulevardmedien und perfiden Facebook-Algorithmen, die Hass, Wut und Vorurteile schüren.

Nur dank dieser toxischen Atmosphäre konnte ein politischer Hallodri wie Boris Johnson ins mächtigste Staatsamt aufsteigen. Vollmundig versprach er, dass mit dem Brexit alles besser würde. Pustekuchen, nichts wurde besser. Schrumpfender Handel, Fachkräftemangel, aufflammender Konflikt in Nordirland: Großbritannien ist wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich auf dem absteigenden Ast. Das Corona-Krisenmanagement war ein einziges Debakel, in den Ministerien wusste eine Hand nicht, was die andere tut. Dass das Chaos nicht noch größeren Schaden angerichtet hat, ist allein dem Pragmatismus, dem Humor und der Zähigkeit der Briten zu verdanken: Keep calm and carry on!

Die Briten haben sich für einen Sonderweg in Europa entschieden, das war ihr gutes Recht. Sie haben Boris und die Tories gewählt, auch das war eine souveräne Entscheidung. Sie müssen also mit den Folgen leben. Trotzdem haben sie es nicht verdient, von einem Hanswurst regiert zu werden. Denn der Hanswurst nutzt die Aufregung um seinen Party-Skandal, um abseits des Scheinwerferlichts die britische Demokratie klammheimlich in einen autoritären Polizeistaat umzubauen: Er lässt die Unabhängigkeit von Gerichten stutzen, die Versammlungsfreiheit einschränken und das Asylrecht beschneiden. Bürgern mit zwei Pässen will er die Staatsangehörigkeit entziehen.

Diese brachiale Politik à la Viktor Orbán ist der eigentliche Skandal im Johnson-Land. Lange hat eine Mehrheit der Briten dem blonden Populisten zugejubelt und ihm jeden Fehltritt verziehen, weil er ihnen das Blaue vom Himmel versprach, tolle Sprüche klopfte und dabei auch noch knuffig aussah. Jetzt ist es höchste Zeit, dass die Bürger genauer hinschauen, was ihr Premierminister und seine Kumpels treiben. Aber nicht nur nachts, wenn sie sich in der Downing Street zuprosten. Sondern vor allem, wenn sie auf den Parlamentsbänken im Westminster-Palast die Hände zur Abstimmung heben. Denn da geht es nicht um ein paar Gläschen. Sondern um die Grundsteine ihrer Demokratie.


Termine des Tages

Eine Woche ist es her, dass das Gutachten zu sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Erzbistum München und Freising die katholische Kirche erschüttert hat. Und noch immer ringen die Verantwortlichen um Worte. Heute Vormittag will Kardinal Reinhard Marx endlich Stellung nehmen – während an drei Orten in München Demonstrationen gegen die scheinheiligen Kirchenmänner stattfinden. Einmal hat Papst Franziskus ein Rücktrittsangebot von Marx bereits abgelehnt. Heute könnte ihn das zweite erreichen. Diesmal sollte der alte Mann in Rom es endlich annehmen.

Die europäische Arzneimittelbehörde Ema entscheidet voraussichtlich über den Zulassungsantrag des Medikaments Paxlovid vom Pharmakonzern Pfizer. Es soll bei Patienten ab zwölf Jahren eine schwere Erkrankung nach einer Corona-Infektion verhindern.

Heute vor 77 Jahren befreiten sowjetische Soldaten die überlebenden Gefangenen im Vernichtungslager Auschwitz. Anlässlich des Holocaust-Gedenktags erinnern die Abgeordneten des Bundestags an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Überlebende Inge Auerbacher und Israels Parlamentspräsident Mickey Levy halten Reden. Wie Jüdinnen im besetzten Polen Widerstand gegen die Deutschen leisteten, erzählt die Historikerin Judy Batalion in einem neuen Buch. Mein Kollege Marc von Lüpke hat es gelesen.


Zitat des Tages

"Nicht verfügbare Gesundheitsdaten bedeuten ein Risiko für jeden Einzelnen, unter Umständen ein lebensbedrohliches."

Der Vorsitzende des Sachverständigenrates für Gesundheit, Ferdinand Gerlach, kritisiert in der "Zeit" den übertriebenen deutschen Datenschutz und fordert ein "Recht auf Datennutzung". Das deutsche Gesundheitssystem sei während der Corona-Pandemie oft im völligen Blindflug unterwegs. "Die Folge: Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen infiziert oder geimpft sind. Wir wissen nicht, wo Ansteckungen stattgefunden haben." Gesellschaft und Politik in Deutschland müssten die Perspektive wechseln, "von Datenschutz als bloßem Abwehrrecht gegen Missbrauch hin zu einem Anspruch auf Datennutzung für bessere Forschung und Versorgung".


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Wie schön: An der Hohenzollernbrücke in Köln verewigen sich verliebte Paare mit "Liebesschlössern". Jedes Schloss steht für ein großes Glück.


Was lesen?

Heute vor zwei Jahren wurde das Coronavirus erstmals in Deutschland nachgewiesen. Wie sich unser Leben seither verändert hat, zeigt Ihnen meine Kollegin Sandra Simonsen.


Ist Atomkraft brandgefährlich – oder für das Erreichen der Klimaziele unvermeidbar? Die EU-Kommission hat eine heftige Debatte ausgelöst. Auch unsere Leser sind aufgerüttelt. Zwei von ihnen haben uns von ihren Erfahrungen berichtet.


Was wird nun aus der Impfpflicht, was wollen die Abgeordneten des Bundestags? Hier ist der Überblick.


Facebook hetzt absichtlich Menschen gegeneinander auf und verdient prächtig daran. Die "Süddeutsche Zeitung" erklärt, wie arglistig der Konzern dabei vorgeht.


Was amüsiert mich?

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag. Morgen schreibt mein Kollege David Schafbuch den Tagesanbruch, von mir hören Sie am Samstag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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