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Kurswechsel in Deutschland: Als Führungsnation ein Totalausfall


Tagesanbruch
Deutschland, der Totalausfall

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.03.2022Lesedauer: 6 Min.
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US-Präsident Biden versucht, Bundeskanzler Scholz sanft zu mehr Engagement zu drängen.Vergrößern des Bildes
US-Präsident Biden versucht, Bundeskanzler Scholz sanft zu mehr Engagement zu drängen. (Quelle: Michael Kappeler/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

auf einmal ist sie nicht mehr wiederzuerkennen. Es schien, als sei sie alt geworden, steif in den Gelenken, unflexibel und verknöchert. Jede noch so kleine Bewegung schien sie zu schmerzen. Doch nun das! Die Europäische Union birst vor Tatkraft und hat angesichts der russischen Aggression zu ungeahnter Geschlossenheit gefunden: Gemeinsam und vereint gehen die Staaten gegen den Moskauer Kriegsherrn vor. Halten wir das ungewohnte Bild vor unserem inneren Auge fest, damit es sich möglichst gut einprägt. Denn man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen: Das bleibt nicht so.

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Die Entschlusskraft wird bröckeln, die Konflikte werden wieder aufleben, und das ist ganz normal. Der Angriff auf die Ukraine hat die Differenzen in der EU nur beiseitegewischt, nicht gelöst. Es ist noch nicht abzusehen, an welchen neuen Normalzustand sich Europa gewöhnen wird, während das Jahr voranschreitet: an einen dauerhaften Abnutzungskrieg oder an eine (teilweise) russisch besetzte Ukraine, in der brutale Unterdrückung und gewaltsamer Widerstand aufeinandertreffen. Vielleicht gibt es einen schmutzigen Deal, der das Land teilt oder ihm eine beschnittene Unabhängigkeit einräumt, bei den Verhandlungen in Istanbul gibt es entsprechende Hinweise. Sogar eine russische Niederlage ist nicht mehr ausgeschlossen, nach der sich Putins Regime endgültig zum totalitären Staat wandelt. Die gestrige Ankündigung des Kremls, seine militärischen Aktivitäten in der Ukraine "massiv zu reduzieren", mögen der Versuch sein, Zeit zu schinden, bis neue Soldaten an die Front kommen. Sie zeigt aber auch, dass die Russen massiv unter Druck stehen. Was daraus folgt, bleibt abzuwarten. Zwei Dinge allerdings kann man einigermaßen sicher vorhersagen: Irgendwann wird wieder Normalität einkehren. Aber es wird nicht dieselbe sein wie zuvor.


In der Europäischen Union ist die Vergabe neuer Rollen bereits im Gange: Osteuropa hat sich an die Spitze der Solidaritätsbewegung mit der Ukraine gesetzt. Man könnte das mit einem Exkurs in die Geschichte des Kalten Krieges erklären, mit Erfahrungen der Unterjochung im sowjetisch-russischen Kosmos. Deshalb ist der tschechische Premier Petr Fiala kürzlich im Zug zu seinem belagerten Kollegen Wolodymyr Selenskyj nach Kiew gerollt, und er weiß, dass er bei der Unterstützung der Ukraine das ganze Land auf seiner Seite hat.

Auch der slowenische Ministerpräsident Janez Janša hat sich auf den Weg gemacht, aber der hatte keinen historischen Ballast im Gepäck: Durch das kleine Nachbarland Italiens ist noch nie ein sowjetischer Panzer gerollt. Dafür regiert der Populist im Stil eines kleinen Trumps, der zwar keinen Sinn für Demokratie und europäische Werte hat, sehr wohl aber für Selbstprofilierung. Die polnische Chefetage ist ebenfalls nach Kiew gepilgert, getrieben von der Erinnerung an den übergriffigen russischen Nachbarn, die sich tief ins Bewusstsein des Landes eingegraben hat.

Selenskyj wird bald Drehtüren anschaffen müssen, so emsig erscheint in der Ukraine solidarischer Besuch. Gerade erst haben die Parlamentspräsidenten aus Estland, Lettland und Litauen vorbeigeschaut. Apropos, folgendes Spitzenpersonal hat sich seit Kriegsbeginn nicht in Kiew blicken lassen: Emmanuel Macron aus Frankreich, Mario Draghi aus Italien und andere Schwergewichte aus dem Westen der Union. Olaf Scholz ebenfalls nicht, klar, das kennen wir inzwischen. Der Bundeskanzler braucht ja immer ein bisschen länger zum Ticketkauf.

Die Sorgen am Ostrand der Nato und der EU sind von anderen Mitgliedsstaaten, die sich in sicherer Entfernung vom russischen Problembären wähnten, nicht angemessen ernst genommen worden. Weniger Distanz schärft hingegen die Sinne. Nirgendwo auf dem Territorium der EU war und ist man der Gefahr stärker ausgesetzt als im Baltikum. Nirgendwo hat man sie besser verstanden, und das buchstäblich: Noch immer beherrschen die meisten Menschen dort Russisch und schauen auch beim russischen TV immer wieder mal rein. Dort können sie sich beispielsweise ansehen, wie ein Nuklearschlag gegen den Westen und eine Invasion der baltischen Staaten diskutiert wird, live und in Farbe. Wer derlei regelmäßig ausgesetzt ist, entwickelt eine plastische Vorstellung vom Risiko, das Putin darstellt, und hat für die Schönfärberei im Westen noch nie etwas übriggehabt.

Kein Wunder also, dass Osteuropa bei den Solidaritätsadressen mit der Ukraine federführend ist. Ein kompromisslos antirussischer Kurs ist dort in den Bevölkerungen populär. Die Regierenden können mit Maximalforderungen punkten, ohne Rücksicht auf die Folgen nehmen zu müssen. Der Abbruch sämtlicher Wirtschaftsbeziehungen, jetzt sofort, einschließlich Kohle, Öl und Gas? Pronto! Eine bewaffnete Friedensmission in der Ukraine, die auf der Stelle in Kämpfe mit den russischen Angreifern verwickelt würde? Super Idee, findet der polnische Scharfmacher Jaroslaw Kaczyński. Sein Ministerpräsidenten-Ziehsohn Mateusz Morawiecki plappert derweil über Hitler, Churchill und die Unvermeidlichkeit des Krieges, um am Ende zu dem Schluss zu kommen: Gegebenenfalls müsse die Nato ran, um die Ukraine "mit unseren eigenen Schilden" zu schützen.

In den östlichen EU-Staaten wird gefordert, was das Zeug hält, denn die Entschlossenheit kommt an – und kostet nichts. Zwar wäre die Begeisterung für den entschiedenen Kurs auch in Osteuropa schnell dahin, würde sich die Nato Hals über Kopf in einen Krieg mit Russland stürzen. Oder würde die Energieversorgung ausfallen und die Bevölkerung im nächsten Winter zähneklappernd in kalten Wohnungen hocken. Aber das passiert ja nicht. Denn auf die Bremser im Westen kann man sich verlassen.

Die traditionellen Schwergewichte der EU sehen nicht gut dabei aus, und das hat Folgen. Zögerlichkeit und Führungsanspruch sind nicht so leicht unter einen Hut zu bringen. Zum neuen Normalzustand, der nach dem Ukraine-Krieg auf uns wartet, wird deshalb auch gehören, dass die Gewichte in der EU sich nach Osten verschieben. Und damit leider hin zu Populisten, die jetzt ungehemmt große Töne spucken. Sie haben in der Krise die Initiative ergriffen, was eigentlich Applaus verdiente, hätten einige von ihnen nicht zugleich ein antidemokratisches Programm im Gepäck. Die polnische Regierung zum Beispiel würde gern die Justiz an die Regierungsleine legen und die Presse gleich mit. Bis vor Kurzem gab es deshalb Dauerzoff mit Brüssel, schmerzhafte Sanktionen standen ins Haus. Die liegen nun wohl auf Eis. Denn jetzt steht dieselbe polnische Regierung bei der Verteidigung der Freiheit an vorderster Front. Selbst US-Präsident Biden gibt sich die Ehre.

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Auch die Bundesregierung hat angesichts der russischen Aggression einen außenpolitischen Kurswechsel vollzogen. Das deutsche Zaudern bei Sanktionen im Energiesektor lässt sich nicht leugnen, kann aber immerhin als diskussionswürdige Umsicht durchgehen, die man nicht automatisch als Signal der Schwäche interpretieren muss. Dennoch: Deutschland erweckt den Eindruck, es stehe dauernd auf der Bremse und laufe der Entwicklung hinterher – bei Sanktionen, bei Waffenlieferungen, bei diplomatischen Initiativen. Und dann war da ja noch die peinliche Szene im Bundestag. Als Führungsnation ist das größte Land der EU bisher ein Totalausfall. Solange das so bleibt, belegen andere den Platz, darunter leider auch Gegner der Demokratie und des Rechtsstaats. Das muss sich ändern. Schließlich wollen wir unser gemeinsames Europa auch später noch wiedererkennen.


Termine des Tages

Europäische Richter urteilen heute, ob die Sanktionen gegen den früheren ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch rechtmäßig sind. Er hatte 2014 Demonstrationen in Kiew niederknüppeln lassen, deshalb bestraften ihn die EU-Staaten.

Christine Lambrecht gilt vielen als Fehlbesetzung im Verteidigungsministerium und verliert auch im eigenen Haus an Rückhalt. Heute will die SPD-Politikerin bei einem Besuch in den USA Boden gutmachen. Also werden viele hübsche Fotos mit ihrem amerikanischen Amtskollegen geknipst.

Die "Wirtschaftsweisen" veröffentlichen ihre aktualisierte Konjunkturprognose für 2022 und 2023. Wegen der Folgen des Ukraine-Kriegs dürfte sie düster ausfallen.

Die bayerischen Bischöfe wollen auf ihrer Frühjahrsvollversammlung in Regensburg angeblich die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche "aufarbeiten". Auf die Idee, geschlossen zurückzutreten und den Weg für den nötigen Neuanfang freizumachen, werden sie vermutlich nicht kommen.

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Putin begründet seinen Angriffskrieg mit einer angeblichen "Entnazifizierung". In Wahrheit quälen seine Komplizen Gefangene in Konzentrationslagern, wie mein Kollege Carl Exner zeigt.



Erst Israel, gestern Holland: In Testspielen sammelt die deutsche Nationalmannschaft Erfahrungen für die Fußball-Weltmeisterschaft. Dabei gibt es ein folgenschweres Problem, findet unser Kolumnist Berti Vogts.


Was amüsiert mich?

Wladimir gerät unter Druck.

Bleiben Sie bitte trotz allem zuversichtlich. Es kommen auch wieder bessere Zeiten. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Frühlingstag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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