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Tagesanbruch: Die Realität kann unterschiedliche Formen annehmen


Tagesanbruch
Hier verbirgt sich die Wahrheit

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 31.03.2022Lesedauer: 5 Min.
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
In Büchern finden sich Wahrheiten.Vergrößern des Bildes
In Büchern finden sich Wahrheiten. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die Realität kann unterschiedliche Formen annehmen. Lassen Sie mich von meinen Realitäten erzählen, um Ihnen zu erklären, was ich meine. Die objektive Realität erlebe ich, wenn ich den Fernseher anknipse, aufs Handy starre oder das Eilmeldungsstakkato der Nachrichtenagenturen verfolge. Dann sehe ich einen mittelalterlichen Despoten, der sich ins 21. Jahrhundert verirrt und dort einen Krieg angezettelt hat. Ich beobachte rast- und hilflose Politiker, die zwischen Europas Hauptstädten hin und her flitzen und zu verhindern versuchen, dass sich Pekings Diktator auf die Seite des russischen Diktators schlägt; beim EU-China-Gipfel schlägt morgen die Stunde der Wahrheit. Ich höre verunsicherte Bürger, von denen manche Angst haben, manche die Propaganda des Kremls nachplappern und manche sich in Zynismus flüchten. Es ist eine atemlose Realität. Wenn ich morgens erwache, gilt mein erster Blick dem Smartphone: Haben sich keine 28 Push-Benachrichtigungen aufgestaut, schicke ich einen Dankesseufzer gen Himmel. Ab ins Bad, Deutschlandradio an – prompt geht's wieder los.

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Mit der gefühlten Realität sieht es etwas anders aus. Die empfinde ich, wenn ich nach einem Arbeitstag mit ungefähr 19 Meetings plus Abendtermin am Schreibtisch Platz nehme. Er steht in einem großen, nahezu leeren Raum, hinter den Fenstern lauert die Berliner Nacht, unten auf der Straße brüllen die Partylöwen, aber bei mir oben in der Schreibstube müssen die Gedanken fliegen. Denn jetzt beginnen die intensivsten Stunden meines Tages, der eigentlich kein Tag mehr ist: Der Tagesanbruch für den nächsten Morgen muss geschrieben werden. Thema wählen, These ausdenken, in die Tasten tippen, an Formulierungen feilen. Termine des Tages und Lesetipps ergänzen, Fotos und eine Karikatur vom lieben Mario auswählen. Zuletzt alles zweimal sorgfältig durchlesen, hoffentlich hab ich nicht wieder diesen blöden Fehler mit dem Wörtchen "zurecht" gemacht … Moment, oder heißt es "zu Recht"? Jedenfalls dauert es alles in allem drei bis vier Stunden.

Die Uhr zeigt dann oft halb zwei, manchmal auch halb vier. Glas Bier. Dann alles nach Melbourne mailen, wo die liebe Anna-Lena Janzen gerade aufgewacht ist. Anna-Lena ist unsere Chefin vom Dienst in Australien, die während der deutschen Nacht alles auf t-online macht. Gemeinsam mit dem lieben Thomas Wanhoff, der 7.000 Kilometer weiter oben in Kambodscha lebt, speist sie meine Worte und Fotos ins Redaktionsprogramm ein und verschickt den Newsletter, damit er vor 6 Uhr deutscher Zeit in Ihren Mail-Account flattert. Parallel vertonen die ebenfalls lieben Kollegen von Detektor.FM in Leipzig meine Zeilen zu einem Podcast, auch das muss ja jemand machen.

So geht das Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, seit viereinhalb Jahren. Der Mühen Lohn sind Hunderttausende Leserinnen und Leser und viele nette E-Mails. Trotzdem kann ständiger Schlafmangel zur Bürde werden, ebenso übrigens wie die Disziplin, permanent alle Nachrichten zu verfolgen.

Deshalb flüchte ich mich immer wieder in die dritte Realität, und die ist mir die liebste: Die imaginierte Realität erlaubt es nämlich, von jetzt auf gleich in andere Welten einzutauchen. Diese Welten verbergen sich hinter Buchdeckeln, und es ist mir schleierhaft, wie jemand überleben kann, ohne regelmäßig in guten Schmökern zu versinken. Wenn es stimmt, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit besitzt, dann kommt sie gewiss aus Büchern. Denn je mehr Bücher man liest, desto mehr Wahrheiten erfährt man. Früher las ich ein Buch nach dem anderen; erst wenn ich auf der letzten Seite angekommen war, nahm ich mir das nächste vor. Vielleicht hat das permanente Nachrichtenbombardement in der objektiven Realität dazu geführt, dass ich mittlerweile anders lese, meistens vier bis acht Bücher parallel. Derzeit sind es:

Erstens Michel Houellebecqs neuer Roman "Vernichten": Schon auf Seite zwei hat er mich in eine andere Welt entführt. Jetzt möchte ich unbedingt wissen, was es mit den merkwürdigen Attentaten auf sich hat und welchen Ausgang die Lebens- und Leidensgeschichte des Beamten Paul nimmt.

Zweitens "Das Tagebuch der Menschheit", in dem Carel van Schaik und Kai Michel die realen Ursprünge der Bibelgeschichten erklären. Faszinierend. Zuvor wusste ich nicht, dass die Erzählung von Adam und Eva vermutlich in der neolithischen Revolution wurzelt, und mir ist auch erst jetzt klar, wie es zur jahrtausendelangen Unterdrückung der Frauen kam.

Drittens erfahre ich in Ian McEwans Roman "Maschinen wie ich" auf unterhaltsame Weise von den Risiken der Digitalisierung: Was geschieht eigentlich, wenn wir menschengleiche Roboter erschaffen können, die uns zwar äußerlich tupfengleich ähneln, uns aber in jeder Hinsicht überlegen sind?

Viertens lese ich Alexander Kluges Geschichtensammlung "30. April 1945", in der er unzählige Begebenheiten eines einzigen Tages zu einem Zeitengemälde komponiert: Was erlebten Menschen in Deutschland am Tag, an dem Hitler sich erschoss, und warum führte die Entwicklung zur Westbindung unseres Landes?

Fünftens schildert der Bestseller "Deutschland 2050" von Nick Reimers und Toralf Staud ebenso kühl wie erschreckend, in welcher Welt wir bald leben werden, wenn wir die Klimakrise nicht schleunigst in den Griff kriegen.

Außerdem liegen auf meinem Nachttisch Harald Welzers "Nachruf auf mich selbst", Ulrich Schachts Vatersuche "Vereister Sommer", Francoise Sagans Klassiker "Bonjour Tristesse" und mein eigener Roman, weil mich neulich ein Leser gefragt hat, ob ich eigentlich eine Fortsetzung plane. Wird schwierig, fürchte ich. Ich mag die imaginierte Realität, aber jede ihrer Stunden ist kostbar, und es gibt noch so viele spannende Bücher anderer Autoren zu entdecken.

Die Realität kann unterschiedliche Formen annehmen, und bestimmt fragen Sie sich schon seit einigen Minuten, warum ich Ihnen diese gefühlsduseligen Anmerkungen heute Morgen auftische. Anders als es vielleicht erscheint, geht es mir dabei nicht um mich, sondern um Sie. Um die geschätzten Leserinnen und Leser des Tagesanbruchs, die jeden Morgen dem real existierenden Nachrichtengewitter ausgesetzt werden: Gestern Kabul, heute Kiew, irgendwo ist immer Krise. Konflikte eskalieren, Politiker sagen Sachen, Corona nervt. Die Nachrichtenwelt kann ein ziemlich düsterer Ort sein.

Muss sie aber nicht, wenn man begreift, was sie in Wahrheit ist: nur eine von mehreren Realitäten. Wer das versteht und auch in andere Realitäten einzutauchen vermag, bleibt selbst dann ein fröhlicher Mensch, wenn die Welt mal wieder am Abgrund steht. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen fröhlichen Tag und verzichte heute ausnahmsweise auf die Termine, damit Sie etwas mehr Zeit zum Fröhlichsein und ich etwas mehr Zeit für den Houellebecq habe. Der schreibt eh viel besser als ich.

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Was lesen?

Moment, ein paar Artikel meiner lieben Kollegen empfehle ich Ihnen schon noch:


Putin drängt den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko, Soldaten in die Ukraine zu schicken. Stattdessen bekommt der Kremlchef eine Ohrfeige, analysiert unser Außenpolitikredakteur Patrick Diekmann.


Ein Lieferstopp für russisches Gas wird wahrscheinlicher. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat deshalb die erste Stufe eines Notfallplans ausgerufen. Die Kollegen aus unserem Wirtschaftsressort erklären Ihnen, was das bedeutet.


Der Ukraine-Krieg setzt Ex-Sowjetrepubliken wie Kasachstan massiv unter Druck. Doch auch hier heißt der Verlierer am Ende Putin, zeigt meine Kollegin Sonja Eichert.


Nirgendwo in Deutschland ist die Corona-Lage so prekär wie in Thüringen. Heute Mittag debattiert der Landtag in einer Sondersitzung über die Verlängerung der Regeln. Doch das Land ist eigentlich schon längst unregierbar, berichtet unser Reporter Johannes Bebermeier.


Was amüsiert mich?

Was der liebe Mario sich wohl bei dieser Karikatur gedacht hat?

Nun aber: einen fröhlichen Tag!

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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