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Dramatischer Hilferuf aus dem Bunker in Mariupol: Welch ein Wahnsinn!


Tagesanbruch
Dramatischer Hilferuf aus dem Bunker

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 20.04.2022Lesedauer: 6 Min.
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Im Stahlwerk von Mariupol harren die letzten ukrainischen Verteidiger aus.Vergrößern des Bildes
Im Stahlwerk von Mariupol harren die letzten ukrainischen Verteidiger aus. (Quelle: Ria Nowosti)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Geschichte wiederholt sich nicht, doch manchmal weist sie erstaunliche Parallelen auf. So wie in diesen Tagen: 80 Jahre ist es her, dass in einem osteuropäischen Stahlwerk eine der brutalsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs tobte. Tausende sowjetische Soldaten hatten sich auf dem Gelände der Fabrik "Roter Oktober", in einem benachbarten Traktorenwerk und in einer Geschützfabrik verschanzt, um das Industrieviertel gegen die deutschen Angreifer zu verteidigen. Mit Kampfbombern und schwerer Artillerie schoss die Wehrmacht die Werkhallen in Trümmer – doch die Rotarmisten verbarrikadierten sich in den verwinkelten Anlagen und leisteten erbitterten Widerstand. Wochenlang dauerte der Nahkampf, manche Gegner lagen keine 50 Meter voneinander entfernt in Schützengräben und Bombentrichtern und feuerten pausenlos aufeinander. Wer keine Munition mehr hatte, ging mit dem Messer auf den Feind los.

Beide Seiten erlitten fürchterliche Verluste, an mehreren Tagen im Oktober und November 1942 starben binnen Stunden Tausende Soldaten. Verwundete lagen wimmernd zwischen dem Schutt, die Wände der Fabriken sollen blutbespritzt gewesen sein. In den Ruinen der Stadt hockten zudem Zehntausende hungernde Zivilisten bei minus 20 Grad Kälte. Trotz des himmelschreienden Leids lehnte der sowjetische General die Kapitulation ab – und die deutschen Offiziere schickten einen Stoßtrupp nach dem anderen ins Gemetzel. Hitler erteilte persönlich per Funk die Befehle, er wollte die Stadt um alles in der Welt erobern, schließlich trug sie den Namen seines Kontrahenten um die Vorherrschaft in Osteuropa: Stalingrad.

Auch in diesen Tagen tobt eine erbitterte Schlacht in einem Stahlwerk. Es steht in der ostukrainischen Stadt Mariupol und ist der letzte Rückzugsort der bedrängten Kämpfer des ukrainischen Asow-Regiments sowie einiger Marineinfanteristen und ausländischer Söldner, die sich zu ihnen durchgeschlagen haben. Russische Kampfjets und Kanonen haben das Werksgelände zerbombt, doch in den unterirdischen Bunkern harren noch mehr als 2.000 Verteidiger aus, daneben Hunderte Zivilisten, darunter viele Kinder. "Es ist die Hölle auf Erden", sagt unser Außenpolitikexperte Patrick Diekmann, der sich täglich mit dem Ukraine-Krieg beschäftigt und Informationen von Militärs und Geheimdienstlern zugespielt bekommt.

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Ein weiteres russisches Ultimatum zur Kapitulation haben die ukrainischen Kämpfer gestern verstreichen lassen. Das Angebot eines sicheren Geleits durch einen "humanitären Korridor" schlugen sie aus. "Sie trauen den Russen nicht. Sie sehen, was in der Stadt vor sich geht, und bleiben deswegen auf dem Werksgelände", berichtet der örtliche Polizeichef. Große Teile Mariupols haben die Russen dem Erdboden gleichgemacht, nun sollen Einheiten des tschetschenischen Warlords Ramsan Kadyrow die Verstecke ausräuchern. Sie stehen im Ruf, keine Gefangenen zu machen.

Heute Morgen bat der Kommandeur der Marineinfanteristen in dem Stahlwerk um eine Evakuierung der Kämpfer und Zivilisten in einen Drittstaat: "Wir appellieren an alle führenden Politiker der Welt, uns zu helfen!", sagte er in einem dramatischen Videoappell auf Facebook. Die Leute könnten etwa per Schiff oder per Helikopter aus der Stadt ins Ausland gebracht werden. Die Russen reagierten nicht.

Längst ist das Stahlwerk von Mariupol zum Symbol des ukrainischen Widerstandswillens gegen die Invasoren geworden. "Diesen Kämpfen wird eine hohe Symbolkraft beigemessen", erklärt der Historiker Bastian Scianna im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke. "Ihr Beispiel dient anderen Verteidigern zur Inspiration. Der verzweifelte Kampf um Mariupol zeigt aber auch, wie wichtig weitere Hilfslieferungen durch westliche Staaten sind."

Mit historischen Vergleichen muss man vorsichtig sein. Damals ist nicht heute, Putin ist nicht Hitler, die russische Armee ist nicht die Wehrmacht. Trotzdem zeigt die Schlacht um das Werk Asowstal in Mariupol wie unter einem Brennglas, wie wenig wir in Europa aus unserer Geschichte gelernt haben. Wer hätte vor sechs Monaten gedacht, dass sich im Jahr 2022 Männer aus zwei osteuropäischen Ländern wie vor 80 Jahren hasserfüllt bis zur gegenseitigen Vernichtung bekämpfen, nur weil ein Diktator seine Eroberungsgelüste stillen will? Wir können annehmen, dass sich in den Ruinen von Mariupol in diesen Stunden ähnliche Dramen abspielen wie damals in Stalingrad. Welch ein Wahnsinn.

Ob es noch Stunden oder Tage dauert: Irgendwann werden die Russen den Industriekomplex wohl erobern. Dann können sie ihrem Anführer im Kreml den Erfolg melden und über einen Friedhof herrschen, der mal eine Stadt war. Vielleicht wenden sie sich anschließend nach Saporischja oder Dnipro – Putin will ja angeblich am 9. Mai, dem Jahrestag des Weltkriegsendes, einen großartigen Sieg über die "ukrainischen Nazis" zelebrieren. Welch ein Zynismus, welch eine unmenschliche Brutalität. Und weder die Europäische Union noch die USA noch die Nato haben bisher ein wirksames Mittel gefunden, um das Blutvergießen zu stoppen. Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich heute Morgen düster klinge, aber diese Geschichte in Mariupol hat kein gutes Ende.


Scholz bleibt vage

Olaf Scholz gerät immer stärker unter Druck. Deutschland solle der Ukraine mehr Waffen liefern und von Russland weniger Erdgas kaufen, der Kanzler solle mehr erklären, was er will und weniger verschwurbelt daherreden, er solle dies tun und jenes lassen: So ertönt tagtäglich der Chor in der Opposition, aber auch in den Regierungsparteien FDP und Grüne, und natürlich am lautesten in den Kommentarspalten der Medien. Egal, ob man heute eine Zeitung aufschlägt, dem Radio lauscht oder in die Glotze guckt: Überall wissen die Bescheidwisser ganz genau, was der Kanzler gefälligst tun soll.

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Es ist ja auch wirklich schwer erträglich, jeden Tag die Bilder der leidenden Ukrainer und ihrer russischen Peiniger zu sehen. Das macht betroffen, da will man irgendetwas tun. Mehr tun, noch mehr tun. Was nur leider viele vergessen: Als Regierungschef in einem Land mit 83 Millionen Menschen und Hunderttausenden Unternehmen ist man – so hart das klingt – in erster Linie nicht den Wünschen der Ukrainer, sondern dem Wohl aller Bundesbürger verpflichtet, und zwar nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft. Jede Entscheidung sollte so ausfallen, dass sie Schaden vom deutschen Volk abwendet, so hat es der Kanzler in seinem Eid geschworen. Schon die alten Griechen warnten: "Was immer du tust, bedenke das Ende."

Wer nach dieser Prämisse handelt, mag zwar die Ukrainer mit Geld und Waffen unterstützen und Putin bestrafen. Er wird bei Sanktionen aber verhindern, dass hierzulande die Lichter ausgehen, weil die deutsche Wirtschaft nun einmal auf russische Rohstoffe angewiesen ist. Er wird ferner darauf achten, dass die Militärhilfe nicht die eigenen Möglichkeiten übersteigt und Deutschland auch nicht in einen Konflikt mit unvorhersehbarem Ausgang hineingezogen wird – zum Beispiel, indem es Panzer und Kanonen liefert, was Putin als Kriegseintritt auffassen könnte. Zur Wahrheit in diesem Drama gehört leider, dass die Bundeswehr und das deutsche Rüstungswesen in Angela Merkels Regierungszeit auf das gefühlte Niveau von Burkina Faso gestutzt worden sind. Olaf Scholz, der nun mit dem ersten Angriffskrieg seit acht Jahrzehnten in Europa konfrontiert ist, muss die Folgen dieser Fehlentscheidung ausbaden. Dieses Dilemma anschaulich zu erklären, gelingt ihm in seiner zugeknöpften Art nicht gut, das stimmt. Aber deshalb jeden Tag eine Koalitionskrise herbeizuschreiben, ist dann doch ein bisschen zu viel Bohei.


Termine des Tages

Außenministerin Annalena Baerbock beginnt heute eine dreitägige Reise nach Lettland, Estland und Litauen. Die baltischen Staaten fühlen sich ebenfalls von Putin bedroht und verlangen mehr Unterstützung durch Nato und EU. Ebenfalls heute könnte die Zäsur von fünf Millionen Menschen erreicht werden, die aus der Ukraine geflohen sind.

Vor der Stichwahl am Sonntag treffen sich die französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron und Marine Le Pen zur TV-Debatte. Die beiden liefern sich ein enges Rennen. Macron versucht nun, bei Linken und Einwanderern zu punkten, Le Pen umwirbt die Landbevölkerung. Das Ergebnis der Wahl entscheidet darüber, ob die EU eine Zukunft hat: Gewinnt die Rechtsextremistin, war es das wohl mit der europäischen Integration.

In Kiel fällt die TV-Debatte etwas kleiner aus, auch wenn dort gleich drei Kandidaten diskutieren: Vor der Landtagswahl in zweieinhalb Wochen treffen Ministerpräsident Daniel Günther von der CDU und seine Herausforderer Thomas Losse-Müller (SPD) und Monika Heinold (Grüne) aufeinander. Wichtige Themen sind Windräder, Schulen, Digitalisierung und die Bewältigung der Corona-Schäden.

Im hessischen Landesverband der Linkspartei gibt es Verdachtsfälle sexueller Übergriffe. Die Parteispitze in Berlin eiert herum. Heute Abend befasst sich der Bundesvorstand auf einer Krisensitzung mit dem Thema.


Was lesen?

Deutschland hat seine Verteidigungspolitik lange stiefmütterlich behandelt. Das rächt sich nun, analysiert unser Kolumnist Christoph Schwennicke.


Die SPD erntet für ihren Schmusekurs mit Putin heftige Kritik. Aber auch Spitzenpolitiker anderer Parteien haben den Kremlchef jahrelang umgarnt, berichten unsere Reporter Miriam Hollstein und Johannes Bebermeier.


Verschleppt, verletzt, vergewaltigt: Immer mehr Ukrainerinnen berichten von brutalen Verbrechen russischer Soldaten. Meine Kollegin Marianne Max erklärt, was bisher über die Fälle bekannt ist.


Vor mehr als 40 Jahren mischte er mit "Klimbim" die Republik auf, heute genießt er den Ruhestand: Meinem Kollegen Steven Sowa hat Wichart von Roëll erklärt, was er an seinem 85. Geburtstag tut und warum er seine eigene Beerdigung bereits bezahlt hat.


Was amüsiert mich?

Manuela Schwesig und die SPD haben ihre eigene Logik.

Ich wünsche Ihnen einen hellsichtigen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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