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Trotz Ukraine-Krieg: Die größte Bedrohung für die Nato ist nicht Russland


Tagesanbruch
Die größte Bedrohung für die Nato ist nicht Russland

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 29.06.2022Lesedauer: 7 Min.
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Der abgeschirmte Oberste Gerichtshof der USA in Washington.Vergrößern des Bildes
Der abgeschirmte Oberste Gerichtshof der USA in Washington. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren,

erlauben Sie mir bitte, mit einer persönlichen Bemerkung zu beginnen. Es ist mir eine Ehre, Sie heute erstmals in meiner neuen Rolle als Generalsekretär der westlichen Allianz begrüßen zu dürfen. Ich heiße Sie herzlich zum Nato-Gipfeltreffen willkommen, das schon im Voraus historisch genannt werden darf. Wir finden uns in einer radikal veränderten Welt wieder. Die Dienstälteren unter Ihnen werden sich erinnern, dass ähnliche Worte auch schon bei unserem Treffen im Jahr 2022 gefallen sind, das unter dem unmittelbaren Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine stand. Fünf Jahre ist das mittlerweile her – jetzt, im Juni 2027, können wir mit Fug und Recht sagen, dass das erst der Auftakt gewesen ist. Kleiner sind die Herausforderungen für unser Bündnis seitdem nicht geworden.

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"Vorausschauend handeln" muss deshalb unser Motto sein, und wenn ich in Ihre sorgenvollen Gesichter schaue, dann weiß ich, woran Sie, woran ich, woran wir alle in diesem Moment denken. Sie haben mich mit dem Auftrag in das Amt des Generalsekretärs berufen, reinen Tisch zu machen, Fehler in der Vergangenheit eindeutig zu benennen, der Situation ins Auge zu sehen. Nur mit klaren Worten findet die Nato zu ihrem klaren Kurs zurück. Der Moment ist gekommen, meine lieben Freunde und Kollegen, vor dem wir uns fürchten: Schauen wir zurück und ziehen schonungslos Bilanz.

Wir hätten die Zeichen der Zeit erkennen müssen. Gelegenheiten hätte es genug gegeben. Als im US-Kongress eine immer größere Zahl republikanischer Abgeordneter gegen die Unterstützung der Ukraine stimmte, obwohl der Krieg gerade erst begonnen hatte, hätten wir aufmerken müssen. Wir haben die Bedeutung der innenpolitischen Entwicklungen bei unserem wichtigsten Bündnispartner nicht erkannt und – seien wir ehrlich – auch nicht wahrhaben wollen. Wir glaubten, die einschneidenden Entscheidungen des Obersten Gerichts, als es das Tragen von Waffen erleichterte, sich gegen das Recht auf Abtreibung und später gegen die gleichgeschlechtliche Ehe stellte, beträfen nur die inneren Angelegenheiten der USA. Aber diese Urteile haben den Kulturkampf befeuert und die Polarisierung des Landes dramatisch verschärft. Hinter vorgehaltener Hand sprachen wir über die Risiken und flüchteten uns in Formeln. Wir agierten hilflos.

Wir alle sind Zeugen der immer tieferen Spaltung geworden, die den radikalen Kräften um Präsident Donald Trump die Rückkehr an die Macht ermöglicht hat. Die große amerikanische Nation, die für unser Bündnis seit dessen Gründung von überragender Bedeutung gewesen ist, bewegt sich jetzt am Rand eines gewaltsamen inneren Konflikts. Reden wir Klartext: Es steht zu befürchten, dass die Regierung Trump ihre Ankündigung wahr macht und einen möglichen Wahlsieg der Demokraten im nächsten Jahr nicht anerkennen wird. Unabhängige Beobachter stufen die Vorbereitung des Urnengangs bereits jetzt nicht mehr als frei und fair ein. Wahlkreise sind vielerorts zugunsten der Regierungspartei stark verändert worden. Kommissionen, die das Wahlergebnis feststellen, können nicht mehr als unabhängig bezeichnet werden. Aufs Schärfste verurteilen wir die Bemühungen des Präsidenten, die Begrenzung seiner Amtszeit auf zwei Legislaturperioden aufzuheben.

Es sind nicht nur das globale Gewicht und die militärische Stärke der USA, die alle hier versammelten Nato-Partner zutiefst beunruhigen. Nein, es ist auch die Sorge um einen Freund. Selbstverständlich respektieren wir die Entscheidung von Präsident Trump, die Allianz zu verlassen. Zwei Jahre ist es nun her, dass die Nato ihr größtes Mitglied verloren hat. Aber noch immer ist unsere Organisation der amerikanischen Nation herzlich zugewandt. Gewiss, es ist nicht zu leugnen, dass das Verhältnis zum Weißen Haus aufs Äußerste angespannt ist. Und es ist uns klar, dass auch die Nato Fehler gemacht hat. Als besonders tragisches Versäumnis hat sich rückblickend erwiesen, die Chance zur umfassenden nuklearen Abrüstung während des Tauwetters der 1990er-Jahre, nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, nicht genutzt zu haben. Die Allianz wird weiterhin entschlossen der nuklearen Drohkulisse entgegentreten, derer sich der Kreml schon seit dem Beginn des Ukraine-Krieges immer wieder bedient. Und wir verurteilen scharf, dass auch Präsident Trump auf seinen Wahlkampfveranstaltungen mehrfach mit dem Einsatz von Atomwaffen gegen Ziele in Europa gedroht hat. Die Nato wird darauf angemessen reagieren und bis zur Mitte des Jahrhunderts ein neues französisches Atom-U-Boot in die Flotte aufnehmen.

Vorausschauend handeln, meine Damen und Herren, das ist das Gebot der Stunde. Die Lage im Baltikum bleibt angespannt, die Konzentration russischer Truppen entlang der Grenze entwickelt sich zunehmend besorgniserregend. Den Beschlüssen der Nato-Mitglieder im Krisenjahr 2022 verdanken wir, dass sich Europa auf den Pfad zum Aufbau einer Rumpf-Verteidigungsfähigkeit begeben hat, die den Kollaps des Bündnisses nach dem Ausscheiden der USA unter Aufbringung aller Kräfte abwenden konnte. Doch die Zeitenwende kam zu spät, um mit den begrenzten Mitteln Europas die Besetzung eines großen Teils der Ukraine zu verhindern. Wir fordern den russischen Präsidenten Patruschew und Verteidigungsminister Schoigu auch heute wieder zum sofortigen Abzug und dringend zur Deeskalation an der litauischen und polnischen Grenze auf. Die Streitkräfte unserer östlichen Mitgliedstaaten und die von Deutschland angeführte schnelle Eingreiftruppe verbleiben bis auf Weiteres auf der höchsten Stufe der Alarmbereitschaft. Wir bitten die Bevölkerung, besonnen mit der Situation umzugehen und Ruhe zu bewahren.

Als wir uns vor fünf Jahren in Madrid zum Nato-Gipfel versammelt haben, galt das Treffen als historisch. Die Nato schien zu alter Stärke zurückgefunden zu haben, zog neue Mitglieder an, schmiedete Pläne für den Umgang mit China, stützte die Ukraine, trat gegenüber Russland entschieden und geschlossen auf. Es war, das müssen wir rückblickend leider einräumen, ein Trugbild. Geeint nach außen, haben wir die noch größere Gefahr vernachlässigt: die von innen. Wir haben es versäumt, den Demokratierückbau in unserem wichtigsten Partnerland zu thematisieren, haben nicht konkret für den inneren Krisenfall vorgesorgt, nur abstrakt von langfristigen Lösungen gesprochen und letztendlich das Beste gehofft. Es gab ja auch so viel zu tun. Wir dachten, wir handelten fokussiert. Wir haben nicht einmal gemerkt, wie abgelenkt wir waren. Das müssen wir besser machen – besser spät als nie.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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Terroristen in Paris

Ein Mammutprozess geht zu Ende: An mehr als 130 Verhandlungstagen wurde im Pariser Justizpalast die Anschlagsserie vom 13. November 2015 aufgerollt, bei der Islamisten ein Massaker im Konzertsaal "Bataclan" anrichteten, Bars und Restaurants im Osten der französischen Hauptstadt beschossen und drei Selbstmordattentäter sich während eines Fußball-Länderspiels zwischen Deutschland und Frankreich am Stade de France in die Luft sprengten. 130 Menschen starben, weitere 350 wurden verletzt.

Wenn heute Nachmittag die Urteile verkündet werden, müssen sich die 20 Angeklagten (sechs von ihnen sind abwesend) auf jahrelange Strafen einrichten, bis hin zu lebenslang. Für die Schlüsselfigur Salah Abdeslam, den einzigen Überlebenden unter den Attentätern, hat die Staatsanwaltschaft lebenslange Haft mit anschließender unbegrenzter Sicherheitsverwahrung gefordert. Während der bereits in Belgien zu 20 Jahren Gefängnis verurteilte IS-Terrorist für sich in Anspruch nahm, seinen Sprengstoffgürtel aus Menschlichkeit nicht gezündet zu haben, gehen Sachverständige davon aus, dass der Gürtel schlicht defekt war.

Die schmerzliche Aufarbeitung des islamistischen Terrors beschäftigt Frankreich aber auch nach Ende des Prozesses weiter: Ab September wird im selben Gerichtssaal der Anschlag von Nizza verhandelt, der nur acht Monate später stattfand: Ein Terrorist fuhr am 14. Juli 2016 mit einem Lkw auf der Strandpromenade in Passanten und riss 86 Menschen in den Tod. Auch diese Tat reklamierte der "Islamische Staat" für sich. Man ist leicht versucht, die grauenvollen Taten der Vergangenheit zuzuordnen. Doch wer mit Sicherheitsbehörden spricht, erkennt: Die Gefahr des islamistischen Terrorismus ist ungebrochen groß – auch hierzulande.


Terrorist in Turkmenistan

Während die westliche Welt auf die Gipfel in Elmau und Madrid schaut, besucht der oberste Kreml-Terrorist sein eigenes Gipfelchen: Wladimir Putin hat sich auf seine erste Auslandsreise seit seinem Überfall auf die Ukraine begeben. Gestern traf er im zentralasiatischen Tadschikistan den dortigen "Präsidenten" Emomali Rachmon, der sich von seinen Untertanen als "Führer" verehren lässt, Wahlen gern mit 90 Prozent Zustimmung "gewinnt" und zu den engsten Verbündeten Moskaus gehört.

Heute reist der Terrorist weiter in die turkmenische Hauptstadt Aschgabat, wo der sechste Kaspische Gipfel stattfindet. Teilnehmer sind die Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres, also neben Russland und Turkmenistan auch Iran, Aserbaidschan und Kasachstan. Man ist also in passender Gesellschaft. Putin will mit seinem Trip offenkundig demonstrieren, dass Russland keinesfalls vollkommen isoliert sei – und versuchen, die westlichen Sanktionen durch Deals im Süden abzufedern. Möge es ihm misslingen.


Starker Mann im Norden

Wenn die CDU klug ist, stellt sie als Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 2025 Daniel Günther auf. Der Kieler gilt als talentiertester Vertreter eines progressiven, pragmatischen und inspirierenden Konservatismus. Heute backt er aber erst mal kleinere Brötchen: Im Landtag von Schleswig-Holstein will er sich zum Ministerpräsidenten wiederwählen lassen und dann sein schwarz-grünes Kabinett vorstellen. Mit dem bisherigen Rostocker Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen wird erstmals ein Däne Minister an der Förde. Auch das ist inspirierend.


Was lesen?

Jahrzehntelang hatten sich Sowjets und Amerikaner einen erbitterten Wettstreit im All geliefert – 1995 folgte ein Zeichen der Freundschaft. Welches es war, erfahren Sie auf unserem Historischen Bild.


Der Staat braucht viel Geld, um Inflation, Energiemangel und Lieferengpässe abzufedern. Trotzdem will FDP-Finanzminister Christian Lindner im nächsten Bundeshaushalt eisern sparen. Unsere Reporter Johannes Bebermeier und Tim Kummert zeigen Ihnen, wozu das führt.


RTL bewirbt einen Film über Angela Merkel: Katharina Thalbach spielt die Altkanzlerin, das Prestigeprojekt fußt auf dem Bestseller "Miss Merkel – Mord in der Uckermark". Doch Recherchen meines Kollegen Steven Sowa zeigen: Hinter den Kulissen lief die Produktion alles andere als glatt.


Was amüsiert mich?

Der G7-Gipfel hat spürbare Folgen.

Ich wünsche Ihnen einen entspannten Tag. Morgen schreibt Peter Schink den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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