Krieg, Klima, Katastrophen Meine Auszeiten vom Untergang

Friedenssignale aus Gaza – ein Lichtblick an diesem Morgen. Aber sonst: eine Welt aus den Fugen. Krieg, Klima, Katastrophen überall. Ein Leben in der Dystopie. Unser Autor flüchtet zunehmend ins kleine Schöne.
Erinnert sich noch jemand an Tony Soprano, den depressiven Titelhelden der unvergesslichen "Sopranos", der Urmutter aller in Staffeln und Folgen zersägten Serien? Den lieben langen Tag, die liebe lange Woche, sein liebes langes Leben bringt der bullige, leicht adipöse Mafia-Boss in New Jersey damit zu, Menschen zu morden, Clankriege zu führen, Schutzgeld zu erpressen und mitsamt seiner wohlstandsverwahrlosten Kinder in obszönem Luxus zuzubringen. Aber nichts macht ihn froh, nicht einmal die italienische Süßspeise, die seine gegenüber der offensichtlichen Ursache ihres Reichtums völlig ignorante Ehefrau zu zaubern weiß.
Ein einziges Mal in der endlos langen Serie liegt ein tiefes Glück in Tonys Gesichtsausdruck, hängen die Lider nicht mehr über den halben Augäpfeln wie bei einer Schnappschildkröte. Er hat sich wie immer morgens nach einer abermals arbeitsreichen und blutdurchtränkten Nacht im Bademantel zum Kühlschrank geschleppt, um sich die Milchtüte zu schnappen, da fällt sein schläfriger Blick auf den Pool im Garten, in dem zwei Stockenten gelandet sind. Augenblick, verweile doch, du bist so schön, sagt Tonys Gesicht in diesem Moment – bevor er sich wieder der Frage zuwenden muss, wie er einen brätzblöden, aber sehr ambitionierten Konkurrenten im Soprano-Clan niederringt.

Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war.
Unser Küchenfenster geht auch zum Garten raus. Dort sehe ich in diesen Herbsttagen immer wieder ein Eichhörnchen, das wirklich viel zu tun hat. Im Nachbargarten steht ein Walnussbaum, und das rotbraune Tierchen hüpft wieder und wieder mit einer Nuss im Maul über den Rasen, blickt mal hier und mal da hin, verbuddelt die Nuss und balanciert sofort wieder behände über den Grat eines hohen Zauns in Richtung Walnussbaum.
Man kann sich gar nicht sattsehen. Der Anblick des emsigen Eichhörnchens schenkt so ein tiefes Glück, so eine wohltuende Auszeit von all dem, was zur gleichen Zeit das Radio in der Küche wieder vermeldet. Kein Morgen, an dem man nicht von einem mit neuem Irrsinn übergeschnappten Präsidenten in den USA erfährt. Jetzt hat er sogar der italienischen Nudel den Krieg erklärt. Wenn das Tony Soprano noch erlebt hätte.
Ein Leben in der Dystopie
Kein Morgen, an dem keine Bomben und Drohnen auf die Ukraine niedergehen. Kein Morgen, an dem nicht irgendein Taifun, ein Zyklon oder eine sonstige Wetterheimsuchung infolge des Klimawandels eine Region verwüstet. Das Autoritäre zur gleichen Zeit auf dem Vormarsch, der demokratische Westen im Abstieg. Ein kurzer Blick in den Laptop. Im Netz: nur polarisiertes Gebrüll. Der Wahnsinn galoppiert. Doom, Untergang, Apokalypse, ein Leben in der Dystopie. Es kommt immer öfter vor, dass ich den Sender im Radio wechsle. Wenigstens am Wochenende. Dann dudelt statt Deutschlandfunk "Radio Paradiso". Lieber "Dancing Queen" von ABBA als der Irre aus dem Weißen Haus.
Keiner ist mehr bei Trost, scheint es. Nicht mal die Redakteure des Musikmagazins "Rolling Stone", der obersten Instanz für Rock und Popmusik. Sie stellen das neue Album von Taylor Swift, eine abermalige Ansammlung belangloser Liedchen, am Tag nach seinem Erscheinen in eine Reihe mit den fünf größten Rock-Alben aller Zeiten. Sind denn jetzt endgültig alle verrückt geworden?
Kleine Fluchten ins Schöne
Ich ertappe mich in letzter Zeit mehr und mehr bei kleinen Fluchten ins Schöne. Eskapismus. Denn was ändert es denn, wenn ich wie dieser Tage die halbe Nacht mit guten Freunden und ausreichend Wein über Donald Trump und seinen Irrsinn rede? Über den Zustand der Welt? Gar nichts. Aber es ändert etwas bei mir, in mir, wenn ich über dem Himmel Berlins derzeit die trompetenartigen Rufe der ziehenden Kraniche höre.
Es ist demnach Zeit, verraten diese Rufe. Sie sind da, es ist wieder so weit. Also werde ich so schnell wie möglich einen Abend am Rangsdorfer See verbringen müssen wie jedes Jahr. Es ist ein unvergessenes Schauspiel, wenn mit beginnendem Sonnenuntergang über dem See diese majestätischen Vögel wie aus dem Nichts auftauchen, erst ein paar vereinzelte, dann zu Tausenden. In nicht enden wollenden V-förmigen Schwaden kehren sie von den Feldern, auf denen sie sich Kraft für die lange Reise anfressen, zu ihren sicheren Schlafplätzen im seichten Wasser des Sees zurück.
Der Anblick ist magisch, erhaben. Das Glücksgefühl, das den ganzen Körper dabei durchströmt, ist nur vergleichbar mit dem Moment, wenn beim Pilzesuchen im Wald, eine andere glücksspendende Tätigkeit dieser Tage, plötzlich ein Steinpilz im Unterholz ins Blickfeld gerät, so wollüstig prall und drall wie die Venus von Willendorf. Oder eine kindskopfgroße, blassgelbe Krause Glucke, geschmacklich die Königin unter den heimischen Schwammerln.
Eichhörnchen oder Eisbär?
"Ich möchte ein Eisbär sein im kalten Polar, dann müsste ich nicht mehr schrei'n, alles wär' so klar." Die Liedzeile der Band "Grauzone" aus der Zeit der Neuen Deutschen Welle echot im Kopf. "Eisbär'n müssen nie weinen, Eisbär'n müssen nie weinen ..." geht der monoton-stoische Refrain.
Ich möchte ein Eichhörnchen sein. Jetzt geschäftig meine Nüsse für den Winter verbuddeln. Und mich dann in meinem Kobel einmummeln und erst wieder aufwachen, wenn der Frühling in der Nase kitzelt, der Irre im Weißen Haus wegen einer nachgewiesenen Geisteskrankheit nach dem 25. Amendment der amerikanischen Verfassung des Amtes enthoben und in eine für solche Fälle zuständigen Facheinrichtung eingewiesen ist. Der deutsche Kanzler Merz doch noch den mutigen Friedrich in sich entdeckt hat, den er im Wahlkampf gemimt hatte. Wladimir Putin rätselhaft, unglücklich und mit Todesfolge in Moskau aus einem Fenster gefallen ist, das passiert ja immer wieder dort, wie man liest.
Oder noch besser: Ich möchte ein Braunbär sein im Trentino. Dann dürfte ich mir vor diesem Winterschlaf ohne jede Reue mit Honig, Beeren und allen Köstlichkeiten des Herbstes den Wanst vollschlagen, um dann in einer neuen schöneren Welt aufzuwachen.
- Eigene Überlegungen, Blick aus dem Küchenfenster




