Schwarz-rote Lähmung Wie die Koalition sich das Regieren selbst schwer macht

Union und SPD sind nicht gewählt worden, um sich zu streiten wie die Ampel, sondern um sich zu einigen – auch über die Reform der sozialen Sicherung. Warum fällt das so schwer?
"Liebe Koalition, seien Sie beherzt und hartnäckig. Ihr Mut wird sich auszahlen, für uns alle!" Mit diesen Worten hat sich Frank-Walter Steinmeier, der Präsident himself, kürzlich in die Debatte über die Zukunft des deutschen Sozialstaats eingeschaltet. Sprachlich etwas holprig, aber die Botschaft an die "liebe Koalition" ist klar: Es geht jetzt nicht um Parteitaktik, sondern um unser Land und darum, den Sozialstaat zukunftsfähig zu machen.
Steinmeier drückt ein in der Bevölkerung verbreitetes Gefühl aus: Es kann doch nicht so schwer sein, dass sich CDU/CSU und SPD auf Kompromisse verständigen, dafür haben wir sie schließlich gewählt. Tja, warum ist das eigentlich so schwer? Weil Merz sagt, wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten und Bas sagt, das ist Bullshit? Weil die Union die Leistungen für die Armen kürzen und die SPD die Reichen zur Kasse bitten will? Sie lesen und hören täglich in den Medien, wie tief die Gräben zwischen den Partnern sind. Bürgergeld, Rente, Krankenkasse, Pflegeversicherung: kein Konsens, nirgends.
Stattdessen Feindbilder. Die Sozialdemokraten erscheinen als Betonsozialisten, resistent gegen die Wirklichkeit, reformunfähig; allesamt Leute, die sich Illusionen über die Möglichkeiten staatlicher Fürsorge machen. Auf der anderen Seite die Union: Angeblich sind dort Ultraliberale am Werk, Lobbyisten der Gutsituierten, Christen ohne Barmherzigkeit.

Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche.
Zeit für Basargeschäfte
Die Feindbilder sind Zerrbilder. Beide, Union und SPD, bekennen sich zum Sozialstaat als kollektive Versicherung gegen die großen Risiken des Lebens: Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit. Beide wissen aus langer Regierungserfahrung, dass die soziale Sicherung an gesellschaftliche Veränderungen angepasst werden muss, so wie jetzt an die Tatsache, dass die geburtenstarken Boomer-Jahrgänge aus dem Arbeitsleben ausscheiden.
Da muss doch ein Kompromiss möglich sein, oder? Zumal es "nur" um Zahlen geht. Zugegeben: um Milliarden, die im Bundeshaushalt fehlen, um die Rentenkasse zu füllen; um Milliarden, die den Krankenkassen an Beitragseinnahmen fehlen. Aber die politische Lebenserfahrung zeigt, dass es bei Zahlen immer einen Kompromiss gibt, wie auf dem Basar. Schwieriger ist es, wenn sich der Streit um Ideologien dreht. Oder, erst recht, um Religionen. Glaubens- und Systemfragen sind dem Kompromiss schwer zugänglich. Aber weder Union noch SPD wollen das System sprengen. Und das Bürgergeld ist nicht in der Bibel verankert.
So detailliert und kompliziert die Paragrafen im Sozialgesetzbuch auch sind, im Grunde stehen der Politik einige wenige Stellschrauben für die Reform zur Verfügung. Wenn in der Kasse Geld fehlt, kann man die Ausgaben kürzen; also Zahlungen einschränken oder den Kreis der Leistungsbezieher verkleinern. Oder, auf der anderen Seite, die Einnahmen erhöhen, seien es Steuern oder Beiträge. Oder zusätzliche Beitragszahler in das Sozialsystem holen, etwa Selbstständige oder Privatversicherte.
An einer Stelle ließen sich sehr wohl Steuern erhöhen
Dass die SPD die Lösung der Probleme vorwiegend auf der Einnahmenseite sieht, die Union auf der Ausgabenseite sparen will, ist bekannt. Der Kompromiss zwischen beiden Positionen liegt auf der Hand: Wir erhöhen die Einnahmen UND kürzen die Ausgaben.
Zunächst die Einnahmen. Ja, die Union hat versprochen, dass es keine Steuererhöhungen geben wird, sie hält die Sozialabgaben für Arbeitnehmer und Arbeitgeber ohnehin schon für zu hoch. Sie wird über ihren Schatten springen müssen. Rentenbeiträge werden zum Beispiel nur bis zu einem Monatsverdienst von 8.050 (demnächst 8.450) Euro erhoben. Das heißt: Der Abteilungsleiter, der mehr verdient, zahlt nur auf einen Teil seines Einkommens Beiträge, die Sachbearbeiterin auf das komplette Gehalt. Diese Grenzen deutlich zu erhöhen oder ganz abzuschaffen, ist eine Zumutung für die Chefs. Eine Zumutung, die zumutbar ist.
Keine Steuererhöhung? Vielleicht doch. Wolfram Weimer, Staatsminister für Medien und Kultur, fordert eine Digitalsteuer für die großen Internetplattformen, so wie sie andere Länder auch erheben – Österreich, Frankreich, Italien, Spanien. In Deutschland zahlen Google und Facebook bisher so gut wie keine Steuern. Warum nicht? Die US-Konzerne können sich durchaus an der Finanzierung unseres Gemeinwesens beteiligen.
Wenn die Union zurücksteckt, muss auch die SPD ran
Und, last but not least, die Erbschaftssteuer. Sogar Jens Spahn räumt inzwischen ein, dass es fragwürdig ist, ausgerechnet die Erben großer Unternehmen von dieser Steuer praktisch zu befreien. Sachlich spricht alles dafür, dieses Privileg für sehr reiche Menschen abzuschaffen. Dagegen spricht nur, dass die Union sich bisher anders positioniert hat.
Auf der anderen Seite muss die SPD an die Ausgaben ran, auch wenn es schwerfällt. Beispiele gefällig? Die Rente mit 63. Sie sollte körperlich arbeitenden Menschen mit einer langen Erwerbsbiografie zugutekommen. Tatsächlich erreichen vor allem Büromenschen die geforderten 45 Versicherungsjahre; zudem sind 45 Versicherungsjahre nicht 45 Arbeitsjahre, Studienjahre etwa werden auch gezählt. Was hält die SPD davon ab, den Kreis der Berechtigten stark einzuschränken – auf diejenigen, die ursprünglich gemeint waren?
Wenn die Union bei der Erbschaftssteuer alte Positionen räumt, dann dürfen wir von den Sozialdemokraten erwarten, dass sie ihr Versprechen einkassieren, das Rentenniveau auf mindestens 48 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns zu halten. Dieses Versprechen besagt, dass der Lebensstandard der Rentner parallel zu Löhnen und Gehältern weiter steigt. Das ist nicht mehr finanzierbar. Aber die Rente kann – zum Beispiel – an die Inflationsrate gekoppelt werden. Sie steigt dann immer noch, aber weniger stark. Auch das ist eine zumutbare Zumutung.
Es mangelt nicht an Wissen, sondern an Willen
Beim Bürgergeld sind die Prioritäten der Reform eigentlich ganz unstrittig. Die Oberbürgermeister an Rhein und Ruhr, die am Sonntag in der Stichwahl ihre roten Rathäuser verteidigen, haben es den Berliner Parteichefs doch laut und deutlich gesagt: Der massenhafte Missbrauch dieser Sozialleistung durch eine Armutsmigration aus Rumänien und Bulgarien, die alle Anzeichen organisierter Kriminalität trägt, ist nicht tolerabel. Will irgendein Sozialdemokrat tatsächlich noch diesen Status quo verteidigen?
Also: Wenn Union und SPD einen umfassenden Kompromiss wollen, dann können sie ihn finden. Und ja, sie wollen ihn, jedenfalls Merz und Klingbeil und Bas, Spahn und Miersch, sogar Söder. Allerdings haben sie sich die Sache selbst schwer gemacht. Es war ein Fehler, in den Koalitionsverhandlungen für jedes Thema eine eigene Kommission zu berufen, die jetzt erst einmal monatelang tagt. Es mangelt nicht an Zahlen, Daten und Fakten, nicht an Vorschlägen, Gutachten, Expertenpapieren und wissenschaftlichen Untersuchungen. Es mangelte bisher am politischen Willen, daraus einen Kompromiss zu schmieden.
Die Spitzen der Koalition müssten sich noch einmal neu sortieren. Sie brauchen nicht viele Kommissionen, sondern eine einzige, die den Weg zum Kompromiss bahnt. Eine kleine, hochkarätige Runde, zum Beispiel unter Leitung von Thorsten Frei, dem Kanzleramtsminister. Dazu die Fraktionschefs der Koalition, die Ministerinnen für Arbeit und Gesundheit. Ausgestattet mit einem klaren Auftrag des Kanzlers und seines Vizekanzlers: Bitte ein Reformprogramm vorlegen, zügig, bevor der Herbst der Reformen vorüber ist.
Es muss jetzt schnell gehen
Aber im Koalitionsvertrag steht es doch anders … Vorsicht! Dass der Koalitionsvertrag gilt und nicht die bessere Einsicht, daran ist schon die Ampel gescheitert.
Der Bundespräsident hat übrigens einst selbst als Kanzleramtsminister bei Gerhard Schröder die Hartz-Reformen vorbereitet. Er weiß, wovon er redet. Es sei zwingend, dass wir uns jetzt "schnell und entschieden" an die Reform des Sozialstaats machen, schrieb Steinmeier der Regierung ins Stammbuch. Schnell und entschieden – das ist das Gegenteil vieler Arbeitskreise. Also, liebe Koalition, hören Sie auf unseren Präsidenten!












