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Der Fall Maddie McCann: Blutspuren, Kastenwagen und eine Zeugin


Der Fall Maddie McCann
Die Blutspuren, der Kastenwagen und eine Zeugin

Von Dietmar Seher

Aktualisiert am 04.06.2020Lesedauer: 6 Min.
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Ein Foto von Madeleine McCann – und ein Phantombild eines Mannes, den die Eltern als Verdächtigen ausgemacht haben: Jede Spur scheint in dem Fall ein Mysterium.Vergrößern des Bildes
Ein Foto von Madeleine McCann – und ein Phantombild eines Mannes, den die Eltern als Verdächtigen ausgemacht haben: Jede Spur scheint in dem Fall ein Mysterium. (Quelle: Reuters-bilder)

Vor zwölf Jahren verschwand die dreijährige Madeleine McCann spurlos an der Algarve-Küste. Nie wurde geklärt, ob sie tot ist oder lebt. Doch jede neue Spur nährt neue Spekulationen.

Madeleines 15. Geburtstag wurde im Mai 2018 in ihrer Heimat Rothley bei Leicester gefeiert. Die Eltern hatten ihr Geschenke ins rosa Kinderzimmer gelegt, passende zum Alter, wie Mutter Kate versicherte. Madeleines Geschwister, die heute 15-jährigen Zwillinge Sean und Amelie, waren dabei. Vater Gerry sagte: "Wir sind zu fünft, auch wenn derzeit nur vier von uns zusammen sind."

Gefehlt hat Madeleine, das Geburtstagskind. Sie ist seit dreizehn Jahren vermisst. Vielleicht ist sie tot. Vielleicht lebt sie aber auch, unter anderer Identität, irgendwo auf der Welt in den Händen von Sexualverbrechern – oder der Obhut einer anderen Familie? So wollen es jedenfalls ihre Eltern glauben.

Madeleine McCann war fast vier, als sie aus dem Urlaubsappartment des englischen Ärzte-Ehepaars in Praia da Luz an der Algarve verschwand. Seither hat die ganze Welt die Geschichte von "Maddie" kennengelernt, auch dank des Internets. "Maddie" ist eine Kurzform des Namens. Die Mutter mag das Kürzel nicht.

Selbst solche Dinge wissen wir heute, denn die Familie McCann hat auf Empfehlung eines Onkels die größte denkbare PR-Kampagne zum Wiederfinden ihrer Tochter gestartet. Sie organisiert Event-Touren, TV-Auftritte, hat sich die Unterstützung von Prominenten geholt wie David Beckham, Cristiano Rinaldo und J.K. Rowling und war beim Papst. In Wellen tauchen in Medien regelmäßig Tatsachen oder Spekulationen zum Fall auf, aktuell eine Dokumentation des Streamingdienstes Netflix. Bis heute ist die globale Suche ohne jedes Ergebnis geblieben.

Verschwunden im Süden Portugals

Der Abend des 3. Mai 2007: Der Kardiologe, die Hausärztin und ihre drei Kinder sind mit befreundeten Paaren in den Süden Portugals geflogen. Die Gegend ist bei Briten beliebt, alleine 90.000 von ihnen leben hier ständig. Die McCanns haben die Wohnung 5c in der Ferienanlage "Ocean Club" gemietet. Um 18 Uhr gehen Vater Gerry und seine Tochter Madeleine Eis essen. Nachbarn sehen sie zusammen.

Nach 19 Uhr bringen Kate und Gerry McCann ihre drei Kinder zu Bett, wie sie später zu Protokoll geben. Sie verlassen die Ferienwohnung und laufen Hand in Hand zur Tapas-Bar am Pool, nur 50 Meter um die Ecke. Dort treffen sie sich mit den Freunden, die ihre Kinder auch in ihren Apartments gelassen haben. Man hat sich die abendliche Aufsicht geteilt. Je ein Elternteil sieht alle halbe Stunde nach, ob die Kleinen schlafen. Gerry McCann ist der letzte, der seine Tochter im Bettchen sieht.

Maddies Stofftier bleibt zurück

Gegen 22 Uhr beginnt Kate McCann den Kontrollgang und sucht die Wohnung auf. Überrascht stellt sie fest: Eine Tür ist geöffnet. Ein vorher geschlossenes Fenster ist unverschlossen. Vorhänge flattern im Durchzug. Ein Stofftier liegt auf einem höheren Regal statt im Bett der Dreijährigen. Doch während die Zwillinge tief und offenbar ungestört im Schlaf liegen, ist die Schlafstelle von Madeleine leer. Die Suche nach ihr in der unmittelbaren Umgebung bleibt ergebnislos. Die McCanns alarmieren die Polizei.

Zunächst treffen lokale Beamte ein, später die Kriminalpolizei. Die beklagt sich, schon der Tatort, das Zimmer, sei durch Angehörige und Fremde sehr durchwühlt worden. Ein erster Vorgeschmack auf das Misstrauen, das die ganzen Ermittlungen über Jahre begleiten wird. Hundertschaften, Feuerwehrleute und Freiwillige durchkämmen in den nächsten acht Tagen die Anlage und den Ort. Angeblich sind Flughäfen und Grenzübergänge nach Spanien sofort geschlossen worden, um möglichen Entführern die Flucht ins Ausland zu verbauen.

Was steckt hinter Maddies Verschwinden?

Aber auch das wird nur einer der Streitpunkte sein, die später zwischen portugiesischen und britischen Behörden und Medien beider Länder in aller Heftigkeit ausgefochten werden. Ein anderer: welche Spuren ernst zu nehmen sind. Käme ein Pädophilenring in Frage, der kleine Mädchen sexuell missbraucht? Steckt eine Art Mafia dahinter, die Kinder raubt und zur illegalen Adoption verkauft? Oder hat die aufgewachte Madeleine, auf der Suche nach Mama und Papa, sich verlaufen und dabei einen Unfall erlitten?

Die Ermittler unter Chefinspektor Goncalo Amaral nehmen zunächst die Engländer der Siedlung in den Fokus. Sie untersuchen Hinweise, wonach "englisch aussehende" Männer in der Nähe waren – oder auch mal zwei Männer und eine Frau, "deutsch oder holländisch sprechende", blonde Ausländer eben. Es kommt zu mehreren vorläufigen Festnahmen, denen genau so schnelle Freilassungen folgen. Ein zunächst hauptverdächtiger Brite und Nachbar, Robert M., darf wieder gehen. Er war zuvor vor allem durch aufdringliche Hilfsangebote und Fragen an die Eltern aufgefallen.

Doch dann meldet sich Jane Tanner. Die Zeugin ist eine Freundin der McCanns. Sie wird konkreter. Sie sagt, sie habe am 3. Mai gegen 21.15 Uhr einen Mann gesehen, vielleicht Ende 30 und 1,70 Meter groß mit dunkler Jacke, dunklen Schuhen und beigefarbener Hose. Er habe vom Appartment her kommend ein Bündel getragen, möglicherweise ein Kind mit einem hellen oder rosafarbenen Schlafanzug. Das Gesicht des Mannes kann sie kaum beschreiben. Auch bei der Hautfarbe ist sie unsicher. Könnte er der Entführer sein?

Einen Tag nach dem Verschwinden der Dreijährigen gibt es im britischen Fernsehen einen Herz zerreißenden Auftritt der Eltern. An die Täter appellieren sie: Geben Sie uns Madeleine zurück! Die Bevölkerung bitten sie: Unterstützt uns bei der Suche! Es ist der Auslöser für eine Welle der Hilfsbereitschaft. Die ganze Insel rüstet zur nationalen Suchaktion.

Portugiesische Ermittler verfolgen andere Spur

Ein schottischer Geschäftsmann setzt 1,5 Millionen Euro für Hinweise aus. David Cameron, Londons Premierminister, stellt den Regierungsbeamten Clarence Mitchell zur Verfügung, der fortan die McCanns organisatorisch berät. Britische Polizisten reisen nach Portugal. Noch zehn Jahre später gibt es selbst in Deutschland nach einer "Aktenzeichen XY... ungelöst"-Sendung über 1.000 Anrufer, die Madeleine gesehen haben wollen: mal in Portugal und Malta, Nordafrika, Osteuropa und natürlich Belgien. Die Dutroux-Affäre ist in guter Erinnerung.

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Doch den Ermittlern um Amaral geht anderes durch den Kopf: War das überhaupt eine Entführung? Sie bauen sich eine Theorie zusammen: Madeleine ist danach am 3. Mai bei einem Unfall oder durch ein Versehen der Eltern ums Leben gekommen. Gerry und Kate McCann wollten das vertuschen und haben das tote Mädchen nach einigen Stunden weggeschafft. Die ganze weltweite Aufmerksamkeit? Eine einzige, große Ablenkung.

Amaral wird in seinem Gedankenspiel immer sicherer, als seine Leute mit Hilfe von Infrarot und Leichenspürhunden im Apartment 5c "Blutspuren einer verstorbenen Person" feststellen und im August Blutreste und DNA in einem Renault Scenic, den die McCanns Ende Mai für ihre Suchtouren durch Portugal gemietet haben. Auch will ein Zeuge Vater Gerry zu passender Zeit gesehen haben, wie er ein Kind trägt. Kate und Gerry gelten plötzlich als "Arguidos", Verdächtige. Man verhört sie.

Die britische Presse tobt, erklärt die Portugiesen für unfähig – und tatsächlich: Amaral muss den Posten räumen. Der Nachweis von Blut und DNA in Wohnung und Wagen, auf den er gebaut hatte, ist zu wenig belastbar. Die Ermittlungen stecken fest. Nachdem der Ex-Ermittler später ein Buch über die angebliche Wahrheit schreibt, wie er sie sieht, verurteilt ihn ein portugiesisches Gericht wegen übler Nachrede – in der Folge muss er den Eltern 600.000 Euro Schmerzensgeld zahlen.

Immer wieder tauchen neue Spuren auf

Mehrfach sind seither die Untersuchungen wiederaufgenommen worden. Durch Portugiesen, auch durch Scotland Yard, das zeitweise 30 Beamte im Einsatz hatte. Das war, zum Beispiel, 2011 in der "Operation Grange" so. 38 Personen listete die Truppe auf. Sie waren "von Interesse".

In den Akten fanden sie einen Fall aus der Schweiz. Die Fahnder aus London reisten im September 2012 nach St. Gallen. Schweizer Kollegen informierten sie dort über Urs Hans von Aesch, 67. Er hatte am 31. Juli 2007, knapp drei Monate nach dem Verschwinden von Madeleine, die fünfjährige Ylenia Lenhard aus dem Kanton Appenzell entführt, ermordet und in einem Wald vergraben. Am gleichen Tag hatte er sich erschossen. Was die Briten hellhörig machte: Von Aesch hatte zuvor im südspanischen Benimantell gelebt und war mit einem weißen Kastenwagen unterwegs gewesen. So ein weißer Kastenwagen mit spanischem Kennzeichen war auch am Tat-Tag in Praia da Luz als verdächtig gemeldet worden.

Am Ende kam eine Kommission zum Schluss: Der Zusammenhang könne nicht nachgewiesen werden. Erst 2017 berichteten Medien dann darüber, dass die Ermittler der "Operation Grange" erneut eine "bedeutende Person" suchen – als Zeugen oder Verdächtigen.

Die wenig belastbare Zeugenaussage der Jane Tanner. Der mysteriöse Kastenwagen des Kindermörders Urs Hans von Aesch. Die zu ungenauen Blutspuren im Mietauto von Gerry und Kate McCann. Keine der wenigen heißeren Spuren von insgesamt 3.800 Hinweisen in mehr als 30.000 Schriftstücken hat bisher zu Madeleine geführt, ob sie nun lange tot ist oder lebt.

Denkbar, dass eines Tages der Fortschritt in der Kriminaltechnik eine Lösung des Falles erlaubt. Man arbeitet hart an der Identifizierung so genannter Misch-DNA. Oder es hilft, wie öfter, die Reue eines Täters, dessen Leben sich dem Ende zuneigt. Oder irgendjemandem fällt eine blonde, junge Frau auf mit einer seltenen Zeichnung im Auge - einem dunklen Strich in der Iris. Das könnte dann wirklich Madeleine McCann sein.

Verwendete Quellen
  • Neue Zürcher Zeitung: "Britische Polizei prüft mögliche Verbindung zwischen den Fällen Ylenia und Madeleine"
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