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Russlands Krieg gegen die Ukraine: "Putin braucht die Macht zum Überleben"


Krieg gegen die Ukraine
"Dann wäre es für Putin vorbei"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 31.01.2023Lesedauer: 6 Min.
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Wladimir Putin: Russlands Präsident kann nicht von der Macht lassen, sagt Historiker Serhii Plokhy.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Präsident kann nicht von der Macht lassen, sagt Historiker Serhii Plokhy. (Quelle: Sergei Guneyev/imago-images-bilder)

Im Eilmarsch wollte Wladmir Putin die Ukraine bezwingen, nun dauert der Krieg an. Doch wie könnte er enden? Jedenfalls nicht durch Putins Rückzug von der Macht, sagt Historiker Serhii Plokhy.

Seit fast einem Jahr will Wladimir Putin die Ukraine niederringen, doch das Land wehrt sich nach Kräften. Bald auch mit westlichen Kampfpanzern wie dem Leopard 2. Doch weshalb will Russlands Machthaber die Ukraine vernichten? Weil er ihre Existenz nicht ertragen könne, sagt mit Serhii Plokhy einer der besten Kenner der Geschichte Russlands und der Ukraine. Was aber würde Putin drohen, wenn er an der Ukraine scheitert? Freiwillig wird er den Kreml jedenfalls niemals verlassen, ist Plokhy überzeugt. Warum, erklärt der Historiker im Gespräch.

t-online: Professor Plokhy, der Westen war vom russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 überrascht. Er hätte es aber nicht sein müssen, denn dieser Krieg begann bereits acht Jahre zuvor. Warum nahm insbesondere Westeuropa die Gefahr nicht ernst genug?

Serhii Plokhy: Niemand hätte von Wladimir Putin überrascht sein müssen. 2014 nahm er sich die Krim, bald darauf begann er den Krieg im Donbas. Der Westen hat diese völkerrechtswidrigen Gewalttaten weitgehend ignoriert, es herrschte eine Art magisches Denken: Wenn man nur lange genug die Augen vor der russischen Aggression verschließt, dann würde Putin schon aufhören.

Was sich als gewaltiger Irrtum erweisen sollte.

Selbstverständlich. So etwas ermutigt einen Putin nur noch mehr, Beschwichtigungspolitik ist sicherlich keine Lösung. Das Problem bestand aber vor allem in der Tatsache, dass viele Putins Narrativ widerspruchslos hingenommen haben. Und zwar die Erzählung, dass Russlands Aggression gegen die Ukraine eine Antwort auf die Erweiterung der Nato auf das Territorium der früheren Sowjetunion gewesen wäre. Das ist ein wichtiger Teil von Putins Lügengebäude.

Für Putin ist die Ukraine kein richtiger Staat, sondern lediglich einst der Fantasie des Revolutionsführers Lenin nach der Oktoberrevolution von 1917 entsprungen.

Richtig. Ebenso bezweifelt er, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer ein eigenständiges Volk wären. Im Gegenteil, Russen und Ukrainer seien "eins". So Putins Behauptung.

Serhii Plokhy, 1957 im sowjetischen Gorki (heute Nischni Nowgorod) geboren, lehrt ukrainische Geschichte an der amerikanischen Harvard University und ist Direktor des Harvard Ukrainian Research Institute. Plokhy hat zahlreiche Bücher zur Ukraine wie Russland veröffentlicht, darunter im Jahr 2022 "Die Frontlinie. Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde" und "Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine". Der Historiker lebt in den USA.

Darin liegt aber ebenso eine Gefahr: Wenn die Ukrainer eine demokratische und liberale Gesellschaft aufbauen können, warum dann nicht auch die Menschen der Russländischen Föderation?

Und exakt darin liegt einer der Gründe für den russischen Überfall. Demokratie, Rechtsstaat und Liberalismus – das kann Putin überhaupt nicht ertragen. Deswegen will er die Ukraine, wie es sie heute gibt, auch vernichten.

Putin hatte mit seinen Lügen und Halbwahrheiten über die Ukraine auch deswegen leichtes Spiel, weil man sich im Westen viel zu wenig mit dem Land beschäftigt hat. Weshalb galt alle Aufmerksamkeit des Westens Russland? Wegen des Gases und der Atomraketen?

In den USA gibt es einen politisch ziemlich inkorrekten Witz: "Krieg ist Gottes Weg, die Amerikaner Geografie zu lehren". Makaber, aber auch irgendwie zutreffend auf Westeuropa in Hinsicht auf die Ukraine. Als die russischen Truppen am 24. Februar in die Ukraine einfielen, erwarteten alle, die Putins Version der ukrainischen Geschichte geglaubt hatten, dass Kiew bald fällt. Was aber geschah? Die ukrainische Armee und auch die ukrainische Zivilgesellschaft leisten den Invasoren bis heute hartnäckigen und heldenhaften Widerstand. Das ist auch für Putin eine Lektion in Geschichte. Und nicht zuletzt für die Deutschen, die sich mit Gasgeschäften von Russland abhängig gemacht hatten. Sowie ihre Politik im östlichen Europa vor allem an Russland ausgerichtet hatten.

Nun erreicht Putin in gewisser Weise mit seiner Aggressivität gegen die Ukraine das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte. Die Ukraine ist zu weiten Teilen geeint im Widerstand, die Zustimmung zu einem potenziellen Beitritt des Landes zur Europäischen Union hoch.

Tatsächlich hat sich die Ukraine in den Köpfen der Menschen bewegt – und zwar befindet sie sich geopolitisch nicht mehr am Rande Europas, sondern in seiner Mitte. Diese Position hatte sie faktisch seit Beginn der Neuzeit inne, allerdings war diese Tatsache wenigen bewusst. Auch durchzieht sie seit dem Großen Schisma …

… der Spaltung von West- und Ostkirche im nachchristlichen 11. Jahrhundert ...

… die religiöse und kulturelle Achse des europäischen Kontinents. Wenn der Westen die Ukraine zukünftig eng anbindet, könnte sie ein wichtiger Bestandteil einer neuen Sicherheitsarchitektur auf dem Kontinent werden. Das würde Putin überhaupt nicht gefallen.

Mit seinem Krieg will Putin nun aber die Zeit zurückdrehen.

Er versucht es zumindest, daran wird Putin aber hoffnungslos scheitern. Russland verfolgt imperiale Ziele in einem postimperialen Raum, bislang ist Putin vieles misslungen. Der Krieg gegen die Ukraine hat den Westen zudem erneut geeint, die Nato zeigt deutlich, dass sie keineswegs "hirntot" ist, wie es ihr der französische Präsident Emmanuel Macron noch vor einiger Zeit attestiert hatte.

Die Ukraine erhält nun etwa auch die so oft angefragten Kampfpanzer, etwa M1 Abrams aus den USA und Leopard 2 aus Deutschland.

Das ist ein deutliches Symbol der Solidarität Richtung Kiew – und auch eine Warnung gen Moskau.

Russland und die Ukraine verbindet eine lange Geschichte, Putin legt sie nun für seine eigenen sinistren Pläne aus. Betrachtet er das Nachbarland wirklich als nichts als eine abtrünnige Kolonie?

Das russisch-ukrainische Verhältnis ist in der Tat ungewöhnlich. Russland beziehungsweise die Sowjetunion waren Imperien, die Ukraine ein Teil davon. Nun errichteten die Zaren allerdings ein anderes Imperium, als es die Briten taten. Großbritannien herrschte in erster Linie über riesige Gebiete in Übersee, Russland über ein kontinentales Reich. Allerdings haben die Briten nie behauptet, dass etwa sie und die einst von ihnen beherrschten Inder die gleichen Ursprünge hätten.

Russland, Belarus und die Ukraine betrachten die mittelalterliche Kiewer Rus als ihren Vorläufer. Ein Denkmal in Kiew erinnert seit langer Zeit an den vielerorts verehrten Großfürsten Wolodymyr I., der einst die Christianisierung des Landes begann, 2016 weihte Wladimir Putin in Moskau ebenfalls ein derartiges Denkmal ein. Und setzte damit ein geschichtspolitisches Zeichen gen Kiew.

Es ist eine Art Wettbewerb, wenn man so will. Putin reklamiert Wladimir I., wie der Großfürst in Russland genannt wird, für sich. Genauso wie die Ukraine. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, wo Russland beginnt und wo es endet. Für Putin sind Russen, Belarussen und Ukrainer ein Volk, er eifert damit einer Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert nach, als der Nationalismus erblühte. Was Putin tut, ist ein alter Hut. Wenn man so will. Die Realität nimmt er ungern zur Kenntnis.

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Tatsächlich führte die Unterdrückung der ukrainischen Sprache durch russische Behörden bereits im 19. Jahrhundert zum gegenteiligen Ergebnis.

Im Zarenreich sollte die Entwicklung der ukrainischen Sprache behindert, wenn nicht gar aufgehalten werden. Nun gehörte mit Galizien ein Teil der heutigen Ukraine damals zu Österreich-Ungarn. Was taten ukrainische Schriftsteller aus dem Osten der Ukraine, die zu Russland gehörte? Sie publizierten im galizischen Lwiw. So waren die russischen Beamten unfreiwillig daran beteiligt, einen verbindenden ukrainischen Kulturraum zu schaffen.

1941 rief der sowjetische Diktator Josef Stalin nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion den Großen Vaterländischen Krieg zur Abwehr der Invasoren aus. Bis zum Ende der Sowjetunion sollte die Erinnerung daran Einheit im Sinne des Kommunismus stiften, heute nutzt Putin dies aus, indem er die ukrainische Führung als "Nazis" verleumdet.

Die Proteste des sogenannten Euromaidan, die in der Ukraine auch als Revolution der Würde bezeichnet wird, waren unter anderem ein Versuch, sich von der Sowjetunion zu distanzieren und mit dem Mythos des Großen Vaterländischen Krieges aufzuräumen. Letzterer vernebelte die Sicht auf eine zentrale Wahrheit des Zweiten Weltkrieges: Nicht Russland, sondern die Ukraine war während des Zweiten Weltkriegs eines der Länder, die am meisten gelitten haben.

Eine Tatsache, die auch in Deutschland immer noch nicht Teil des öffentlichen Bewusstseins ist.

Was sehr bedauerlich ist. Generell ist eine deutliche Neubewertung der deutschen Haltung gegenüber der Ukraine und Russland nötig. Die Ukraine gegenwärtig in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen, ist moralisch richtig – und im Sinne einer westlichen Demokratie vernünftig. Die bis zum 24. Februar 2022 gegenüber Russland verfolgte Politik hingegen bedarf der Aufarbeitung. In den Siebziger- und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts war die von der Bundesregierung betriebene Politik des "Wandels durch Handel" mit der Sowjetunion durchaus erfolgreich. Längst hätte Deutschland aber erkennen können, dass diese Handlungsweise gegenüber Putin falsch gewesen ist. Womit wir wieder beim magischen Denken angelangt wären.

Wie lange wird Wladimir Putin diesen Krieg Ihrer Einschätzung nach noch fortführen?

Das ist schwer zu beantworten. Zunächst erwarteten viele Beobachter, dass er nach zwei Wochen vorbei wäre, nun ist es fast ein Jahr. Je schneller die Ukrainer aber den Krieg gewinnen, desto besser. Jede Waffenlieferung aus dem Westen verbessert die Chancen dafür.

Könnte sich Putin im Falle einer Niederlage halten?

Putin wird nicht freiwillig gehen, das steht fest. Denn dann wäre es für ihn vorbei. Nein, Putin braucht die Macht zum Überleben. Im Zweifelsfall geht es für ihn um die nackte Existenz.

Professor Plokhy, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Serhii Plokhy via Videokonferenz
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