Bundespräsidenten und Nationalsozialismus Als Weizsäcker seine größte Rede beinahe ruiniert hätte
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Es ist das höchste Amt in Deutschland. Doch nie wurde systematisch untersucht, wie die Bundespräsidenten es mit dem Nationalsozialismus hielten – bis jetzt.
Am 23. März 1933 betraten zahlreiche Abgeordnete des Reichstags die Krolloper in Berlin. Sie waren nicht allein, SA- und SS-Leute sorgten für eine bedrohliche Atmosphäre. Auf der Tagesordnung stand die Verabschiedung des sogenannten Ermächtigungsgesetzes, eines zentralen Bausteins bei der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur – indem sich der Reichstag als gesetzgebende Gewalt selbst entmachtete.
Unter den Parlamentariern, die zur Abstimmung erschienen waren, befand sich ein Mann namens Theodor Heuss, Abgeordneter der Deutschen Staatspartei. Heuss stimmte dem Ermächtigungsgesetz zu, wie nahezu der gesamte Reichstag. Ausgenommen die mittlerweile verfolgten Kommunisten sowie die Sozialdemokraten, deren Abgeordneter Otto Wels eine mutige Rede hielt.
"Handelt, indem er spricht"
Besagter Theodor Heuss sollte noch eine gewichtige Rolle spielen in der Nachkriegszeit. Am 12. September 1949 wählte ihn die Bundesversammlung zum ersten Staatsoberhaupt der jungen Bundesrepublik Deutschland. Eine Rolle, die Heuss als erster Inhaber dieses Amtes mit Inhalt und Bedeutung füllen sollte und musste. Gerade in Hinsicht auf den Nationalsozialismus und seine Verbrechen.
Wie gingen Theodor Heuss und seine Nachfolger in der Bonner Republik mit dieser Verantwortung um? Wo waren sie mutig, wo eher verhalten? Wo haben sie gefehlt? Besonders brisant sind diese Fragen, weil Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens und Richard von Weizsäcker den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg als Zeitgenossen erlebt hatten – im Erwachsenenalter.
Antwort finden diese Fragen im gerade erschienenen Buch "Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit" von Norbert Frei. Frei ist nicht nur einer der führenden Forscher zu nationalsozialistischer Diktatur und deutscher Zeitgeschichte, sondern auch ein glänzender Schreiber. "Im Namen der Deutschen" ist daher weit mehr als nur das faktenreiche und erhellende Ergebnis des von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beauftragten Forschungsprojekts "Das Bundespräsidialamt und der Nationalsozialismus 1949–1994". Es ist eine große Studie zum Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit am Beispiel ihrer Staatsoberhäupter.
Seit Heuss sind alle Bundespräsidenten in ihren Mitteln beschränkt, das Grundgesetz will es so. "Der Bundespräsident handelt, indem er spricht", fasst es Norbert Frei zusammen. Denn die Rede ist das "zentrale politische Instrument des deutschen Staatsoberhaupts", heißt es in "Im Namen der Deutschen".
"Haben von den Dingen gewusst"
Wie positionierte sich Heuss also in der zentralen erinnerungspolitischen Aufgabe: dem Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem begangenen Zivilisationsbruch in Form des Holocaust? In einer Zeit, in der der überwiegenden Zahl der Deutschen ein "Schlussstrich" weit lieber gewesen ist, als eine Aufarbeitung der Verbrechen? Der weitverbreiteten Einstellung "Wir haben von nichts gewusst!" setzte Heuss 1952 bei einem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen die Worte entgegen: "Wir haben von den Dingen gewusst."
Ein Bekenntnis zur Wahrheit, das Heuss reichlich Hass und Widerrede eintragen sollte. Wie "unvergangen", wie massiv und unmittelbar die Geschichte und die Verbrechen des "Dritten Reichs" in der Bundesrepublik manifest waren, zeigt Frei anhand eines Blicks in die Mitarbeiterschaft des Bundespräsidialamtes. Dort arbeitete seit 1951 eine Christel D., "vormalige Mitarbeiterin des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms", so Frei, mit dem das NS-Regime "unnütze Esser" hatte beseitigen wollen.
Den Blick so über die jeweiligen Bundespräsidenten hinaus zu weiten und zu schauen, wer mit ihnen und wer für sie gearbeitet hat, ist eine weitere Stärke des Buches. Ebenso der Blick auf die Verleihungspraxis des Bundesverdienstkreuzes. Generell wirft Frei auch einen wachsamen Blick auf die kritischen Aspekte der Bundespräsidenten. So Heuss' Einsatz für die von den Alliierten wegen Kriegsverbrechen Verurteilten. Darunter ein gewisser Ernst von Weizsäcker.
"Der ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt war im Wilhelmstraßenprozess nicht zuletzt wegen eines von ihm abgezeichneten Dokuments über die Deportation von Juden aus Frankreich zu sieben Jahren Haft verurteilt worden", schreibt Frei über Ernst von Weizsäcker. Jahrzehnte später avancierte dessen Sohn Richard zum sechsten Bundespräsidenten – und zu einem der bis heute beliebtesten.
"Es war die wichtigste Rede"
Mit seiner Rede am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag anlässlich des Jahrestags des Weltkriegsendes in Europa sollte Weizsäcker Geschichte schreiben. "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft", sagte das Staatsoberhaupt. Wenn auch sein Amtsvorgänger Walter Scheel 1975 ähnlich gesprochen hatte, Weizsäckers Worte gingen in den Kanon bundesrepublikanischer Erinnerung an den Nationalsozialismus ein.
Auch weil Weizsäckers "Tag der Befreiung" statt Heuss' einstiger Losung "Erlöst und vernichtet in einem" einfach mehr den historischen Fakten entspricht. "Es war die wichtigste Rede, die nach dem Krieg in Deutschland gehalten worden war", zitiert Frei den Historiker Fritz Stern. Zugleich zeigt Frei auf, dass Weizsäckers Rede auch Anlass zur Kritik bot, wenn "er an keiner Stelle von der Verantwortung der Eliten sprach oder dass er Hitler gewissermaßen als Einzeltäter auftreten ließ".
Weniger bekannt ist auch die Tatsache, dass Weizsäcker seiner Rede vom 8. Mai 1985 einen Appell zur Freilassung von Rudolf Heß hatte beifügen wollen, dem einstigen "Stellvertreter des Führers", der zu diesem Zeitpunkt immer noch im Kriegsverbrechergefängnis Spandau einsaß. Weizsäcker konnte allerdings von diesem Plan abgebracht werden, wohl auch mit Verweis auf die Reaktionen im Ausland angesichts einer derartigen Forderung.
Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens und Richard von Weizsäcker: Die Geschichte der Bundespräsidenten ist auch die Geschichte des bundesdeutschen Umgangs der Bonner Republik mit der NS-Vergangenheit. Darin spiegelt sich der Wandel vom Leugnen der Verantwortung, von einer Schlussstrichmentalität bis hin zur Erkenntnis, dass es kein "täterloses Leid" gewesen ist, das das nationalsozialistische Deutschland verursacht hatte.
"Schaut man genauer hin"
In Zeiten einer erstarkenden AfD, deren Parteivorsitzende Alice Weidel kürzlich vor laufender ARD-Kamera davon sprach, am 8. Mai nicht "die Niederlage des eigenen Landes" feiern zu wollen, ist "Im Namen der Deutschen" ein umso wichtigeres Buch. Denn die Erinnerung an den Nationalsozialismus ist weiterhin umkämpft, ein Geschäft, das die AfD mit ihren Umdeutungsversuchen betreibt.
"Schaut man genauer hin, haben sich die alten Sprüche über die Jahrzehnte kaum verändert", bilanziert Norbert Frei in einem andernorts erschienenen Essay. "Neu aber ist, dass und in welchem Ausmaß die unermüdlich recycelten Forderungen nach 'Schlussstrich' und 'sicheren Grenzen', nach einer heilen Geschichte, einer 'reinen' Nation und nationalstolzer 'Leitkultur' auf Resonanz stoßen."
Nur, dass die deutsche Geschichte niemals "heil" im Sinne der AfD sein kann. Denn die zwölf Jahre währende Herrschaft des Nationalsozialismus war alles andere als ein "Vogelschiss" in der Geschichte Deutschlands, wie es der AfD-Altvordere Alexander Gauland behauptete. "Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart", brachte es Richard von Weizsäcker auf den Punkt.
- Eigene Recherche
- Norbert Frei: "Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit", München 2023
- Norbert Frei, Franka Maubach, Christina Morina, Maik Tändler: "Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus", Berlin 2019