100 Millionen Grad Celsius Das größte Projekt der Menschheitsgeschichte rollt

Ein 110-Tonnen-Koloss rollt über französische Straßen – und bringt das größte Energieexperiment der Welt seinem Ziel ein Stück näher.
Es war eine Reise der Superlative: Das letzte von insgesamt sechs Magnetmodulen für den sogenannten zentralen Solenoiden des internationalen Fusionsreaktors ITER ist an seinem Einsatzort angekommen. Der 110 Tonnen schwere Koloss wurde im französischen Hafen von Fos-sur-Mer entladen und auf einer 104 Kilometer langen Schwerlaststrecke bis zum Baugelände in Saint-Paul-lez-Durance transportiert: vorbei an kleinen Dörfern, über die Autobahn A51 und hinauf auf das ITER-Plateau. Frankreich hatte die Strecke bereits zwischen 2008 und 2011 eigens für derartige Großtransporte ausgebaut.
ITER, der International Thermonuclear Experimental Reactor, ist das größte Energieexperiment der Welt. Am Standort Cadarache im Süden Frankreichs entsteht ein Tokamak-Reaktor, der den Prozess der Kernfusion nachbilden soll – jene Reaktion, die auch die Sonne antreibt. Ziel ist es, nachzuweisen, dass es möglich ist, Energie durch kontrollierte Kernfusion zu erzeugen.
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Letztes Modul soll bis Ende 2025 eingebaut werden
Der zentrale Solenoid gilt als Herzstück des Tokamaks. Er erzeugt die Magnetfelder, die das Plasma im Reaktor stabilisieren sollen. Die gigantischen Module wurden vom Unternehmen General Atomics im US-Bundesstaat Kalifornien gefertigt. Mehr als ein Dutzend weitere US-Firmen waren an der Herstellung beteiligt. Insgesamt liefern die Vereinigten Staaten 13 zentrale Hardwaresysteme für ITER – beteiligt sind mehr als 600 Unternehmen im ganzen Land.
In der Montagehalle von ITER sind derzeit vier Magnetmodule gestapelt und miteinander verbunden. Ein fünftes Modul wurde bereits geprüft und soll demnächst ergänzt werden. Das nun eingetroffene sechste Modul soll bis zum Jahresende die Spitze des Stapels bilden. Zusätzlich ist bis Dezember noch ein Ersatzmodul vorgesehen, das im Fall von Problemen eingesetzt werden kann.
Bis zu 100 Millionen Grad Celsius
Der ITER-Reaktor ist für die Erzeugung von 500 Megawatt Fusionsenergie ausgelegt – das entspricht dem Zehnfachen der Energie, die für den Start des Prozesses benötigt wird. Seine Vakuumkammer besitzt ein Plasmavolumen, das zehnmal größer ist als bei den größten derzeit existierenden Anlagen. Die Temperaturen im Inneren sollen bis zu 100 Millionen Grad Celsius erreichen. Zum Einsatz kommen dafür hochspezialisierte Materialien wie supraleitende Magnete und Kabel, die bis zu 1.000 Grad Celsius aushalten, sowie leistungsstarke Kryopumpen.
ITER gilt trotz der enormen Ausmaße als besonders klimafreundlich: Bei der Kernfusion entstehen keine Treibhausgase, lediglich eine geringe Menge schwach radioaktiver Abfälle ist das Nebenprodukt. Zudem ist der Reaktor so konzipiert, dass sich die Reaktion im Störfall automatisch beendet – ohne Risiko einer Explosion oder eines Super-Gaus.
An dem Projekt sind 35 Länder beteiligt, darunter die Europäische Union, die USA, China, Russland, Japan, Südkorea und Indien. Die EU trägt mit 45,6 Prozent fast die Hälfte der Gesamtkosten und hat bereits mehr als sieben Milliarden Euro investiert.
Verzögerungen und steigende Kosten
Die Gesamtkosten für ITER belaufen sich inzwischen auf mehr als 20 Milliarden Euro. Der Zeitplan hat sich aber mehrfach verschoben – sowohl technische Herausforderungen als auch die Corona-Pandemie führten zu Verzögerungen. Im vergangenen Jahr legte ITER-Generaldirektor Pietro Barabaschi einen neuen Zeit- und Projektplan vor: Vor 2034 werden demnach im Fusionsreaktor keine Atomkerne verschmelzen. Der Start der Experimente verschiebt sich damit um mehrere Jahre. Außerdem müsse mit zusätzlichen Kosten von rund fünf Milliarden Euro gerechnet werden.
Bereits 2020 war absehbar, dass der ursprüngliche Plan nicht einzuhalten ist. Inspektionen hatten schwerwiegende Mängel offengelegt. Statt den alten Zeitplan einfach nach hinten zu verschieben, habe man ihn vollständig umgestaltet, erklärte Barabaschi. Ziel sei ein möglichst früher Start der Forschung mit einem voll ausgestatteten Reaktor.
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Die ersten Experimente sind nun für 2034 vorgesehen. 2036 soll die Heizleistung für das Plasma ihre volle Stärke erreichen, drei Jahre später als ursprünglich geplant. Mit Brennstoffgemischen aus Deuterium und Tritium soll ITER ab 2039 arbeiten – vier Jahre später als zunächst vorgesehen.
Große Erwartungen an ITER
ITER soll nicht nur zeigen, dass sich große Mengen Energie durch Kernfusion erzeugen lassen. Die Anlage wird auch Verfahren zur Herstellung von Tritium testen – einem Isotop des Wasserstoffs, das für die Fusion mit Deuterium benötigt wird. Damit will das Projekt langfristig die Versorgung mit Brennstoff für künftige Fusionskraftwerke sichern.
2035 sollte der Reaktor dem Ursprungsplan zufolge erstmals mit einem Brennstoffgemisch aus Deuterium und Tritium betrieben werden. Nur mit diesem Gemisch lässt sich das Ziel von ITER erreichen, durch die Verschmelzung von Atomkernen zehnmal so viel Energie zu gewinnen, wie vorher zum Aufheizen in das Plasma hineingesteckt wurde. Bisher ist es mit einem Fusionsreaktor vom ITER-Typ noch nie gelungen, eine positive Energiebilanz zu erzielen.
Sibylle Günter, Wissenschaftliche Direktorin des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik, sagte angesichts der Verzögerungen aber dennoch, dass ITER dringend gebraucht werde, auch wenn es parallel kommerzielle und auch staatliche Projekte gebe, die nun möglicherweise schneller in Betrieb gehen. "Uns ist kein Projekt bekannt, das die Herausforderungen auf absehbare Zeit so umfassend untersuchen wird wie ITER", schreibt sie.
- neimagazine.com: "Final solenoid magnet arrives at ITER" (Englisch)
- ipp.mpg.de: "ITER-Baseline 2024"
- oeaw.ac.at: "ITER-Projekt"
- iter.org: "The ITER Machine" (Englisch)
- nzz.ch: "Fusionsreaktor Iter: Verzögerung und Mehrkosten von 5 Milliarden Euro" (kostenpflichtig)





