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Bürokratie-Abbau: Bundestag will Entlastungspaket beschließen


Tagesanbruch
Schlamassel ohne Ende

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 05.11.2025Lesedauer: 6 Min.
Der Parlamentarische Staatssekretär Philipp Amthor kämpft gegen den deutschen Bürokratiewust.Vergrößern des Bildes
Der Parlamentarische Staatssekretär Philipp Amthor kämpft gegen den deutschen Bürokratiewust. (Quelle: imago images)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

der deutsche Staat gleicht Gulliver: Das größte Land Europas ist ein gefesselter Riese, der die zentralen Probleme der Zeit – Energieumbau, Wirtschaftsschwäche, Migration, Digitalisierung – nicht entschlossen genug anpackt, weil er sich permanent in den bürokratischen Stricken verheddert, die er sich selbst angelegt hat. Zwischen 2010 und 2024 ist das Volumen der Bundesgesetze um 60 Prozent gewachsen und umfasst nun unfassbare 39.536 Druckseiten. Woche für Woche kommen neue Vorschriften und neue Paragrafen hinzu, nicht einmal mehr Staatsbeamte blicken da noch durch, weshalb Ministerien und Behörden aberwitzige Summen für Deutungshilfe ausgeben: Dem Bundesrechnungshof zufolge haben die Bundesregierungen der vergangenen zehn Jahre mehr als 1,6 Milliarden Euro für Unternehmensberater verpulvert. Die Ergebnisse sind oft verheerend – vom Maskenskandal bis zum verkorksten Heizungsgesetz.

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Trotz Heerscharen teurer Berater wächst auch der Behördenmoloch von Jahr zu Jahr: Sage und schreibe 960 nachgelagerte Behörden mit 350.000 Beamten leistet sich die Bundesverwaltung mittlerweile. Und all die Staatsdiener produzieren pausenlos Vorschriften, Auslegungsverordnungen und Bescheide. 64 Milliarden Euro betragen die Bürokratiekosten für Unternehmen und Bürger. Pro Jahr. Es ist ein Schlamassel ohne Ende – bisher.

So kann es nicht weitergehen, will Deutschland nicht als "Failed State" enden. Bundeskanzler Friedrich Merz hat den Bürokratieabbau zur Priorität erhoben und verspricht, anders als seine Vorgänger Angela Merkel und Olaf Scholz Wort zu halten. Bei denen bedeutete "Bürokratiebremse": Drei neue Gesetze rein, ein altes … na, schau'n wir mal.

Der neue Chef-Bürokratriebekämpfer heißt Karsten Wildberger: Der ehemalige Konzernchef von Media Markt/Saturn führt das neu geschaffene Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung. Heute Vormittag will das Bundeskabinett das erste Entlastungspaket beschließen, das der gelernte Physiker gemeinsam mit den anderen Ministerien geschnürt hat – oder sollte man eher sagen: das er ihnen abgerungen hat? Zwar lobt Wildberger die gute Zusammenarbeit, aber ein Selbstläufer scheint die Lichtung des Staatsdschungels nicht zu sein.

Kein Wunder. Erstens verbietet das Grundgesetz aus historischen Gründen die Vermischung der Verwaltungszuständigkeiten von Bund und Ländern. Wer zentrale Digitalstandards einführen will – ob für die Auto-Anmeldung oder Bauanträge – landet deshalb schnell im Kompetenzgerangel. Zweitens gilt das Regel-Überlagerungsprinzip: Byzantinische EU‑Vorgaben wie die Richtlinien zur Cybersicherheit oder zur Berichtspflicht über – Achtung, keine Satire! – die sozialen, ökologischen, ethischen und philanthropischen Folgen der Geschäftsstätigkeit bürden Firmen nicht nur haarsträubend komplexe Vorschriften auf, sondern sind auch nicht einfach per Federstrich aus Berlin abzuschaffen. Es braucht den Konsens von EU-Kommission und EU-Rat der Mitgliedstaaten, um einige der dicksten Fesseln zu sprengen, die den deutschen Gulliver knebeln. Und schließlich bremst drittens der Fachkräftemangel jede noch so gut gemeinte Initiative: Ohne IT‑Fachkräfte bleibt jedes Digitalportal ein schöner Vorsatz.

Was tun? Der Blick nach Argentinien zeigt: Mit der Kettensäge lässt sich zwar Wahlkampf machen – Regieren in einem Rechtsstaat funktioniert so aber nicht. Radikale Kahlschläge produzieren vor allem Widerstände und Klagewellen. Trotzdem braucht es auch hierzulande tiefe Schnitte – präzise, nicht brachial. Dabei geht es erst mal um das Wie, erst im zweiten Schritt um das Was. Drei Vorschläge:

1. Weniger ist mehr. Bundesgesetze sollten allgemeinverständlich formuliert sein und nicht Spezialfälle regeln, sondern allgemeine Prinzipien. Wo Unklarheiten bleiben, sollten der Markt entscheiden oder Richter schlichten.

2. Umkehr der Beweislast. Wo keine Sicherheitsrisiken drohen, sollten Genehmigungen nach Ablauf kurzer Fristen automatisch als erteilt gelten – allein der Verzicht auf umständliche Doppel- und Dreifachanträge würde viel Geld und Nerven sparen.

3. Einmal genügt. Bürger und Firmen sollten Daten nur ein einziges Mal angeben müssen, gespeichert und mit persönlicher ID verbunden auf Staats-Servern wie in Estland oder Italien. Behörden dürften nach transparenten Regeln auf notwendige Daten zugreifen, aber ihre Kunden nicht mehr mit wiederkehrenden Formularschlachten behelligen.

Haben Merz, Wildberger und die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD den Mut zu so radikalen Schritten? Was fällt ihnen noch ein, um den deutschen Bürokratiewust zu bändigen? Acht größere Maßnahmen und einen Bericht mit 50 weiteren Detailregeln bringen sie heute auf den Weg. Weil wir es ganz genau wissen wollen, haben meine Kollegin Annika Leister und ich Minister Wildberger dazu befragt. Das Interview lesen Sie heute Mittag auf t-online. Ich sage es mal so: Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sich der deutsche Gulliver befreien kann. Zumindest einen Arm.


Rekord-Shutdown in den USA

Donald Trump, der Mann der zweifelhaften Superlative, kann einen neuen Rekord vorweisen: Mit dem heutigen Tag dauert die Haushaltssperre, die seit dem 1. Oktober Bundesbehörden in den gesamten USA lahmlegt, so lange wie keine je zuvor, nämlich 36 Tage. Die bisherige Shutdown-"Bestmarke" stammte aus der ersten Amtszeit des US-Präsidenten. Um den Jahreswechsel 2018/19 brauchte es 35 Tage, bis sich Republikaner und Demokraten im Kongress auf ein Budget verständigen konnten. Gestritten wird diesmal um Gesundheitskosten für die Programme Medicaid und Obamacare, die Trump für überflüssig hält. Dass sich mittlerweile sogar unbezahlte Flughafenmitarbeiter vor Lebensmittelausgaben für Bedürftige anstellen müssen, dürfte ihn kaum rühren.

Das Augenmerk des Präsidenten wird sich heute vielmehr auf den Supreme Court in Washington richten: Der Oberste Gerichtshof der USA beschäftigt sich mit der Rechtmäßigkeit seiner aggressiven Zollpolitik. Was im Falle einer Entscheidung gegen ihn drohen würde, hat Trump den Richtern sicherheitshalber schon vor Augen geführt: nicht weniger als der "Untergang" des Landes. Allzu große Sorgen vor einer unabhängigen Justiz muss sich der Präsident allerdings nicht machen. Schließlich hat er höchstpersönlich für eine konservative 6-zu-3-Mehrheit in dem Gremium gesorgt.


Entscheidung im Big Apple

Auch New York macht heute Morgen Schlagzeilen: Die Bürgermeisterwahl in der größten US-Metropole hat ein bemerkenswertes Ergebnis hervorgebracht, das nicht nur in amerikanischen Medien für Eilmeldungen sorgt. Der 34-jährige Zohran Mamdani lag nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der Stimmen uneinholbar vorn. Damit bekommt New York fast ein Vierteljahrhundert nach den Anschlägen vom 11. September einen Muslim an der Spitze der Stadtverwaltung. Der Demokrat Mamdani konnte mit einem ausgeklügelten Wahlkampf und einer ausgesprochen linken Agenda überzeugen. Zu seiner ungewöhnlichen Biografie gehört auch eine Episode als Rapper.

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Urteil im Krankenpflegerprozess

Die Vorwürfe sind monströs: Um in seinen Nachtschichten möglichst wenig Arbeit zu haben, soll ein Pfleger in Würselen zwischen Dezember 2023 und Mai 2024 schwer kranke Patienten mit stark sedierenden Medikamenten totgespritzt haben. Auf neunfachen Mord und 34-fachen Mordversuch lautet die Anklage der Staatsanwaltschaft, die niedrige Beweggründe und Heimtücke als Mordmerkmale sieht und eine lebenslange Freiheitsstrafe mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld fordert.

Der 44-jährige Angeklagte betonte vor Gericht, dass er niemandem habe schaden wollen. Er habe geglaubt, den Patienten mit der Gabe der Narkosemittel etwas "Gutes" zu tun: Die Schwerkranken hätten schlafen sollen, denn Schlafen sei schließlich die beste Medizin. Seine Verteidiger plädierten auf Freispruch. Welcher Argumentation das Aachener Landgericht folgt, wird sich heute Mittag zeigen.


Schauspiel am Himmel

Heute am späten Abend ist über Deutschland der größte Vollmond des Jahres zu sehen. Dann befindet sich der Erdtrabant in seiner Umlaufbahn auf dem erdnächsten Punkt, dem Perigäum, in einem Abstand von 356.000 Kilometern. Wie gut sich der Supermond bestaunen lässt, hängt natürlich stark vom Wetter ab. Vor allem im Norden und Nordwesten sollen Wolken- oder Nebelfelder durchziehen. Meine Kollege Steve Haak verrät Ihnen, wann sich der Blick nach oben trotzdem lohnt.


Sie sind eingeladen!

Redakteure sind wichtig, Leser sind wichtiger. Deshalb laden wir am Dienstag, den 2. Dezember, wieder zum Lesertag von t-online in unsere Redaktionsräume in Berlin ein. Die Gäste lernen die Arbeitsabläufe in unserem Newsroom kennen, diskutieren mit meinen Kollegen und mir über die Themen der Zeit und über journalistische Prinzipien – und bereichern so unsere Arbeit mit Anregungen und gern auch Kritik.

Sie möchten dabei sein? Dann schicken Sie bitte bis Freitag eine E-Mail an folgende Adresse: lesermeinung@stroeer-publishing.de. Geben Sie den Betreff "Lesertag 2025" an und nennen Sie uns zwei Themengebiete, die Sie nachrichtlich am meisten interessieren. Wir stellen aus den Zuschriften eine gemischte Gruppe zusammen und melden uns bei Ihnen. Ich freue mich auf Sie!


Ohrenschmaus

Popdiva Lady Gaga tourt um die Welt – und macht Station in Berlin: Gestern Abend das erste Konzert, heute Abend das zweite. Die Frau weiß, wie massentaugliche Musik klingt.


Lesetipps

Können Syrer schnell zurück in ihre Heimat? Außenminister Wadephul zweifelt daran und hat seine Partei gegen sich aufgebracht. Den Spitzen von CDU und CSU gelingt es nicht, den Konflikt zu schlichten, berichtet unser Chefreporter Johannes Bebermeier.


Der ukrainische Präsident spricht Russland Erfolge in der umkämpften Frontstadt Pokrowsk ab. Doch die Lage für die Verteidiger wird immer bedrohlicher, schreibt mein Kollege Jakob Hartung.


Alex Karp ist einer der mächtigsten Tech-Milliardäre, seine Firma Palantir beliefert Armeen, Geheimdienste und Polizeibehörden mit einer Datenanalyse-Software. Kritiker befürchten, dass sie den totalen Überwachungsstaat ermöglicht. Stimmt das? Meine Kollegen Bastian Brauns und Marc von Lüpke haben Karps Biografen Michael Steinberger befragt.


Zwölfjährige sehen echte Tötungen auf Social Media – und viele Eltern merken es nicht einmal. Warum die Pädagogin Silke Müller eine digitale Ethik-Revolution fordert, hat sie meinem Kollegen Patrick Schiller erklärt.


Zum Schluss

Ich wünsche Ihnen einen bodenständigen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Annika Leister, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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