Tagesanbruch Ist das die Kriegswende?

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Die Angst geht um – nicht bei allen, aber bei vielen. Alarm an der Nato-Ostflanke, überall tauchen Drohnen auf, in Deutschland häufen sich die Sabotagefälle, und der Krieg in der Ukraine nimmt kein Ende. Die einen fürchten sich vor dem Atomkrieg, andere horten schon mal Gold oder überlegen, wo auf der Welt sie sicherer leben könnten. Laufend gibt es neue Anlässe, die zur Verunsicherung beitragen. In Washington denkt Donald Trump laut darüber nach, der Ukraine weitreichende Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen, die Ziele tief in Russland attackieren können – ein Schritt, den sein Vorgänger Joe Biden nicht wagte.
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Was tun wir in dieser Lage? Wir schauen ins Lexikon.
Tomahawk, der: Kriegsbeil indianischer Stämme in Nordamerika, Waffe für den Nahkampf. Symbolträchtig, jedoch ohne maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang des Konflikts mit den weißen Invasoren.
Tomahawk, die: Waffe aus US-Produktion, Marschflugkörper mit 2.500 Kilometern Reichweite. Symbolträchtig, jedoch ohne maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang des Konflikts mit den russischen Invasoren.
Zugegeben, ganz so stand es dort nicht. Ich habe der Entwicklung etwas vorgegriffen. Denn heute soll es darum gehen, wie riskant die Welt geworden ist, in der wir uns befinden. Droht Gefahr, akut oder latent? Was tut Trump da? Kann die Lage in der Ukraine eskalieren und die Nato, einschließlich Deutschlands, in den Krieg mit Russland schlittern? Schlägt Putin schon bald vor unserer Haustür zu?
Diese Fragen schweben über dem Treffen, das heute in Washington stattfindet: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist zu Gast bei Donald Trump. Seit Jahresbeginn hat der US-Präsident versucht, Putin an den Verhandlungstisch zu lotsen – erst per Kuschelkurs und mit Schmeicheleien, die am Kremlchef abperlten, dann mit angedrohten Sanktionen, denen keine Taten folgten. Der Frust wächst im Weißen Haus. Im Sommer haben US-Geheimdienste begonnen, ihren ukrainischen Kollegen mit präzisen Informationen beim Zielen zu helfen. Seitdem treffen Drohnen aus Kiew immer öfter russische Raffinerien und Infrastruktur.
Die Folgen des Krieges sind nun auch tief in Putins Reich zu spüren: Russen stehen Schlange an den Tankstellen, die Wirtschaft schwächelt, die Kassen des Kremls leeren sich. Aber Putin bewegt sich nicht. Sein ehemaliger Kumpel Trump lässt deshalb durchblicken, dass er über eine neue Stufe der Unterstützung nachdenkt. Er stellt in Aussicht, Tomahawks für die Ukraine freizugeben. Aber was passiert dann eigentlich?
Die Antwort lautet: erst einmal nicht viel. Tomahawks werden von Schiffen abgefeuert, von denen die Ukraine keine hat, oder von U-Booten, die es dort erst recht nicht gibt. Erste landgestützte Abschussanlagen sind erst in den vergangenen Jahren in Dienst gestellt worden und noch rar. Ukrainische Ingenieure sind zwar bekannt dafür, aus sowjetischem Altgerät und westlicher Neuware erstaunliche Systeme zusammenzuzimmern, aber über Nacht geht das nicht. Gibt Trump grünes Licht, fliegt noch lange kein Geschoss los.
Und wenn sie schließlich fliegen, müssten es viele sein: Um einen Effekt zu erzielen, der nicht nur kurzfristig wirkt, sondern den Verlauf des Krieges nachhaltig beeinflusst, wären Hunderte Tomahawks und eine kontinuierliche Lieferung erforderlich. Zuletzt verfeuerte das US-Militär jedoch selbst mehr Exemplare, als von den Bändern rollten. Die Vorsorge für einen Konflikt mit China, etwa um Taiwan, bindet große Teile der vorhandenen Bestände. Selbst wenn Selenskyjs Armee die begehrte Waffe bekommt, dürften Tomahawks daher in der Ukraine eine rare Waffe bleiben.
Die Zeiten haben sich geändert, seit Trump durchs Weiße Haus irrlichtert, und das hat auch seine Sonnenseiten. Die Angst vor der nuklearen Eskalation braucht einem nicht den Schlaf zu rauben – eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass das Markenzeichen des US-Präsidenten seine Unberechenbarkeit ist. Trumps chaotischer Schlingerkurs, heute dies, morgen das, und keiner weiß, welche irre Aktion morgen kommt: Das hätte man eher als Gefahr für den Weltfrieden eingeordnet, nicht als Beitrag zur Stabilisierung.
Doch Trumps permanente Kurswechsel nehmen seinen Entscheidungen das Gewicht. Als sein Vorgänger Joe Biden der Ukraine nach langem Bitten schließlich erlaubte, weitreichende Waffen gegen Russland einzusetzen, bedeutete das einen Politikwechsel. Aus Putins Sicht war ein Damm gebrochen, und zur Antwort schlug die Oreschnik, eine atomwaffenfähige, gefährliche Mittelstreckenrakete, in der Ukraine ein. Nun trifft Trump vielleicht schon heute eine ähnlich schwerwiegende Entscheidung (oder auch nicht, wer weiß das schon?). In seinem Fall bedeutet dieser Schritt: nicht viel.
Der Kreml weiß, dass er die Oreschnik im Silo lassen kann. Es gibt andere Optionen. Ein paar Telefonate und Schmeicheleien, verbunden mit symbolischen, aber ansonsten substanzlosen Zugeständnissen, können aus Selenskyjs bestem Freund im Weißen Haus rasch wieder den alten Putin-Kumpel machen. Alle sind sich dieser Unberechenbarkeit bewusst. Für Putin ist sie eine Chance. Deshalb ist als Antwort auf die Tomahawks vermutlich keine gravierende Eskalation, sondern eine lediglich gesichtswahrende Reaktion zu erwarten – gefolgt von einer Charmeoffensive, wenn Putin seine Karten klug spielt. Gestern Abend ging es schon los: Da kündigte Trump ein Treffen mit Putin in Budapest an.
Die außerordentliche Wandelbarkeit von Trumps Positionen hat allerdings auch andere, unangenehmere Konsequenzen. Die fliegen uns manchmal nicht nur um die Ohren, sondern in Form von Drohnen und russischen Jets auch durch den Nato-Luftraum. Ist die Allianz nur noch ein Papiertiger, weil der übermächtige amerikanische Partner gerade auf die europäische Luftraumpanik keine Lust hat? Sollen Esten, Polen, Dänen und Deutsche nach Ansicht des US-Präsidenten ihre Probleme gefälligst selbst lösen? Das kann man testen, und Putin tut es.
Zugleich sät der Taktiker im Kreml mit seiner Politik der Nadelstiche Verunsicherung in Europa und will damit die Unterstützung für die Ukraine untergraben. Hybride Attacken – durchtrennte Unterseekabel, Unterbrechungen des Flugbetriebs, Cyberangriffe – schüren Unruhe und fördern bei vielen Menschen den Wunsch, doch lieber vorsichtig zu sein, sich mit den Russen besser nicht anzulegen, seine Ruhe haben zu wollen.
Deshalb werden Putins verdeckte Attacken so bald nicht aufhören. Aber existenzielle Gefahr droht erst, wenn die Nato und Europa Schwäche zeigen. Russland ist gegenwärtig nicht in der Lage, sich mit der Allianz anzulegen, aber es arbeitet daran. Man braucht nicht vor Angst zu vergehen. Nur die Augen davor verschließen darf man nicht.
Hilfe gegen Putins Terror
Augen auf, das gilt auch bei der Lage in der Ukraine: An der Front, etwa nahe der nordöstlichen Stadt Kupjansk, ist die Situation zunehmend kritisch. Hier mussten Behörden wegen der "sich verschlechternden Sicherheitslage" jüngst die Evakuierung Dutzender Ortschaften anordnen. Zudem überzieht Putins Militärmaschine den Nachbarstaat weiterhin mit mörderischen Drohnen- und Raketenschauern, um die Strom- und Heizkraftwerke zu zerstören. Auch im bevorstehenden vierten Kriegswinter sollen die Angegriffenen im Dunkeln sitzen und frieren. Eine substanzielle Hilfszusage aus den USA könnte da zumindest für einen Hoffnungsschimmer sorgen.
Altkanzler vor U-Ausschuss
Zunächst wollte Gerhard Schröder gar nicht aussagen, dann zumindest die Öffentlichkeit von der Befragung ausschließen lassen. Heute aber wird der Altkanzler dem Nord-Stream-2-Untersuchungsausschuss des Landtags Mecklenburg-Vorpommern doch noch Rede und Antwort stehen – wenn auch nur per Videoschalte von seinem Büro in Hannover aus. Auf Wunsch seines Anwalts findet die Vernehmung des gesundheitlich angeschlagenen 81-Jährigen bereits um 10 Uhr statt, da andernfalls die notwendige "Frische und Konzentration" des Zeugen nicht garantiert sei.
Der Ausschuss untersucht die Vorgänge rund um die Klimaschutzstiftung Mecklenburg-Vorpommern, die Anfang 2021 gegründet worden war – maßgeblich, um die Ostseepipeline Nord Stream 2 für russisches Erdgas trotz Sanktionsdrohungen der USA gegen beteiligte Firmen fertig zu bauen. Finanziert wurde sie mit Geld der Nord Stream 2 AG, deren Verwaltungsratsvorsitzender Schröder bis heute ist. Am Nachmittag soll außerdem der ehemalige CDU-Politiker Helge Braun als Zeuge vernommen werden, seinerzeit Kanzleramtsminister von Schröders Amtsnachfolgerin Angela Merkel.
Lesetipps
Im Wahlkampf versprachen CDU und CSU, das Heizungsgesetz der Ampelkoalition abzuschaffen. Doch bis heute ist unklar, was stattdessen kommen soll. Beim Branchentreffen der Heizungsindustrie wurde Wirtschaftsministerin Katherina Reiche ausgebuht, berichtet meine Kollegin Amy Walker.
Seit Jahren bedroht Putin die Nato – doch Deutschland weiß immer noch nicht, wie es die benötigten Soldaten zur Landesverteidigung rekrutieren will. Unser Chefreporter Johannes Bebermeier kommentiert die Versäumnisse des Verteidigungsministers.
Innenminister Alexander Dobrindt macht Vorschläge, wie Deutschland künftig mehr abgelehnte Asylbewerber abschieben kann. Doch die Hürden sind hoch, schreibt mein Kollege Julian Alexander Fischer.
Ohrenschmaus
Erst vor wenigen Wochen feierte Horst Nußbaum seinen 85. Geburtstag. Nun ist der Mann, der sich nach seiner Fußballkarriere Jack White nannte, gestorben. Welche Entbehrungen er in der Kriegszeit überstand und welch ein genialer Komponist er war, wissen viele Jüngere gar nicht. Wir Älteren dagegen verbeugen uns ehrfürchtig und hoffen sehr, dass er irgendwo droben weitermusiziert.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.









