Tagesanbruch Sind ARD und ZDF zu links?

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Die Schlagzeilen sind düster: Trump und Ukraine, Drohnen und ein blutiges Familiendrama, Krise in Frankreich und dann auch noch das Nieselwetter. Es gäbe genug, worüber man sich bekümmern könnte. Trotzdem ist es ein anderes Thema, das die Gespräche im Kollegen- und Bekanntenkreis bestimmt, zumindest habe ich den Eindruck, und viele Leute teilen ihn: Drei Wochen nach dem Rauswurf der Moderatorin Julia Ruhs beim Norddeutschen Rundfunk drehen sich viele Diskussionen immer noch um die Linkslastigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien.
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Der Fall wirft grundsätzliche Fragen zur Rolle von ARD und ZDF auf. Die Journalistin wollte mit ihrer Sendung "Klar" konservativen Perspektiven auf Streitthemen wie Migration und Diversität Raum geben, musste jedoch nach massiver Kritik der NDR-Belegschaft an ihren Sendungen gehen und darf fortan nur beim Bayerischen Rundfunk moderieren. Ruhs zeigt sich "zutiefst enttäuscht, ja fassungslos" und spricht von einem "Armutszeugnis" für den NDR. In der Tat: Würden die öffentlichen Sender ihren Programmauftrag erfüllen, "die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen", schlüge der Fall Ruhs kaum so hohe Wellen. Es liegt also etwas im Argen. Aber wie sehr?
Das Bild mag auf den ersten Blick schräg wirken, aber der öffentlich-rechtliche Rundfunk wirkt wie eine moralische Zentralheizung: Alle Zimmer warm, manche Köpfe heiß. Viele Zuschauer behaupten, das Thermostat klemme links. Kann sein, kann aber auch an der Zugluft im eigenen Kopf liegen. Wahrnehmung ist eine heimtückische Optik: Wer mit einem Winkelfehler geboren ist, sieht überall Schräglage.
Die gängige Werkstattdiagnose lautet: Zwei Schrauben sorgen für den Linksdrall. Erstens die Personalauswahl. In den Redaktionen der Sender arbeiten überproportional viele Menschen, die sich links verorten. Damit sind ARD und ZDF in der Branche allerdings nicht allein, wie eine Studie der Universität Dortmund zeigt: Demnach neigen 41 Prozent aller befragten Journalisten den Grünen zu und 16 Prozent der SPD. Zur CDU sind es nur 8 Prozent, die AfD kommt gar nicht vor. Das bedeutet nicht, dass alle diese Journalisten zwangsläufig einseitig berichten, aber problematisch ist so eine homogene Weltsicht schon, weil sie in vielen Newsrooms einen Gruppendruck erzeugt. Es ist nicht einfach, abweichende Meinungen zu vertreten, wenn man dabei reihum in abweisende Gesichter blickt.
Die zweite Erklärung ist die Schaufensterlogik: Hör- und sichtbar sind vor allem laute Köpfe, und die Lauten sind auf Social Media. Wer X, Instagram oder TikTok öffnet, hört Georg Restle und Dunja Hayali, sieht Anja Reschke, stolpert über Jan Böhmermann. Die sind allesamt bürgerlicher oder gar konservativer Meinungen gänzlich unverdächtig und nicht nur auffallend mitteilungsbedürftig, sondern auch angriffslustig. Man braucht kein Abitur, um zu erkennen, dass gebührenfinanzierte Gegenstimmen fehlen. Jörg Thadeusz kann ja nicht alles allein machen.
Ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu links? Ja, nein, vielleicht – und zwar gleichzeitig. Ja, weil die sichtbarsten Meinungsangebote zu oft im linksliberalen Dauertenor und nicht selten auch mit jakobinischem Eifer daherkommen. Nein, weil Nachrichten und Recherchen in der Regel anders produziert werden als Kommentare und Satire. Vielleicht, weil die Aufmerksamkeitsökonomie – die Likes, die Retweets, der Shitstorm – jene Stimmen belohnt, die am schärfsten klingen. Deshalb freue ich mich über jeden Journalisten, der sich aufs Schreiben, Filmen, Senden konzentriert, statt sich in den sozialen Jauchegruben aufzuführen wie der Messias.
Was können ARD und ZDF gegen ihren Linksdrall tun? Als Vorschlag fünf einfache Regeln, die sich alle Senderredaktionen auferlegen könnten:
Erstens bekommt jede meinungsstarke Sendung eine Gegenrede auf demselben Sendeplatz – nicht irgendwann, sondern direkt im Anschluss.
Zweitens werden alle Chefredaktionen und politischen Teamleitungen mit rotierenden Doppelspitzen besetzt, die erkennbar unterschiedliche Weltanschauungen vertreten. Dafür werden aber nicht mehr Leute eingestellt, sondern andere befördert als gewöhnlich.
Drittens sollte nicht nur jeder Meinungsbeitrag klar gekennzeichnet werden – im Umkehrschluss darf auch tatsächlich kein anderer Beitrag Spuren von Meinung enthalten. Zudem hilft es, Quellen offenzulegen und Recherchewege transparent zu erklären.
Viertens könnte die Gästeauswahl in Talkshows vielfältiger sein. Wie wäre es, in jeder Sendung einen Platz per Losverfahren zu besetzen, um die immergleiche Dramaturgie zu durchbrechen?
Fünftens sollte jeden Monat ein unabhängiges Beobachtergremium eine Programmbilanz ziehen – nicht in Gremien hinter verschlossenen Türen, sondern live auf Sendung im Hauptprogramm. Schließlich ist nichts lehrreicher als konstruktive Kritik.
So würde aus dem Vorwurf des Linksdralls eine Einladung zur Differenzkultur. ARD und ZDF wären dann nicht länger die moralische Zentralheizung, die mal überhitzt und mal ausfällt, sondern ein gut gelüftetes Haus: Nachrichten im Erdgeschoss, Meinungen im ersten Stock, Kontroversen im zweiten – und auf dem Dach ein leiser, sturer Windmesser, der anzeigt, woher es gerade zu sehr bläht.
Herbst der Reförmchen
Wenn es noch was werden soll mit dem viel beschworenen "Herbst der Reformen", dann muss es jetzt losgehen. Zumindest darüber dürfte beim heutigen Spitzentreffen von Union und SPD im Kanzleramt Einigkeit herrschen; CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann mahnt schon mal einen "Koalitionsausschuss der Ergebnisse" an. Ganz oben auf der vollgepackten Tagesordnung steht die Reform des Bürgergelds, das künftig Grundsicherung heißen soll. Hier ringen die Koalitionäre noch um die Frage, wie Totalverweigerer sanktioniert werden, die angebotene Arbeit konsequent ablehnen. Ungeklärt ist etwa, ob und wann der von der Union geforderte komplette Entzug des Regelsatzes mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vereinbar ist.
Ein weiterer Knackpunkt für Schwarz-Rot ist das Verbot neuer Verbrennerautos in der EU ab 2035. Kanzler Friedrich Merz, der die kriselnde Branche am Donnerstag zum Autogipfel eingeladen hat, möchte das bereits beschlossene Aus kippen, Umweltminister Carsten Schneider will daran festhalten. SPD-Chefin und Arbeitsministerin Bärbel Bas wiederum deutet die Bereitschaft zu "Flexibilität beim Übergang in die Elektromobilität" an, um Jobs zu sichern. Bleibt zu hoffen, dass am Ende aller Kompromisse nicht ein "Herbst der Reförmchen" steht, der den enormen Herausforderungen in keiner Weise gerecht wird.
Es wird einsam um Macron
Bis heute Abend soll der zurückgetretene französische Regierungschef Sébastien Lecornu noch Verhandlungen führen und einen Weg zur Stabilisierung des Landes entwickeln. So hat es ihm Staatspräsident Emmanuel Macron aufgetragen, mutmaßlich, um Zeit zu gewinnen. Denn warum sollte es dem Kurzzeit-Premier gelingen, binnen zwei Tagen ein verlässliches Bündnis zu schmieden, wenn ihm das seit seiner Ernennung nicht geglückt ist? Einzig der Amtsverzicht des designierten Verteidigungsministers Bruno Le Maire – eine Personalie, die die konservativen Republikaner ablehnten – könnte ihm dabei helfen.
Unterdessen gerät der Staatschef selbst immer stärker unter Druck. Rapide mehren sich die Stimmen, die von Macron fordern, das Parlament erneut aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen – oder am besten gleich selbst den Rücktritt einzureichen. Sogar enge Vertraute wie der frühere Premierminister Édouard Philippe oder Gabriel Attal, Fraktionschef der Präsidentenpartei Renaissance, distanzieren sich vom einstigen Hoffnungsträger im Élysée-Palast. Der könnte natürlich auch einen weiteren Premier ernennen. Es wäre der vierte seit dem Sommer letzten Jahres.
Selbst schuld
Warum tun sich deutsche Behörden so schwer, Bedrohungen durch Drohnen wie jüngst am Flughafen München abzuwehren? Die Flughafengesellschaft ist zuständig für den Betrieb des Airports, die Deutsche Flugsicherung für die Sicherheit des Luftraums, die Bundespolizei für die Sicherheit des Flughafengeländes, die Landespolizei für die Sicherheit des Geländes rund um den Flughafen, die Bundeswehr darf im Inland dagegen fast nichts tun. Also verweist jede Behörde auf andere Behörden, und am Ende reagiert niemand schnell und entschlossen. Wie im Affenzirkus. Und in Moskau kann sich der Aggressor darüber freuen, wie die größte Demokratie Europas ihre Sicherheit auf dem Altar der Bürokratie opfert.
Ist das Wurst?
In Europa scheint es wichtigere Probleme zu geben als die Sicherheit von Leib und Leben. Zum Beispiel die Frage, ob pflanzliche Produkte nicht mehr Schnitzel, Wurst oder Burger heißen dürfen. Über ein mögliches Verbot von Bezeichnungen wie "Tofu-Wurst" oder "Soja-Schnitzel" stimmt heute nämlich das Europaparlament ab. Auch Kanzler Friedrich Merz und Landwirtschaftsminister Alois Rainer haben sich eingeschaltet und Zustimmung für den Änderungsantrag signalisiert, während Verbraucherschützer und Hersteller auf die Barrikaden gehen. Bevor ein Verbot verbindlich werden könnte, müsste auch noch eine Mehrheit der EU-Staaten zustimmen. Ein monatelanger Prozess.
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Ohrenschmaus
Oktoberwetter. Nass. Kühl. Erste Winterahnung. Wehmut oder Sehnsucht? Ich höre das hier.
Zum Schluss
Draußen ist Wetter! Wissen auch die Hessen.
Ich wünsche Ihnen trotzdem einen schönen Herbsttag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.









