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Deutschland macht es besser als Frankreich | Koalitionsausschuss


Tagesanbruch
Deutschlands bitteres Erfolgsgeheimnis

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 09.10.2025Lesedauer: 6 Min.
Kanzler Friedrich Merz versucht, große Pläne in kleinen Schritten umzusetzen.Vergrößern des Bildes
Kanzler Friedrich Merz versucht, große Pläne in kleinen Schritten umzusetzen. (Quelle: Michael Kappeler/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

sie haben die Nacht zum Tag gemacht: Stundenlang haben Friedrich Merz, Lars Klingbeil, Bärbel Bas, Alexander Dobrindt und die anderen Koalitionäre im Bundeskanzleramt in Berlin zusammengesessen, um im Koalitionsausschuss über dringende Streitthemen zu beraten. Die Bürger erwarten Entscheidungen, doch die Regierenden tun sich schwer; zu groß ist die Diskrepanz zwischen Klientelerwartungen und Pragmatismus. Der Herbst der Reformen droht zum Flop zu werden. Doch der Blick ins nahe Ausland dämpft den Frust. Der Reihe nach.

Deutschland ist eine Demokratie mit Stoßdämpfern. Unser Verhältniswahlrecht baut der Macht ein Gelenk ein: Statt der großen Faust gibt es die ruhige Hand. Koalitionen werden nicht geboren, sie werden geknetet – so wie in den vergangenen Stunden zwischen CDU, CSU und SPD. In stundenlangen Sitzungen drechseln die Politiker Sätze so lange, bis diese keine Splitter mehr aufweisen.

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Das hat seinen Preis. Der deutsche Kompromissmodus ist zäh wie Kaugummi, belohnt die Umstandskrämer und beflügelt selten zu Höherem. Aber er verhindert Totalabstürze. Die große Geste bleibt vor der Tür, in die Sitzung geht das Kleingedruckte – und herauskommt immerhin ein gewisser Fortschritt: zwar keine Sprünge, aber wenigstens Schrittchen.

In Berlin entstehen Gesetze nicht als Heldentaten, sondern als Bedienungsanleitungen für die Wirklichkeit. Es dauert lange, bis drei Parteien denselben Satz unterschreiben – doch wer unterschreibt, fühlt sich gebunden. Das ist die unspektakuläre Logik des Konsenses: Er produziert nicht die Schlagzeile von heute, sondern die Tragfähigkeit von morgen.

Schon richtig: Wer große Würfe sucht, wird hierzulande enttäuscht. Das Renten-, das Sozial-, das Gesundheits- und das Bildungssystem, die Bundeswehr, die Verwaltung, der öffentliche Rundfunk und manches mehr brauchen dringend eine Generalreform. Angesichts der gewaltigen Herausforderungen wirken die Details, mit denen sich Merz, Klingbeil und Co. nun stundenlang beschäftigt haben – das Bürgergeld und die CO2-Abgabe für Verbrennerautos –, eher kleinkariert. Ja, als deutscher Staatsbürger muss man sehr geduldig sein. Dafür fehlen hierzulande aber auch – wenn nicht gerade Grüne oder Gelbe regieren – plötzliche Richtungswechsel und ideologische Geisterbahnfahrten. Das Politikverfahren der Mitte ist nicht glamourös, aber rational: Wenn jeder Beteiligte ein wenig verliert, gewinnt am Ende das Gemeinwesen. So gesehen sind überschaubare Ergebnisse verkraftbar (siehe hier).

Der Blick zu unseren Nachbarn in Frankreich zeigt, wie es anders laufen kann. Das Mehrheitswahlrecht soll dort Klarheit erzwingen – erzeugt jedoch ein gespaltenes Parlament: drei verfeindete Lager, ein überforderter Ministerpräsident nach dem anderen und ein Präsident, dessen Autorität schneller zerbröselt, als man bis drei zählen kann. Wo der Konsens nicht eingeübt ist, verausgaben die Parteien sich in Schaukämpfen. Der Reformdruck wächst, die Schulden dito, und die Mitte stöhnt über den Stillstand, während Radikale von links und rechts jeden Aufbruch torpedieren.

Im Vergleich dazu ist der deutsche Weg nicht schöner, aber effizienter: Hierzulande wird der Dissens zum Regelbetrieb verarbeitet. Die Berliner Politik ist eher Klempnerei als Choreografie, doch sie hält die Rohre warm, auch wenn draußen der Frost klirrt. Kompromissbereitschaft ist kein Kuscheln, sondern eine Sicherheitsarchitektur. Sie schützt Minderheiten vor Überrumpelung und Mehrheiten vor Selbstüberschätzung.

In Deutschland funktioniert der Konsens wie Mörtel: Er wird niemals eine bildschöne Statue wie von Michelangelo formen, aber ohne ihn stürzt jedes Haus ein. Wer schnelle Siege will, baut bunte Zelte. Wer dauerhaft gut leben möchte, baut Mauern – Stein für Stein, mit Mörtel zwischen den Fugen. Genau darin liegt bei aller berechtigten Kritik am politischen Schneckentempo der Segen des deutschen Systems: Es ist nicht die Kunst, Recht zu behalten, sondern die Kunst, gemeinsam nicht Unrecht zu tun. So gesehen lohnt es sich durchaus, wenn Politiker sich die Nächte um die Ohren schlagen.


Ein Frieden für Gaza

Es ist ein echter Lichtblick: In der Nacht kam tatsächlich die ersehnte Nachricht, dass sich Israel und die Terrororganisation Hamas auf die erste Phase eines Friedensabkommens geeinigt haben. Der Plan sieht den Rückzug der israelischen Armee hinter eine bestimmten Linie und die Rückkehr aller in der Gewalt der Hamas befindlichen Geiseln vor. Im Gegenzug soll Israel unter anderem bis zu 2.000 inhaftierte Palästinenser freilassen. Mehr dazu lesen Sie hier.

US-Präsident Donald Trump legte großen Wert darauf, die Einigung als Erster zu verkünden. "Das ist ein wundervoller Tag, ein wundervoller Tag für alle", schwärmte er. Israel und die Hamas bestätigten das Abkommen. Die Behörden im Gazastreifen wiesen die Bewohner dennoch an, vorsichtig zu bleiben. Sie warnten vor möglichen israelischen Verstößen einer Waffenruhe. UN-Generalsekretär António Guterres mahnte alle Beteiligten, sich an die Vereinbarung zu halten. Er forderte sie dazu auf, "diese einmalige Gelegenheit" für den Weg hin zu einer Zweistaatenlösung zu nutzen, die es Israelis und Palästinensern ermöglichen würde, in Frieden und Sicherheit zu leben: "Noch nie stand so viel auf dem Spiel."


Autogipfel im Kanzleramt

Sinkende Absatzzahlen, Gewinneinbrüche, Stellenstreichungen: Die deutsche Autoindustrie steckt in der Krise. Weil es sich um eine Schlüsselbranche handelt, an der Millionen Arbeitsplätze hängen, lädt Kanzler Friedrich Merz trotz der langen Koalitionsnacht heute Vertreter von Herstellern und Zulieferern, Verbänden und Gewerkschaften zum Gipfelgespräch in die Regierungszentrale. Wie er ihnen helfen will, hat der CDU-Chef auch schon kundgetan: Das von der EU ab 2035 geplante Verbrennerverbot soll aufgeweicht werden. Parteiübergreifende Unterstützung bekommt er von den Ministerpräsidenten der Autoländer Niedersachsen und Bayern, selbst die Grünen-Spitze in Baden-Württemberg spricht sich für "Flexibilisierung" aus.

Ein bisschen absurd wirkt dieser Rückschritt nicht nur angesichts des unstrittigen Ziels, die CO2-Emissionen im Verkehrssektor zu senken. Er verwundert auch vor dem Hintergrund, dass die Konzerne von der Politik lange Zeit Planungssicherheit forderten. Außerdem zeigt der Fall des Sportwagenbauers Porsche, wie kostspielig es ist, nach Milliardeninvestitionen in die Elektromobilität nun wieder die klassischen Antriebe aufzufrischen. In China, wo das Regime längst einen klaren E-Kurs eingeschlagen hat, wird man die wankelmütige Haltung europäischer Konsumenten und Politiker allenfalls belächeln.

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EU-Chefin unter Druck

Nur drei Monate nach dem letzten Misstrauensvotum muss Ursula von der Leyen heute schon wieder um ihre politische Autorität kämpfen: Das Europäische Parlament in Straßburg stimmt über gleich zwei Misstrauensanträge gegen die Kommissionspräsidentin ab. Herausgefordert wird sie von der Linksfraktion einerseits und den extrem rechten "Patrioten für Europa" andererseits. Während die Linken ihr vorwerfen, die EU mit ihrem Zoll-Deal dem US-Präsidenten Donald Trump zu unterwerfen, attackieren die Rechtsextremen ihre Migrations-, Umwelt- und Klimapolitik.

Zwar gilt eine ausreichende Zustimmung für die Anträge als unwahrscheinlich. Notwendig wäre eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen und gleichzeitig die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments. Da Konservative, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne sich mehr oder weniger zähneknirschend hinter von der Leyen stellen dürften, ist das kaum realistisch.

Sorglos durchregieren bis 2029 kann die Kommissionschefin dennoch nicht: Ihr wichtigster Unterstützer, der französische Präsident Emmanuel Macron, ist angezählt, und auch von ihrem deutschen Parteifreund Friedrich Merz kommt Kritik an der europäischen Regulierungsdichte.


Schöner Schreiben

Die Sieger in den wissenschaftlichen Kategorien Medizin, Physik und Chemie sind verkündet, heute ist die Hochkultur dran: Um 13 Uhr gibt die Schwedische Akademie in Stockholm bekannt, wem sie in diesem Jahr den Literaturnobelpreis zuspricht. Da das 18-köpfige Gremium die mit rund einer Million Euro dotierte Auszeichnung gern überraschend vergibt – im vergangenen Jahr an die Südkoreanerin Han Kang –, sei nur eine Negativ-Prognose gewagt: Der japanische Starautor Haruki Murakami, seit Jahrzehnten als Favorit gehandelt, wird auch diesmal nicht zum Zuge kommen. Oder gerade doch, weil niemand mehr damit rechnet? Verdient hätte er's.


Das historische Bild

Einst begeisterte sich Kaiser Wilhelm II. für "Zebroide". Warum, erfahren Sie hier.


Lesetipps

Europa wird von Krieg und Krisen heimgesucht – und konservative Politiker beschäftigen sich mit der Umbenennung von Fleischersatzprodukten. Mein Kollege Philipp Heinemann seziert das Veggie-Wurst-Verbot der EU.



Man liest morgens die Nachrichten – und möchte sich sofort wieder die Decke über den Kopf ziehen: Unser Kolumnist Christoph Schwennicke hat aufgeschrieben, wie er den Krisensturm verarbeitet und welche Rolle eine geniale TV-Serie dabei spielt.


Ohrenschmaus

Zum politischen Wurstdebakel fällt mir nur eines ein: Voilà.


Zum Schluss

Ich wünsche Ihnen einen herzhaften Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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