Tagesanbruch Undenkbar Erscheinendes wird möglich

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
der Nahe Osten erlebt historische Tage. Zäsuren kommen in dieser Weltregion öfter vor, doch meistens sind die Anlässe düster: noch mehr Hass, noch mehr Anschläge, noch mehr Krieg, seit Jahrzehnten geht das so.
Diesmal ist es anders. Dank der Brachialdiplomatie von US-Präsident Trump sehen sich die Blutfeinde zum Friedenschluss genötigt: Der als Kriegsverbrecher angeklagte Benjamin Netanjahu und seine rechtsradikalen Minister einerseits sowie die Terroristen der Hamas und ihre Komplizen in den arabischen Golfstaaten andererseits haben klein beigegeben und zumindest begonnen, "Donald's Deal" umzusetzen. Alle noch lebenden israelischen Geiseln sind frei, die Bilder ihres Glücks sind rührend. Im Gegenzug dürfen Hunderte palästinensische Häftlinge die israelischen Gefängnisse verlassen und zigtausende Menschen in ihre Heimatorte im Gazastreifen zurückkehren. Dort steht zwar kaum noch ein Stein auf dem anderen. Dennoch birgt dieser Moment die Chance für eine dauerhafte Befriedung der geschundenen Region.
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Damit bekommt der Nahe Osten die historische Gelegenheit, sich in die Riege der erfolgreich befriedeten Konfliktherde einzureihen. Aus vier Jahrzehnten ertönt ein wohlklingender Kanon gelungener Friedensschlüsse – von Nordirland über Bosnien und Mosambik bis Kolumbien und Nordäthiopien. Die Erfolgskriterien ähneln sich, allerdings erscheinen die Voraussetzungen für Israelis und Palästinenser besonders vertrackt. Zehn Bedingungen sind es, die erfüllt werden müssen.
Erstens: Um Kriegsparteien an einen Tisch oder wenigstens zum Einlenken zu bewegen, braucht es Druck. Den muss ein mächtiger Dritter ausüben. Was er bei Putin vermissen lässt, hat Donald Trump gegenüber Netanjahu und den verbliebenen Hamas-Anführern bewiesen: Wenn die Weltmacht USA ihr ganzes Gewicht in die Waagschale legt, wird selbst undenkbar Erscheinendes möglich.
Zweitens: Am Beginn jedes dauerhaften Friedens steht ein stabiler Waffenstillstand; ohne Ruhe kein Neuanfang. In Gaza ist der Anfang gemacht, aber noch wirkt die Feuerpause fragil.
Drittens: Paramilitärische Kämpfer müssen demobilisiert werden und in die Zivilgesellschaft zurückkehren können; ohne Abrüstung bleibt jedes Abkommen ein Papiertiger. Hier lässt das Zugeständnis der Amerikaner an die Hamas, dass diese ihre Waffen "noch eine Zeitlang behalten darf", ebenso wenig Gutes erwarten wie die Ankündigung der Terrorchefs, den "Kampf gegen Israel" fortzusetzen.
Viertens: Statt Siegerjustiz braucht es Teilhabe der Unterlegenen und institutionelle Machtteilung; es kommt darauf an, Gegner einzubinden, statt sie zu demütigen. Da die Verwaltungsstruktur im Gazastreifen nahezu vollständig zerschlagen wurde, liegt hier die größte Herausforderung und zugleich das größte Risiko: Gelingt es nicht, verlässliche zivile Strukturen aufzubauen, könnte die Hydra des Terrors bald ihr nächstes Haupt erheben.
Fünftens: Jeder Frieden benötigt einen Schiedsrichter, der Kompromisse anbahnen, Zugeständnisse belohnen und Verletzungen der Beschlüsse ahnden kann. Diese Aufgabe ist unendlich mühsam; ob der gegenwärtige US-Präsident sie dauerhaft auszufüllen bereit ist, kann zumindest bezweifelt werden.
Sechstens: Ohne das Bemühen um Gerechtigkeit ist kein Frieden von Dauer. Verbrechen erfordern Sühne, um Narben verheilen zu lassen. Eine Übergangsjustiz, die weder der Rache noch der Amnesie verfällt, ist eine große Aufgabe – und zugleich das Feld, auf dem etablierte Rechtsstaaten wie Deutschland helfen können.
Siebtens: Wer den Frieden nicht als echte Verbesserung erlebt, wird bald erneut anfällig für die Parolen von Gewaltaposteln. Deshalb ist die materielle Dividende so wichtig: Strom und fließendes Wasser, reparierte Häuser und Straßen, neue Jobs und Löhne, von denen sich Familien ernähren lassen. Kurzum: Alles, was einen geregelten Alltag ermöglicht. Auch hier können Deutschland und die anderen EU-Staaten unterstützen.
Achtens: Kein kriegsversehrtes Land verwandelt sich über Nacht ins Paradies. Jeder Friedensprozess ist zunächst einmal genau das: ein Prozess. Alle Beteiligten müssen sich auf kleine, aber stetige und überprüfbare Schritte nach vorn verständigen und überdies auf Sicherungsklauseln, die im Fall von Rückschlägen greifen, um das erneute Aufflammen von Gewalt zu vermeiden.
Neuntens: Eine Zutat wird bei Konfliktschlichtungen oft vergessen, was sich bitter rächen kann. Ist ein Gegner nicht vollständig besiegt worden, muss er sein Gesicht wahren können; niemand unterschreibt ein Abkommen, um öffentlich zu verlieren. So gesehen sind die Durchhalteparolen der Hamas-Terrorpaten in diesen Stunden zwar schwer zu ertragen, aber wohl unvermeidlich.
Neun von zehn Bedingungen – im Hinblick auf den jahrzehntelangen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erscheinen sie schier übermenschlich. Doch das so gern beschworene "Window of opportunity" steht diesmal tatsächlich einen Spaltbreit offen. Den Waffenstillstand sollten deshalb internationale Beobachter überwachen. Es braucht Sicherheitsarrangements, Aufbauprogramme, die unbeschränkte humanitäre Versorgung der rund zwei Millionen Palästinenser im Gazastreifen. Vor allem jedoch braucht es noch zwei weitere Dinge, denn sie bilden das zehnte Erfolgskriterium: sehr viel Geld und sehr viel Vertrauen. Fehlt es an beidem, wird der Friedensschluss kaum von Dauer sein.
Glückt er jedoch, könnte sich der zermürbte Nahen Osten als Vorbild für andere Konfliktregionen entpuppen. Auch im Sudan, im Südsudan, in Kaschmir und in Myanmar sehnen sich Millionen Menschen nach Frieden, in der Ukraine erst recht. Auch dort braucht es dringend eine Person von Gewicht und Einfluss, die sich dem Drohen und Vermitteln, dem Entschärfen und Aufbauen verschreibt. Ob Mister Trump mit all seiner Macht dazu bereit ist? Dann hätte er den Friedensnobelpreis tatsächlich verdient.
Benko vor Gericht
Auf mehr als 27 Milliarden Euro belaufen sich die Forderungen ehemaliger Mit-Investoren gegen den Tiroler Immobilienunternehmer René Benko. Doch um die ganz großen Deals seiner Ende 2023 pleitegegangenen Signa-Gruppe geht es erst mal noch gar nicht. In ihrer ersten Anklageschrift, die ab heute vor dem Landgericht Innsbruck verhandelt wird, konzentriert sich die Wiener Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft auf zwei Fälle mit der vergleichsweise überschaubaren Schadenssumme von 660.000 Euro, weil sie die Beweislast hier für besonders erdrückend hält: Vermögenswerte in dieser Höhe soll Benko beiseitegeschafft haben, um sie vor seinen Gläubigern zu verbergen. "Betrügerische Krida" lautet dafür der juristische Fachterminus in Österreich.
Konkret bezieht sich die Anklage auf eine Schenkung von 300.000 Euro an seine Mutter und eine Miet- und Betriebskostenvorauszahlung für drei Jahre von rund 360.000 Euro. Mögen diese Beträge im Kontext auch nach den sprichwörtlichen "Peanuts" klingen, so drohen dem heute 48-jährigen einstigen "Wunderwuzzi" im Falle einer Verurteilung allein in diesem Verfahren bis zu zehn Jahre Haft. Entscheiden muss darüber ein Schöffensenat, also eine Einzelrichterin gemeinsam mit zwei Laienrichtern. Das Urteil wird schon morgen Abend erwartet. Weitere Prozesse dürften folgen.
Frankreich schwankt weiter
Die Zeit drängt: Kaum hat der erst zurückgetretene und dann aufs Neue ernannte französische Premier Sébastien Lecornu seine Regierung zusammengestellt, muss er heute den Haushalt für das hoch verschuldete Land auf den Weg bringen. Ursprünglich war das Prozedere schon für gestern vorgesehen, doch weil Staatspräsident Emmanuel Macron zum Gaza-Gipfel nach Ägypten jetten wollte, wurde die erste Kabinettssitzung verschoben.
Heute Nachmittag ist eine Regierungserklärung Lecornus geplant, von der ebenfalls viel abhängt: Schließlich liegen schon wieder Misstrauensanträge von links und rechts gegen den Premier vor, über die die Nationalversammlung voraussichtlich morgen abstimmt. Um sie zu überstehen, braucht der liberale Politiker die Sozialisten – und dürfte versuchen, sie mit einem Kurswechsel bei der Rentenreform auf seine Seite zu ziehen.
Hessischer Bücherhimmel
Heute öffnet in Frankfurt am Main die Buchmesse ihre Tore. Der frisch gekürte ungarische Literaturnobelpreisträger László Krasznahorkai musste seinen avisierten Auftritt aus gesundheitlichen Gründen absagen, ihn vertritt die Autorin Nora Haddada als literarische Rednerin. Ehrengast der Literaturshow, zu der mehr als 1.000 Autoren und Aussteller aus 92 Ländern anreisen, sind die Philippinen. Ab Freitag hat auch das Lesepublikum Zutritt, zum Finale am Sonntag erhält der Historiker Karl Schlögel den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
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Ohrenschmaus
Cliff Richards' zuckrige Melodien muss man nicht für den Gipfel der Musikkunst halten. Aber Ohrwürmer sind sie zweifellos. Also lauschen wir anlässlich seines heutigen 85. Geburtstags mit Vergnügen seinem größten Hit.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.













