Tagesanbruch Zack, geplatzt

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Friedrich Merz wollte alles anders machen als die Ampelleute, endlich energisch regieren, mit einem "Herbst der Reformen" das Land aus der Krise hieven. Seit gestern Abend ist klar: Die schwarz-rote Koalition ist drauf und dran, ihr Aufbruchsversprechen zu brechen und das Ampeldrama zu wiederholen. Der Unterschied ist nur: Diesmal zanken sich weniger die Köpfe der Regierung untereinander, sondern die Spitzen der Regierungsparteien entzweien sich von ihren eigenen Leuten.
Auf zwei wichtigen Reformfeldern geraten der Kanzler und seine Minister unter Beschuss aus den eigenen Reihen. Eine Gruppe junger Unionsabgeordneter rebelliert gegen das Rentenpaket der Regierung; "das teuerste Sozialgesetz dieses Jahrhunderts" sei "gegenüber der jungen Generation nicht zu rechtfertigen". Ein Affront gegen SPD-Sozialministerin Bärbel Bas, aber auch gegen den Regierungschef.
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Gestern Abend folgte die nächste Salve aus den eigenen Reihen: Auf Druck empörter SPD-Parlamentarier musste die Regierung den mühsam errungenen Kompromissbeschluss zur Wehrpflicht mit Losverfahren vorerst stoppen, die angesetzte Pressekonferenz wurde kurzfristig abgesagt. Damit könnte sich nicht nur die dringend notwendige Ertüchtigung der Bundeswehr verzögern, überdies sind die Fraktionschefs Matthias Miersch (SPD) und Jens Spahn (CDU/CSU) bloßgestellt. SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius soll das geplante Gesetz in einer Fraktionssitzung per Generalabrechnung sturmreif geschossen haben – und Parteichef Lars Klingbeil besitzt nicht die Autorität, den Genossen einzufangen. "Ich kann nicht verstehen, wie man einen Gesetzgebungsprozess als Verteidigungsminister derart torpedieren und sich so destruktiv verhalten kann", giftet Unionsfraktionsvize Norbert Röttgen.
Erst schmiedet die Regierung einen Kompromiss, dann schießt sie ihn selbst ab: Das ähnelt tatsächlich dem Ampel-Harakiri. "Die Koalition zeigt einmal mehr, dass zentralen Akteuren offenbar das Handwerk zum Regieren fehlt", schreibt unser Reporter Daniel Mützel. "Das Hauptproblem dieser Koalition ist: Ihre Abläufe funktionieren nicht, ihre Kommunikation ist unabgesprochen, sie stiftet Verwirrung und Chaos."
Das hat Folgen. Mit destruktiven Aktionen wie bei der Rente und der Wehrpflicht schaden die führenden Politiker des Landes nicht nur ihrer eigenen Glaubwürdigkeit, sondern auch dem Ansehen der Demokratie. Mehr als die Hälfte der Wahlbevölkerung zeigt sich laut ARD-Deutschlandtrend unzufrieden mit deren Zustand. Drei Viertel der Bürger haben einer Umfrage des Beamtenbundes zufolge das Vertrauen in die Lösungskompetenz des Staates verloren. Viele Menschen, die sich von Schwarz-Rot Großreformen erhofften, werden bitter enttäuscht. Von der inneren und äußeren Sicherheit über die Rente und die Energieversorgung bis zur Migration und der Gesundheitspolitik: Statt beherzter Aufbrüche liefern die Regierenden Mogelpackungen, obwohl sie Rekordschulden anhäufen. Und dann platzen auch noch die mühsam angebahnten Kompromisse.
Dabei erscheint der Ärger vieler Abgeordneter sogar nachvollziehbar: Das dysfunktionale Rentensystem aus Angst vor älteren Wählern immer weiter zu alimentieren, geht auf Kosten der Jungen, deren künftige Ruhestandsansprüche schmelzen wie Eis in der Sonne. Statt der allgemeinen Wehrpflicht (und des Zivildienstes) einen Lotterie-Militärdienst einzuführen, ist angesichts der Bedrohung durch Putins Regime nicht nur unverantwortlich, sondern vermutlich auch verfassungswidrig. Unterm Strich steht der Eindruck, dass die Regierenden die Zeichen der Zeit verkennen. Zwar kleidet der Kanzler bei jeder Gelegenheit seine Reformappelle in viele schöne Worte. Doch wenn es an die Umsetzung geht, stolpert sein Team wie eine Amateurmannschaft über den Platz und macht die Dinger nicht rein.
Liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie den Tagesanbruch schon ein Weilchen lesen, dann wissen Sie, dass wir Autoren wenig von Pauschalkritik halten und uns stets darum bemühen, neben dem Schatten auch das Licht zu sehen. Stellen die Regierenden sich allerdings so unbeholfen an wie gegenwärtig, fällt selbst einem notorisch zuversichtlichen Beobachter ein konstruktives Urteil schwer. Versuchen wir's dennoch: Kritik tut ja nicht nur weh, sie kann auch Ansporn zur Verbesserung sein. Also, liebe Schwarze und liebe Rote: Organisiert euch besser, aber bitte dalli-dalli!
Waffen für Kiew
Nachdem Donald Trump im Nahen Osten einen fragilen Frieden vermittelt hat: Könnte der US-Präsident sich da nicht endlich mit vergleichbarer Entschlossenheit um die Beendigung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine kümmern? Diese Hoffnung äußerte jedenfalls Kanzler Friedrich Merz auf dem Gipfel im ägyptischen Scharm el-Scheich. Tatsächlich soll Trump zuletzt zweimal mit Wolodymyr Selenskyj telefoniert haben; am Freitag reist der ukrainische Präsident nach Washington, um über eine Lieferung von Tomahawk-Marschflugkörpern zu verhandeln.
Zunächst aber treffen sich heute in Brüssel die Nato-Verteidigungsminister, um über die Organisation weiterer Hilfspakete für Kiew zu beraten – erst intern, dann im Ramstein-Format mit allen Ukraine-Partnern. Ziel ist es, weitere Gelder zu mobilisieren, um im Rahmen der PURL-Initiative ("Prioritized Ukraine Requirements List") einsatzbereite Waffen aus US-Arsenalen für die Ukraine zu erwerben.
Insgesamt haben acht Nato-Staaten bislang vier PURL-Pakete im Gesamtwert von rund zwei Milliarden Dollar finanziert: Belgien, Dänemark, Deutschland, Kanada, Lettland, die Niederlande, Norwegen und Schweden. Das erste Paket wurde schon ausgeliefert, das zweite ist unterwegs. Im Nato-Hauptquartier könnte Verteidigungsminister Boris Pistorius heute das dritte Paket im Umfang von 500 Millionen Euro offiziell verkünden, das von Deutschland finanziert wird. Immerhin das funktioniert gut.
Tauziehen um Verdächtige
Ein Gericht in Bologna hatte schon grünes Licht gegeben: Der 49-jährige Serhii K., der im August bei Rimini festgenommene mutmaßliche Drahtzieher hinter den Nord-Stream-Anschlägen, dürfe nach Deutschland ausgeliefert werden. Weil der Ex-Offizier der ukrainischen Armee jedoch in Berufung ging, beschäftigt der Fall heute Italiens oberstes Gericht. Die abschließende Entscheidung wird am späten Abend erwartet.
Unterdessen verschärfen sich die Verstimmungen zwischen Deutschland und Polen: Dort sitzt ein weiterer Verdächtiger in Untersuchungshaft. Der 46 Jahre alte Mann kommt ebenfalls aus der Ukraine und ist nach Angaben der Bundesanwaltschaft ausgebildeter Taucher. Über eine mögliche Auslieferung an die Bundesrepublik muss erst noch entschieden werden, Polens Regierungschef Donald Tusk hat sich jedoch bereits dagegen ausgesprochen. Sollte den Ukrainern in Deutschland der Prozess gemacht werden, wird er voraussichtlich in Hamburg stattfinden – das Hanseatische Oberlandesgericht ist für Staatsschutzverfahren in Mecklenburg-Vorpommern zuständig, wo die Nord-Stream-Pipelines enden.
Geld zurück?
Können Bürger den Rundfunkbeitrag verweigern, weil sie das Programm der öffentlich-rechtlichen Sender für einseitig halten? Seine Entscheidung zu dieser Frage verkündet heute das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Eine Frau aus Bayern hatte wegen mangelnder Meinungsvielfalt gegen den Beitragsbescheid des BR geklagt und in den ersten beiden Instanzen keinen Erfolg gehabt. Sowohl das Verwaltungsgericht München als auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sahen die Kontrolle der Programmvielfalt nicht als ihre Aufgabe an und verwiesen auf das zuständige Aufsichtsgremium, den Rundfunkrat. Dort kann man Programmbeschwerden einreichen. Es ist davon auszugehen, dass die Leipziger Richter das genauso sehen.
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Lesetipps
Wird das Rentenpaket aufgeschnürt? Unionsabgeordnete verlangen an einem wichtigen Punkt Änderungen. Meine Kollegen Christine Holthoff und Johannes Bebermeier haben die Details.
Ein "historischer" Frieden? Der Deal zwischen Israel und der Hamas ist brüchig – und Trump könnte bald das Interesse verlieren, warnt der Nahostexperte Jan Busse im Interview mit unserem Politikressortleiter Mauritius Kloft.
Die Reform der Pflegeversicherung nimmt Form an. Doch auch hier sorgen die ersten Ergebnisse für Widerspruch, berichtet mein Kollege Julian Alexander Fischer.
Die Deutsche Bahn kommt ständig zu spät und nervt ihre Kunden. Statt so viel Geld wie möglich in Reparaturen zu stecken, gibt sie 200 Millionen Euro für Marketing aus – allein 50 Millionen Euro für fragwürdige Social-Media-Aktivitäten. Mein Kollege Steven Sowa hat noch mehr Details.
Ohrenschmaus
Gestern flog mir ein Sound ins Ohr, heute ist er immer noch drin. Gut, oder?
Zum Schluss
Dem Bahn-Management wünsche ich die Rückkehr auf den Boden der Tatsachen. Allen anderen Lesern einen federleichten Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.







