Tagesanbruch Verständlich – aber gefährlich

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
aufstehen, Radio an, t-online-App öffnen, was ist heute los? Jeder Tag bringt brisante Nachrichten, Aufruhr hier und Krise da, die digitalen Kanäle sind wie Staubsauger, sie schlucken unsere Aufmerksamkeit, unsere Zeit, manchmal auch die Empathie. Draußen ist Wetter, Eichhörnchen huschen über die Äste, doch der Blick wird von den kleinen Screens gebannt. Es würde sich wohl lohnen, öfter den Kopf zu heben und in die Welt zu schauen, statt immerzu auf das fiepende Kästchen.
Der Herbst legt dünnes Gold über die Stadt, malt Wälder an und Felder, als wolle er die Kanten der Tage weichzeichnen. In den Straßen steht das Nass, die erste Winterahnung weht heran, Eicheln und Kastanien ploppen aufs Pflaster. Man eilt durchs Laub, die Hände in den Taschen, und spürt im Kopf doch Bilder flimmern, streitende Politiker, Explosionen in Kiew, Exekutionen in Gaza, der Geiferer in Washington.
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Der Nachrichtenstrom schwillt immerzu an, er schwappt in jede Hirnwindung und stellt Fragen, ohne auf Antworten zu warten. Kein Wunder, dass viele Leute nur noch leiser drehen wollen. Radio aus, Fernseher aus, Handy weglegen, Computer runterfahren. Wie verständlich ist die Sehnsucht: ein Bankplatz unter buntblättrigen Linden, die Kaffeetasse warm, ein Buch, das von milderen Zeiten erzählt. Oder eine warme Couch neben einer Kerze, mit einer lieben Seele ins Gespräch vertieft. Wie verführerisch ist die Idee, den Lärm auszusperren, die Welt auf Zimmerlautstärke zu dimmen. Der Krisensturm ist ein schlechter Gesprächspartner; er schreit, ohne zuzuhören, er zerfasert die Aufmerksamkeit, bis sie reißt wie feuchtes Papier.
Doch der Herbst, dieser reife Lehrer, weist uns einen anderen Weg: Begib dich in die Langsamkeit, flüstert er uns ins Ohr, doch kehre auch wieder aus ihr zurück. Sammle Helligkeit wie Nüsse, trage sie bei dir, wenn der Sturm sich erhebt. Denn wer sich gänzlich vom Geschehen abwendet, räumt seinen Platz. Und die Leerstelle, die das Wegsehen hinterlässt, füllen jene, die die Welt zu ihrer Beute machen wollen. Dann nennt der amerikanische Präsident Gefangenenexekutionen durch Hamas-Terroristen "okay" – und niemand stößt sich daran. Dann verroht die Welt immer weiter und die Brutalen, Gemeinen, Gefühlskalten triumphieren. Dauert Schweigen zu lang, ist es ein Stimmzettel mit unsichtbarer Tinte.
Drum gehen wir in uns und fassen einen herbstlichen Gedanken: Erlaube dir den Spaziergang, den Blick in den Himmel, wo ein Kranich schwebt wie ein heller Gedanke, der plötzlich zu singen beginnt. Erlaube dir zu lachen, zu träumen und auch mal abzuschalten, denn Kraft wächst nicht im Sirenengeheul, sondern in der Selbstbesinnung. Doch wende dich nicht gänzlich ab vom Nachrichtenstrom. Sei kritisch, wähle aus und filtere – aber bleibe anwesend. Die Welt ist laut, weil sie bewohnt ist. Und wer bewohnt, der trägt Verantwortung.
Turbulenter Tag im Parlament
Für 12.20 Uhr ist die erste Lesung von zwei schwarz-roten Rentengesetzen anberaumt, um 16.15 Uhr steht das Wehrdienst-Modernisierungsgesetz auf der Tagesordnung – und in beiden Fällen dürfte sich ein alter Lehrsatz bestätigen, der auf den ehemaligen Verteidigungsminister Peter Struck zurückgeht: "Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hereingekommen ist." Die leicht fatalistische Formel passt trefflich zur aktuellen Gemengelage, in der sich die Koalitionäre noch im Vorfeld über ihre eigenen Kompromisse kabbelten: Beim Wehrdienst ist unter anderem die Idee eines Losverfahrens zur Musterung strittig, das Rentenpaket lehnt die Junge Gruppe der Unionsfraktion als zu teuer ab.
Zum Auftakt eines mutmaßlich turbulenten Parlamentstags spricht Friedrich Merz: Der Kanzler gibt eine Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 23. und 24. Oktober in Brüssel ab. Bei dem Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs will sich der CDU-Vorsitzende für eine Aufweichung des Verbrenner-Aus' in der EU im Jahr 2035 einsetzen. Noch so ein Thema, bei dem es in der Koalition vernehmbar knirscht.
Prozess zur Messerattacke
Die Tat löste landesweit Entsetzen aus – und mitten im Bundestagswahlkampf auch Forderungen nach einer härteren Migrationspolitik: Am 22. Januar attackierte ein offenbar psychisch kranker Afghane in einem Aschaffenburger Park eine Kindergartengruppe mit einem Messer. Er tötete einen kleinen Jungen und einen zweifachen Vater und verletzte drei weitere Menschen schwer. Der polizeibekannte, ausreisepflichtige Attentäter konnte wenig später festgenommen werden.
Heute beginnt am Landgericht der bayerischen Stadt das Sicherungsverfahren. Dabei geht es neben der Aufklärung der Tat vor allem um die Frage, ob der Beschuldigte bei der Attacke schuldunfähig gewesen sein könnte, was ein forensisch-psychiatrisches Gutachten nahelegt. In diesem Fall könnte das Gericht eine zeitlich unbefristete Unterbringung des 28-Jährigen in einer geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses anordnen. Für das Verfahren sind bis zum 30. Oktober sechs Verhandlungstage angesetzt.
Bezahlbarer Lappen
Den Führerschein zu machen, ist horrend teuer geworden. Auf bis zu 4.500 Euro taxiert der ADAC den Preis und nennt gestiegene Fahrzeug-, Sprit- und vor allem Personalkosten als Gründe. Dem Statistischen Bundesamt zufolge war der Lappen-Erwerb 2024 satte 38 Prozent teurer als noch im Jahr 2020. Verkehrsminister Patrick Schnieder will gegensteuern: Heute Nachmittag stellt der CDU-Ressortchef Eckpunkte seiner Reform zur Modernisierung der Fahrschulausbildung vor.
Lesetipps
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Kaum geht es darum, einer Krisenregion wie dem Gazastreifen mit Geld zu helfen, drängelt sich Deutschland vor. Warum eigentlich? Unser Politikchef Christoph Schwennicke fordert von der Bundesregierung mehr Gespür für die Stimmung im eigenen Land.
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Die Aktivrente wird zum Gesetz. Meine Kollegin Christine Holthoff erklärt, wie sie funktioniert und wer von ihr profitiert.
Ohrenschmaus
Vor Schaden sicher sein, ja, das wünscht man sich in diesen Tagen. Diese Herren aus Bristol haben den Wunsch wunderbar vertont.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen gut orientierten Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.







