Deutsche Zusage für Taurus erwartet Kommt jetzt der "Raketen-Doppelwumms"?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der Druck auf die Bundesregierung, deutsche Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern, steigt. Nach t-online-Informationen könnte die Entscheidung für den Taurus bald fallen.
Die Debatte um deutsche Marschflugkörper für die Ukraine nimmt Fahrt auf. Zuletzt forderten neben der Opposition auch immer mehr Politiker der regierenden Ampelparteien, die Taurus-Lenkwaffen an die Ukraine abzugeben. Bislang jedoch zeigte sich das Kanzleramt zurückhaltend. Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagte vor wenigen Tagen, die Taurus-Lieferung sei "jetzt gerade nicht unsere vorrangigste Priorität".
Offenbar ist sie es doch. Denn nun scheint eine baldige Entscheidung anzustehen. Wie aus SPD-Kreisen zu hören ist, wolle die Bundesregierung "in Kürze" die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine verkünden. Derzeit arbeite das Kanzleramt an einer Lösung mit dem wichtigsten deutschen Bündnispartner und größten Ukraine-Unterstützer, den USA.
Wie aus Kreisen der Regierungsparteien zu erfahren ist, habe auch die Luftwaffe "grünes Licht" für eine Lieferung deutscher Taurus-Waffen gegeben. Das Kanzleramt habe sich in der vergangenen Woche eine Vorlage des Bundesverteidigungsministeriums geben lassen, die die wichtigsten Fakten zum Taurus zusammenfasst: Verfügbarkeit bei der Bundeswehr, Risiken, Wirksamkeit der Waffe.
Damit könnte es zu einer Doppellieferung von Taurus-Marschflugkörpern und amerikanischen ATACMS-Raketen kommen. Wie mehrere Sozialdemokraten t-online bestätigen, ist für den Kanzler ein koordiniertes Vorgehen insbesondere mit den USA die Voraussetzung, um neuen Waffensystemen für die Ukraine zuzustimmen.
"Die Ukraine ist vertragstreu"
Die Biden-Regierung lehnte bisher die Lieferung ballistischer Kurzstreckenraketen vom Typ ATACMS ab. Doch auch in Washington könnte ein Kurswechsel anstehen: Laut "Politico" will Präsident Biden am Donnerstag im US-Kongress die Freigabe eines neuen Waffenpakets für die Ukraine beantragen. Ob das Paket die seit Monaten von Kiew erbetenen ATACMS-Raketen beinhaltet, ist unklar.
Bisher herrschte in Teilen der Biden-Regierung Skepsis, ob die Ukraine die ATACMS-Raketen (rund 300 Kilometer Reichweite) nicht auch gegen Ziele auf russisches Territorium einsetzen könnte. Insbesondere das Pentagon stellte sich US-Medien zufolge gegen eine Lieferung.
Auch in Teilen der deutschen Kanzlerpartei gibt es dieses Misstrauen, doch nicht bei allen. Mehrere SPD-Abgeordnete betonen im Gespräch mit t-online, dass die Ukraine den Briten und Franzosen für ihre Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow und Scalp die Zusage gegeben habe, damit nicht russisches Gebiet zu beschießen – und diese auch einhalte. "Die Ukraine ist vertragstreu", so ein Genosse.
Raketenwende in der SPD
Gründe für die Raketenwende könnte die enttäuschend verlaufende ukrainische Gegenoffensive sein. Die ukrainischen Streitkräfte konnten seit dem Start ihres Großangriffs Anfang Juni nur wenige Kilometer in russisch besetztes Gebiet vorrücken. Die russischen Verteidigungsanlagen haben sich als effektiver erwiesen als angenommen.
"Wir haben uns etwas anderes gewünscht, vor allem für die Ukraine", so der SPD-Außenpolitiker Adis Ahmetović zu t-online. Man dürfe aber nicht die falschen Schlüsse ziehen, nur weil die erste Phase der Offensive nicht schnell genug voranschreite. Die Operation sei noch lange nicht am Ende; umso wichtiger sei es, Kiew in diesem kritischen Moment mit dem auszustatten, was die Ukraine brauche. Dazu gehörten auch deutsche Taurus-Marschflugkörper.
"Die Ukraine verteidigt nicht nur ihre eigene Freiheit, sondern die Freiheit Europas", so Ahmetović.
Hinweise darauf, dass die Kanzlerpartei ihre Haltung zum Taurus ändert, hatte es bereits in den letzten Tagen gegeben. Als erster SPD-Politiker hatte sich Andreas Schwarz im "Spiegel" öffentlich vorgewagt. "Wir als Nato haben gesagt, solange die Ukraine uns braucht, helfen wir", sagt Schwarz t-online. Dazu gehöre auch, sich der geänderten Lage auf dem Schlachtfeld anzupassen.
"Die ukrainische Armee greift derzeit vor allem Nachschubwege und Munitionsdepots an. Der Taurus mit seiner hohen Reichweite kann der Ukraine bei diesen empfindlichen Schlägen gegen die russische Logistik enorm helfen", so der SPD-Abgeordnete.
Stockende Gegenoffensive
Die Ukraine hatte nach anfänglichen Problemen und beträchtlichen Verlusten ihre Taktik geändert. Laut westlichen Militärexperten schneiden bisher vor allem die ukrainischen Brigaden schlecht ab, die von der Nato ausgebildet und ausgerüstet wurden. Als Grund werden mangelnde Kampferfahrung und übereiltes Training an westlichem Gerät genannt.
Der ukrainische Generalstab setzt daher wieder verstärkt auf Artilleriefeuer, kleinere Vorstöße sowie auf Angriffe gegen die russische Kriegslogistik. Dem Militärexperten und Politikprofessor Carlo Masala zufolge können Taurus-Marschflugkörper diese Art der Operationsführung flankieren. "Vor allem gegen russische Kommandostellen und gut gehärtete Munitionsdepots im rückwärtigen Raum könnte die Ukraine den Taurus wirksam einsetzen."
Auch der SPD-Politiker Ahmetović sagt: "Wenn der Taurus dazu beitragen kann, die Ukrainer bei der Befreiung von weiterem besetzten Land zu unterstützen, sollte Deutschland die Lieferung in Betracht ziehen."
"Bunkerbrecher" mit großer Reichweite
Taurus-Marschflugkörper haben eine Reichweite von über 500 Kilometern, können Bunkeranlagen durchdringen und gelten als schwer abzufangen. Die Bundeswehr verfügt über 600 Taurus-Systeme, allerdings gelten derzeit nur 150 als einsatzbereit. Weitere könnten durch die Industrie instandgesetzt werden. Wie viele Marschflugkörper die Bundesregierung der Ukraine zur Verfügung stellen will, ist nicht bekannt.
Die heiße Phase der Gegenoffensive wird voraussichtlich noch bis Ende Oktober dauern, wenn die Regenzeit beginnt und das Kampfgeschehen verlangsamt. Es ist kein Geheimnis, dass der Westen bis dahin entscheidende Erfolge erwartet.
- Eigene Recherchen
- politico.com: "President Joe Biden is expected to unveil his request for additional Ukraine aid on Thursday" (englisch)