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Ukraine-Krieg: Zehntausende russische Soldaten begehen Fahnenflucht


Fahnenflucht in Russlands Armee
Ihnen droht die "Karussell-Strafe"


Aktualisiert am 12.10.2025Lesedauer: 6 Min.
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Russische Soldaten nehmen an einer Übung teil (Archivbild): Fahnenflucht ist in den Reihen der Kremltruppen ein verbreitetes Phänomen. (Quelle: IMAGO/Stanislav Krasilnikov/imago)
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Die Zahl der Fahnenflüchtigen in der russischen Armee steigt in diesem Jahr sprunghaft. Dahinter stecken oft persönliche Schicksale. Die russische Armee reagiert teils mit außergerichtlicher Gewalt.

Russlands Armee schreitet im Donbass voran. Langsam, aber stetig machen die Kremltruppen Geländegewinne und hinterlassen dabei verbrannte Erde. Doch der Blutzoll, den die russischen Soldaten dafür zahlen, ist außerordentlich hoch. Seit Monaten meldet die Ukraine Tag für Tag russische Verluste (Tote und Verletzte) von mehr als 1.000 Mann. Allein der ukrainischen Gegenoffensive bei Pokrowsk sollen laut Präsident Wolodymyr Selenskyj seit Mitte August mehr als 12.000 Russen zum Opfer gefallen sein.

Es sind erschreckende Zahlen. Doch noch kann Russland diese Verluste offenbar einigermaßen ausgleichen. Seit Jahresbeginn bis Mitte September soll der Kreml laut russischen Quellen 292.000 neue Soldaten rekrutiert haben, durchschnittlich gut 31.600 pro Monat. Zwischen Januar und August verzeichnete Russland demnach etwa 281.550 Verluste auf dem Schlachtfeld in der Ukraine – also durchschnittlich etwas mehr als 35.000 Tote, Verwundete und Vermisste pro Monat.

Bis zu zehn Prozent der russischen Soldaten in der Ukraine desertieren

Das geht aus authentischen Dokumenten des russischen Verteidigungsministeriums hervor, die das ukrainische Projekt "Ich will leben" veröffentlicht hat und die von unabhängigen Medien bestätigt wurden. Die Initiative ist durch eine Telefon-Hotline bekannt geworden, über die russische Soldaten Hilfe finden können, wenn sie sich Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine entziehen wollen.

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Quelle: t-online

Im Schatten der hohen Verlustzahlen und fortschreitenden blutigen Offensiven der Kremltruppen nagt jedoch noch eine weitere Entwicklung an der russischen Kampfkraft: Den Daten von "Ich will leben" zufolge hat sich die Zahl der fahnenflüchtigen russischen Soldaten im Vergleich zum Vorjahr mindestens verdoppelt. Hält der aktuelle Trend an, so heißt es, könnten bis Jahresende gut 70.000 russische Soldaten desertieren – etwa zehn Prozent der vom Kreml proklamierten gesamten Mannstärke in der Ukraine.

Besonders deutlich ist der Anstieg seit Januar 2024. Im Sommer 2025 haben demnach sechsmal mehr Soldaten desertiert als zum Beginn des Vorjahres. Laut dem ukrainischen Investigativprojekt "Frontelligence Insight" handelt es sich dabei vor allem um Vertragssoldaten. Das Durchschnittsalter der Deserteure beträgt demnach 37 Jahre, besonders stark repräsentiert sind die Altersgruppen zwischen 25 und 34 Jahren sowie zwischen 35 und 44 Jahren.

So desertieren russische Soldaten

Dem Bericht zufolge gibt es bei den russischen Soldaten fünf gängige Methoden zur Fahnenflucht:

  • Vor dem Einsatz aus der Kaserne verschwinden: Die Soldaten verlassen ihre Einheit noch in Russland, etwa bei Truppenrotationen, Trainings oder anderen Vorbereitungen für den Einsatz in der Ukraine. Der Vorteil dabei ist, dass die Soldaten keine Grenze übertreten und somit weniger Kontrollen fürchten müssen.
  • Nicht aus dem Urlaub zurückkehren: Hierbei reisen Soldaten legal aus der Kampfzone aus, kehren aber nicht mehr dorthin zurück.
  • Aus dem Krankenhaus verschwinden: Nach Evakuierung in Kliniken in Russland, etwa in Rostow-am-Don oder Belgorod, verlassen Soldaten unerlaubt die Krankenhäuser. In besetzten Gebieten gestaltet sich dieser Weg schwieriger. Aber auch Krankenhäuser in Russland sollen Soldaten als Patienten mittlerweile stärker überwachen.
  • Flucht direkt aus dem Gefechtsgebiet: Diese Gruppe ist in diesem Jahr laut den Zahlen besonders gewachsen – trotz hoher Hürden: Denn dieser Weg erfordert die Umgehung mehrerer Checkpoints in besetzten Gebiet und anschließend den Grenzübertritt nach Russland über schwächer kontrollierte oder korrumpierte Übergänge.
  • Gefälschte Urlaubspapiere und Bestechung: Dieser Weg ist vor allem anekdotisch belegt, es gibt also keine genauen Zahlen. Demnach legen Soldaten gefälschte Urlaubspapiere vor, um frontnahe Stellungen verlassen zu können. Entweder werden diese Dokumente nicht eingehend bei Grenzübertritten geprüft oder es wird mit Bestechungsgeldern nachgeholfen.

Das sind die Gründe für Fahnenflucht

"Kavkaz.Realii", das Nordkaukasus-Projekt von Radio Free Europe/Radio Liberty, hat die Gründe für die Fahnenflucht in der russischen Armee recherchiert. Dazu werteten die Journalisten gemeinsam mit Experten Berufungsurteile von Militärgerichten im südlichen Armeebezirk aus.

Die Motive der Deserteure sind demnach vielschichtig – eine Ablehnung des Kriegs gehört jedoch eher nicht dazu. Überraschend ist das nicht: Denn bis auf eine Teilmobilisierung im Herbst 2022 hat der Kreml bisher davon abgesehen, seine männliche Bevölkerung zwangsweise zu verpflichten. Stattdessen schafft der Staat finanzielle Anreize, um Menschen für den Krieg anzuwerben.

Eine deutlich größere Rolle spielen dem Bericht zufolge zumindest im südlichen Russland private Gründe. So sei ein häufiges Motiv Eifersucht: Eine Frau wird ihrem Mann in der Heimat mutmaßlich untreu und er verlässt die Front, um der Sache nachzugehen. Laut der Recherche veranlasst auch die Betreuung von Kindern oder erkrankten Familienmitgliedern die Soldaten zur Fahnenflucht. Oftmals versuchen sie demnach auch, eine offizielle Erlaubnis zum Verlassen der Front zu bekommen, die dann jedoch nicht erteilt wird.

Fehlende medizinische und psychische Unterstützung ist ein weiterer Grund. Zahlreiche Deserteure berichten, dass ihnen nach Verwundungen oder psychischen Belastungen Hilfe verweigert wurde. Manche litten unter posttraumatischem Stress oder chronischen Krankheiten, konnten aber keine Behandlung bekommen.

Auch schlechte Zustände in der Armee motivieren offenbar zur Fahnenflucht: Chaos, Druck durch Vorgesetzte, ausbleibende Zahlungen oder Misshandlungen. Einige Soldaten flohen auch schier aus Angst, "wie Kanonenfutter" in sinnlose, gefährliche Einsätze ohne Munition geschickt zu werden.

Russland ergreift Maßnahmen gegen Fahnenflucht

Russlands Armeeführung versucht bereits, der Entwicklung Herr zu werden, setzt dabei aber vor allem auf bürokratische Maßnahmen. So werden etwa die Kontrollen an Checkpoints erhöht. Außerdem arbeiten Polizei und Militär enger zusammen, um Deserteure an ihren Wohnorten aufzuspüren. Oftmals werden ihnen lange Haftstrafen von bis zu 15 Jahren angedroht.

Zumeist bleibt das jedoch symbolisch, denn ein größeres Interesse haben die russischen Kommandeure daran, dass die Soldaten wieder an die Front zurückkehren. Anstatt ein Gerichtsurteil abzuwarten, werden gefasste Fahnenflüchtige einfach wieder zurück in ihre Einheiten gebracht. Erst nach mehrmaliger Fahnenflucht kommt es tatsächlich zu Prozessen. Zudem setzt Russland wohl vermehrt auf sogenannte Sperreinheiten, also Trupps, die hinter den eigenen Linien Rückzug oder Flucht verhindern sollen.

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Gängiger scheint jedoch außergerichtliche Gewalt zu sein. Wiederholt gibt es Berichte von Folter oder Verstümmelungen an desertierten Soldaten. Auch Scheinhinrichtungen und tatsächliche Exekutionen sollen durchgeführt werden, um an Deserteuren ein Exempel zu statuieren und andere Soldaten von Fluchtgedanken abzuhalten. Getötete Deserteure werden zudem dauerhaft als "vermisst" gemeldet, damit ihre Familien keine Entschädigungszahlungen erhalten.

Fahnenflüchtige werden misshandelt

Der US-Sender CNN hat eine Reihe von brutalen Misshandlungen zusammengetragen, die russische Deserteure an der Front erfahren und die mit Videos oder Audiomitschnitten belegt sind. So werden Soldaten an Bäume gefesselt, wo sie ukrainischen Drohnen hilflos ausgeliefert sind. In anderen Fällen wurden Deserteure zu Zweikämpfen bis zum Tod gezwungen.

Auch Folter und öffentliche Erniedrigung scheinen ein häufig angewandtes Mittel gegen Fahnenflüchtige zu sein. In Videos sind in Gruben eingesperrte Männer zu sehen, die von ihren Kameraden als "Tiere" bezeichnet werden. Außerdem kursieren mehrfach Videos der "Karussell-Strafe": Dabei werden Deserteure an ein Fahrzeug angeleint, mit dem sie dann teils minutenlang im Kreis über Felder geschleift werden.

Grigory Swerdlin, der mit seiner Organisation "Get Lost" russischen Soldaten bei der Fahnenflucht helfen will, erklärte CNN dazu: "Gewalt ist das, was die russische Armee am Leben und zusammenhält."

Seinen Angaben zufolge berichten Deserteure von einer Kultur des Nihilismus an der Front: "Ihr Leben ist den Kommandeuren nichts wert. Für russische Offiziere ist der Verlust eines Panzers oder eines Fahrzeugs viel schlimmer als der Verlust von beispielsweise zehn oder 20 Menschen." Offiziere würden ihren Soldaten regelmäßig sagen, dass sie alle binnen einer Woche sterben würden. "Der Offizier wird eine andere Einheit bekommen, also ist das für ihn kein Problem", so Swerdlin.

Desertionen auch in ukrainischen Reihen ein Problem

Auch in der ukrainischen Armee ist Fahnenflucht ein wiederkehrendes Thema, vor allem weil der Personalmangel insgesamt ein größeres Problem für Kiews Truppen darstellt – manche Brigaden sind nur noch zu 30 Prozent besetzt. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber auch hier sollen die jährlichen Desertionen in die Zehntausende gehen. Schlechte Ausrüstung, mangelnde Rotation, Erschöpfung und geringe Moral bei Zwangsrekrutierten sind hier die vorherrschenden Motive.

Die Ukraine versucht, dagegen mit Amnestien vorzugehen: Wer sich freiwillig meldet, kann straffrei zurückkehren. Manche Soldaten nutzen das offenbar, um die Einheit zu wechseln und an einen weniger heiß umkämpften Frontsektor zu kommen. Weiterhin setzt die Armeeführung mit höheren Gehältern Anreize.

Laut Schätzungen von Experten müsste die ukrainische Armee in diesem Jahr 300.000 Männer einziehen, um ihre Einheiten adäquat aufzufüllen. Im vergangenen Jahr gelang jedoch lediglich die Rekrutierung von 200.000 neuen Soldaten.

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