Krieg in der Ukraine Die Zeit läuft ab

Der ukrainische Präsident spricht Russland Erfolge in der hart umkämpften Frontstadt Pokrowsk ab. Doch die Lage für die Verteidiger wird immer bedrohlicher.
Russlands Streitkräfte haben nach Einschätzungen des Instituts für Kriegsstudien (ISW) in den vergangenen Tagen ihre Angriffe auf Pokrowsk intensiviert. Demnach drängen russische Truppen von mehreren Seiten in die Stadt und setzen sich zunehmend dort fest. Geolokalisierte Aufnahmen zeigen russische Einheiten auch in den Orten rund um Pokrowsk.
Ein ukrainischer Offizier berichtete dem ISW, dass russische Einheiten versuchen, Beobachtungsposten und Drohnenstellungen im Stadtgebiet zu errichten. Moskaus Soldaten würden inzwischen sogar Dokumente von den wenigen Zivilisten prüfen, die sich noch in der evakuierten Stadt aufhalten – ein Hinweis darauf, dass sie sich im Stadtgebiet sicherer fühlten.
Die ukrainische Armee hält aktuell daran fest, die Stadt halten zu wollen, obwohl die Lage für die Verteidiger immer bedrohlicher wird. Mit Gegenangriffen gelang es zuletzt noch, den Vormarsch taktisch zu bremsen. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte in einer Videobotschaft gar, Russland habe dort "keine Erfolge erzielt". Er räumte jedoch ein, wie ernst die Lage sei. Denn sollten russische Streitkräfte ihre Positionen in und um Pokrowsk weiter ausbauen und konsolidieren können, dann wären Hunderte ukrainische Soldaten vom Nachschub abgeschnitten.
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Bewegen unter Drohnenschwärmen
Es gibt aktuell keinen anderen Frontabschnitt, an dem so intensiv gekämpft wird. Rund 30 Prozent aller Gefechte finden laut Selenskyj derzeit an der südöstlichen Front des Ukraine-Krieges statt. Dabei macht Moskau langsam Boden gut. Laut einer AFP-Analyse hat Russland im Oktober rund 460 Quadratkilometer ukrainisches Gebiet eingenommen – der höchste Wert seit Monaten. Besonders in der Region Donezk, so die Agentur, erobere Russland durchschnittlich fünf Quadratkilometer pro Tag.
Pokrowsk, einst eine Bergbaustadt mit 60.000 Einwohnern, ist heute eine zerbombte Ansammlung von Trümmern und Ruinen. Wie verzweigt die Kämpfe sind, schilderte ein Soldat der 68. Brigade dem Spiegel: Feindliche Gruppen seien "praktisch in allen Teilen der Stadt präsent", die Linien verlaufen unübersichtlich. Russische Trupps dringen in kleinen Gruppen vor, verschanzen sich in Ruinen und warten auf die Nachhut. Diese Infiltrationstaktik hat Moskau schon in den Feldern des Donbass erfolgreich eingesetzt und wendet sie nun in der Stadt an. Diese Strategie ist zwar verlustreich, weil die anstürmenden russischen Soldaten oft getötet werden. Aber einige Männer kommen durch, können Gebäude besetzen und Russland erzielt langsame Erfolge.
Den Verteidigern fällt es schwer, jeden Vorstoß kleiner Gruppen oder einzelner Soldaten mit Drohnen zu registrieren und abzuwehren. Gleichzeitig deckt die russische Armee die Infiltrationen mit ihren zunehmend größer werdenden Drohnenschwärmen, Luftangriffen und mithilfe von Artillerie ab. Auf Videos aus Pokrowsk ist zu sehen, wie zahlreiche Glasfaserdrohnen durch den Himmel schwirren und auf Bewegungen lauern, um ukrainische Soldaten und Fahrzeuge aufzuspüren und anzugreifen.
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In der Frontstadt setzten beide Seiten Hunderte dieser unbemannten Flugobjekte ein. Inzwischen gehen bis zu 80 Prozent der Toten und Verwundeten im Ukraine-Krieg auf Drohnen zurück.
Black Hawk Down?
Auf ukrainischer Seite antwortet Kiew mit riskanten Gegenangriffen auf die russischen Vorstöße. Besonderes Aufsehen erregte der Einsatz eines Black-Hawk-Hubschraubers, der ein Spezialeinsatz-Kommando in Pokrowsk abgesetzt haben soll.
Das russische Verteidigungsministerium behauptete, den Hubschrauber abgeschossen und alle Soldaten getötet zu haben. Ein Sprecher des ukrainischen Militärs dementierte das: Es gebe keine Bestätigung für den Verlust eines Black Hawk oder eines Spezialkommandos.
Eine Stadt im Kessel
Bereits in der vergangenen Woche hatte das russische Verteidigungsministerium erklärt, die ukrainischen Truppen in Pokrowsk seien eingekesselt. Derartige Erfolgsmeldungen wiederholte Moskau bereits mehrfach – doch Kiew weist diese Darstellungen zurück. Laut Einschätzung des ISW kämpfen russische Soldaten zwar in mehreren Stadtteilen, eine vollständige Umzingelung sei aber bisher nicht erfolgt. Auf Karten ukrainischer Analysten wie dem Projekt "DeepState" wird Pokrowsk als weitgehend umkämpfte Grauzone dargestellt.
Für eine Einkesslung müssten russische Truppen nicht nur das Gebiet um Pokrowsk besetzen, sondern auch Logistik und schweres Gerät nachführen. Das sehen Experten bislang nicht.
Der Verlust von Pokrowsk wäre für die Ukraine weniger ein taktischer, sondern vielmehr ein schwerer politischer Rückschlag. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den Befehl zum Halten der Stadt auch aus symbolischen Gründen gegeben – Pokrowsk gilt als Tor zu Kramatorsk und Slowjansk, den letzten Großstädten unter ukrainischer Kontrolle in der Region Donezk. Ein Verlust würde den Eindruck verstärken, dass Kiew im Donbass den Rückzug antreten muss.
Verluste stehen in keinem Verhältnis
Militärexperten wie der Österreicher Franz-Stefan Gady sehen darin ein gefährliches Dilemma: Die politische Führung wolle den Widerstand aufrechterhalten, während die militärische Lage das kaum mehr zulasse. "Die Verluste stehen in keinem Verhältnis zum taktischen Wert der Stadt", zitiert ihn der "Spiegel". In Pokrowsk drohe sich das Szenario früherer Niederlagen wie in Bachmut oder Awdijiwka zu wiederholen – Städten, an denen die Ukraine bis zuletzt kämpfte, um den Gegnern möglichst hohe Verluste zuzufügen und keinen symbolischen Sieg zu überlassen.
Auch Serhij Sternenko, ein nationalistischer Aktivist, zieht Parallelen zu diesen Schlachten: "Jedes Mal schnitt der Feind unsere Nachschubwege ab – jedes Mal gingen unsere Leute erst im letzten Moment mit hohen Verlusten heraus." Und der ehemalige Vize-Verteidigungsminister Vitalij Dejneha warnte, falls kein Rückzugsbefehl komme, könne es bald passieren, "dass wir die Löcher in der Front nicht mehr stopfen können und die im Hinterland angelegten Befestigungen schnell an den Feind fallen".
Storm-Shadows und Patriots
Während im Donbass jeder Meter umkämpft ist, geht der Krieg auch an anderer Stelle heftig weiter. Während Russland weiter jede Nacht großflächige Raketen- und Drohnenangriffe durchführt, schlägt die Ukraine mit Langstreckenwaffen tief im russischen Hinterland zurück. In der Nacht auf den 3. November traf eine ukrainische Drohne eine Rosneft-Ölraffinerie im Gebiet Saratow. Auch der Schwarzmeerhafen Tuapse wurde attackiert; zwei Schiffe und ein Terminal wurden laut ukrainischen Quellen beschädigt.
Um die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine vor dem Winter weiter zu verbessern, hat Großbritannien nun weitere Storm-Shadow-Raketen geliefert und Deutschland eine ungenannte Anzahl an Patriot-Systemen zur Verfügung gestellt.
In Moskau führt das jedoch nicht zu einem Umdenken. Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrats, schrieb auf Telegram, je mehr der Westen die Ukraine unterstütze, desto mehr Territorium "letztlich an das Mutterland Russland" zurückkehren werde. Damit wiederholt er Aussagen Putins, nach denen die Ukraine zu Russland gehöre. Der Kreml zeigt sich demnach nicht bereit, zu verhandeln und hält weiter an seinen ursprünglichen Kriegszielen fest: die Kapitulation der Ukraine.
- understandigwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, November 3, 2025
- tagesschau.de: Russland meldet Vormarsch in Pokrowsk - Angriffe auf Sumy
- spiegel.de: Russische Truppen infiltrieren eine ganze Stadt (kostenpflichtig)
- nytimes.com: A Thousand Snipers in the Sky: The New War in Ukraine (Englisch)
- deepstatemap.live: Karte von Pokrowsk
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, afp und reuters









