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9-Euro-Ticket in Berlin: Staukiller mit Potenzial


9-Euro-Ticket und Autoverkehr
"Dann gäbe es keine Staus mehr"

InterviewVon Antje Hildebrandt

01.07.2022Lesedauer: 5 Min.
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Stau in BerlinVergrößern des Bildes
Stau auf der Stadtautobahn A 100: Das 9-Euro-Ticket könnte das Verkehrsverhalten auf lange Sicht durchaus beeinflussen. (Quelle: Soeren Stache/dpa-Zentralbild/dpa/Archivbild/dpa)

In Berlin hat das 9-Euro-Ticket den Autoverkehr bisher zwar nur minimal reduziert. Aber ein Verkehrsexperte attestiert ihm Potenzial als Staukiller.

Ralf-Peter Schäfer ist Verkehrsexperte bei der Firma Tomtom, die weltweit für ihre Navigationsgeräte bekannt geworden ist. Im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur hat er die Wechselwirkungen zwischen dem 9-Euro-Ticket und dem Autoverkehr in Städten untersucht. Dafür hat er die Stauniveaus vor und nach der Einführung des Billig-Tickets verglichen.

t-online: Herr Schäfer, in kaum einer anderen deutschen Großstadt wurden so viele 9-Euro-Tickets verkauft wie in Berlin. Bislang sind es 1,25 Millionen. Wirkt sich das auf den Autoverkehr aus?

Ralf-Peter Schäfer: Ja, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Ich fahre selbst täglich mit dem Auto aus dem Südosten der Stadt ins Zentrum und passiere dabei zwei Stauschwerpunkte. Der Verkehr ist dort in den letzten Tagen besser geflossen als sonst.

Wie können Sie das Verkehrsaufkommen denn messen?

Mithilfe unserer Tomtom-Community, die wird gebildet aus Leuten, die unsere Apps, Navigationsgeräte oder fest verbauten Navigationslösungen im Auto nutzen. Es gibt auch Applikationen im Fuhrpark und bei Taxis. Wir können die Verkehrsdaten aus diesen Geräten sehr genau messen. Um nur mal eine Zahl zu nennen: In Deutschland können wir bei jedem sechsten bis siebten Auto die Geschwindigkeit messen.

Und dabei hat sich herausgestellt: Es gibt weniger Staus?

Absolut. Wir messen seit zwölf Jahren den sogenannten Stau-Index in 400 Städten weltweit. Dafür werden alle Fahrten innerhalb eines Jahres aufgezeichnet. Daraus wird eine Stichprobe gezogen. Man misst einmal die Geschwindigkeit in den Nachtstunden und vergleicht sie mit der Geschwindigkeit am Tag. Aus der Verzögerung wird der Stau-Index errechnet.

Um wie viel schneller sind denn die Berliner Autofahrer geworden, seit das 9-Euro-Ticket eingeführt wurde?

Der Zeitverlust aufgrund von Staus ist kleiner geworden – um circa zwei bis drei Prozentpunkte. Bei einer Fahrzeit von 60 Minuten wäre das ungefähr eine Minute.

Das ist nicht viel. Haben die Autofahrer das überhaupt bemerkt?

Es gibt Städte, da ist der Rückgang deutlich größer, bis zu zehn Prozentpunkte. Aber es ist schon ein fühlbarer Wert, wenn man im Auto sitzt und sich durch die Stadt bewegt. Sie dürfen nicht vergessen: Normalerweise nehmen die Staus in dieser Jahreszeit tendenziell zu.

In welcher Stadt fließt der Verkehr flüssiger?

Besonders in Hamburg, Wiesbaden und Freiburg fließt der Verkehr aktuell besser als in der Vergleichswoche im Mai.

Welche Rückschlüsse ziehen Sie daraus auf das Verkehrsverhalten der Bewohner?

Gute Frage. Zwei Wochen reichen nicht aus, um daraus generelle Schlüsse zu ziehen. Ob der Effekt nachhaltig ist, den wir aktuell sehen, hängt davon ab, ob das Neun-Euro-Ticket bleibt oder wieder ausläuft. Aber dass es einen Einfluss hat, ist jetzt schon deutlich. Und dieser Einfluss ist nicht unerheblich.

Woher wollen Sie wissen, dass der Rückgang des Autoverkehrs mit dem 9-Euro-Ticket zusammenhängt? Dass 1,25 Milionen Tickets verkauft wurden, heißt ja nicht, dass sie auch alle genutzt werden?

Wenn alle Käufer ihr Ticket beim Pendeln benutzen würden, wage ich mal eine kecke Prognose: Dann würden wir kaum noch Staus in Berlin sehen.

Da halte ich mal keck dagegen: Solange sich Baustellen monate-, wenn nicht jahrelang hinziehen, wird es zur Rushhour immer Staus geben.

Nicht unbedingt! Denn die Baustellen sind ja jetzt auch schon da. Aber wenn 1,25 Millionen Menschen konsequent vom Auto auf Busse und Bahnen umsteigen, würde sich der Pendlerverkehr auf der Straße um 40 Prozent reduzieren. Das ist gewaltig.

Steigt die Staugefahr nicht mit der Zahl der Baustellen?

Doch, klar. Es gibt Statistiken zur Frage, wie Staus entstehen: Circa ein Drittel entsteht durch Unfälle, ein Drittel entsteht durch Überlastung, wenn zu viele Autos zur gleichen Zeit losfahren, und ein Drittel durch Baustellen.

Kann es nicht auch an den hohen Benzinpreisen liegen, dass weniger Auto gefahren wird?

Diesen Punkt haben wir auch untersucht. Die Spritpreise hatten dabei aber nur hier und da kleine Effekte bewirkt.

Das heißt, egal wie knapp das Geld wird, fürs Autofahren ist immer noch was übrig?

Die Benzinpreise schwanken sowieso, auch vor dem Ukraine-Krieg hatten wir schon Preisschwankungen zwischen 1,10 bis 1,70 Euro. Autofahrerinnen und Autofahrer sind hier also bereits einiges gewöhnt. Es muss viel passieren, damit die Leute weniger oder langsamer fahren. Man darf auch nicht vergessen: Viele fahren geleaste Firmenfahrzeuge. Der Sprit wird dann oft auch vom Arbeitgeber bezahlt.

Am deutlichsten abgenommen hat der Verkehr in Hamburg, Freiburg und Wiesbaden. Was schließen Sie daraus?

Die Verkehrsdaten von TomTom machen keine Aussage über die Ursachen für eine Veränderung des Verkehrsflusses. Deswegen kann ich nur vermuten, was die Gründe sind: In Freiburg könnte es daran liegen, dass es schon vorher eine fahrradfreundliche Stadt mit großem Interesse an Alternativen zum Auto war und das 9-Euro-Ticket deswegen auf besonders großes Interesse gestoßen ist.

Gibt es auch Städte, in denen der Verkehr noch zugenommen hat?

Ja, beispielsweise in Kiel. Das lag aber wahrscheinlich daran, dass die Messungen von Tomtom in den Zeitraum der Kieler Woche fielen, die vom 18. bis 26. Juni stattgefunden hat.

Die Berliner Verkehrsbetriebe gehen davon aus, dass sieben Prozent der Käufer des 9-Euro-Tickets vom Auto auf Busse und Bahnen umsteigen. Würde das auf Dauer das Problem lösen, dass die Stadtautobahn zur Rushhour regelmäßig verstopft ist?

Die Zahl klingt nicht unplausibel. Der Effekt könnte nachhaltig sein, wenn man das Ticket verlängert. Ist natürlich ein teures Pflaster. Aber das ist der Stau auch. Stau heißt Zeitverzögerung, und wenn man die Kosten summiert, sind diese wahrscheinlich höher als das, was der Staat an Geld in die Hand nehmen müsste, um das 9-Euro-Ticket weiterhin zu finanzieren.

Was fällt denn da ins Gewicht? Die Kosten, die durch Arbeitsausfall entstehen?

Ich hatte eher an die Spritkosten gedacht. Im Staumodus verbrauchen Verbrennermotoren den meisten Sprit. Es wird auch mehr CO2 produziert. Dazu kommt der Zeitfaktor: Speditionen brauchen zum Beispiel mehr Fahrer und mehr Autos, um die gleiche Menge an Gütern in derselben Zeit zu transportieren.

Aber diese Kosten werden nicht in einer Statistik erfasst, weil sie von der privaten Wirtschaft getragen werden, oder?

Es gibt Schätzungen, dass diese Kosten bei zwischen 10 und 15 Milliarden Euro im Jahr liegen. Man müsste mal checken, ob die Kosten für das 9-Euro-Ticket nicht geringer sind.

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Die Grünen in Berlin träumen von einer autofreien Stadt. Kommen sie dem Ziel mit dem 9-Euro-Ticket näher?

Der Deutsche liebt sein Auto und die Individualität. Deswegen halte ich eine komplett autofreie Stadt für eher unrealistisch. Man kann aber dafür plädieren, den Kern der Innenstädte freundlicher für Fußgänger und Fahrradfahrer zu gestalten. Nehmen Sie die Friedrichstraße, die jetzt autofrei ist. Die ist trotzdem noch belebt, aber das Lebensgefühl ist jetzt viel besser.

TomTom verdient sein Geld unter anderem mit Navigationsgeräten. Sie haben ein Interesse daran, dass Menschen möglichst viel Auto fahren. Machen Ihnen die Verkehrsbetriebe mit dem 9-Euro-Ticket nicht das Geschäft kaputt?

Keineswegs. Wir entwerfen unter anderem Lösungen für Autos und Smartphones. Wenn Straßen wegfallen, weil sie für Autos gesperrt werden, verschwindet ja nicht der Bedarf an intelligenten Navigationslösungen. Einen Teil unseres Umsatzes erwirtschaften wir aber auch mit Dienstleistungen rund um das Thema Verkehrsplanung. Wir machen Analysen: Wie fahren Leute von A nach B? Wo gibt es Stauschwerpunkte?

Wir bedanken uns für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Ralf-Peter Schäfer
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