Erschossen beim Hanau-Attentat Wie Frau Unvar für ihren Sohn weiterkämpft
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ferhat Unvar war eines der neun Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau vor zwei Jahren. Seitdem kämpft seine Mutter für eine bessere Gesellschaft – und für eine lückenlose Aufklärung der Tatnacht.
Serpil Temiz Unvar wischt sich eine Träne aus dem Auge, als sie von der Tatnacht vom 19. Februar 2020 erzählt. Wie sie stundenlang Ferhat suchte, in der Hoffnung, dass er noch lebt. Doch ihr Sohn starb in jener Nacht. Erschossen von einem Rassisten. Am Samstag jährt sich der Anschlag, bei dem ein 43-Jähriger aus rassistischen Motiven neun Bürger mit Migrationshintergrund ermordete, zum zweiten Mal.
Ferhat Unvar hatte an diesem Abend einen Kiosk neben der Arena-Bar in Hanau-Kesselstadt besucht, ganz in der Nähe seines Wohnhauses. Seit der Nacht bleibt für Serpil eine Frage unbeantwortet: "Warum hat niemand nach Ferhat geschaut?"
Um 3.10 Uhr war der 23-Jährige tot. Rund fünf Stunden nach den Schüssen also. Was passierte in der Zwischenzeit? Hat Ferhat gelitten? Hat sich jemand um ihn gekümmert? Es sind Fragen, die Serpil quälen. Um 22 Uhr fielen die ersten Schüsse. Rund 16 Minuten später betraten ein Polizist und Sanitäter den Kiosk. Sie schauten jedoch nur auf die am Boden liegenden weiteren Opfer Mercedes Kierpacz und Gökhan Gültekin. Nicht aber nach Ferhat, der hinter der Theke lag.
Der 23-Jährige wurde zunächst weder von Rettungskräften, noch von Polizisten beachtet. Die Bilder einer Überwachungskamera zeigen, wie um 22.18 Uhr ein Polizist über Ferhat steigt, ohne ihn zu beachten. Zwei Minuten später wieder. Er spannt einen Schirm auf und schaut sogar auf ihn herunter. Erst 24 Minuten nach den ersten Schüssen wird Ferhat von der Polizei und den Rettungskräften das erste Mal untersucht.
Mutter von Opfer des Hanau-Anschlags: "Ich mache weiter für Ferhat"
Bis heute verfolgen Serpil Temiz Unvar die Bilder im Kopf, wie sie in der Nacht des 19. Februar in Hanau nach Ferhat suchte, vor der Arena-Bar, in Krankenhäusern, ohne Erfolg. Bis am Morgen ein Beamter die Namen der Toten verlas.
"Wir haben keine Zeit für unsere Trauer", erzählt Serpil Temiz Unvar im Gespräch mit t-online. "Wir machen einfach nur weiter für unsere Kinder. Ich mache weiter für Ferhat. Das ist meine Verantwortung. Was er erlebte, wofür er in seinem Leben kämpfte. Ich kämpfe für ihn weiter."
"Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst" – die Worte hatte Ferhat einst auf seinem Facebook-Profil gepostet. Serpil, Ferhats Bruder und Schwester sowie seine Freunde verstehen den Satz als Auftrag, das Gedenken an ihn aufrechtzuerhalten.
Gemeinsam mit den anderen Angehörigen der Ermordeten hat Serpil die Initiative 19. Februar gegründet, um an die Opfer zu erinnern und für eine lückenlose Aufklärung der Tatnacht zu kämpfen.
Zwei Jahre später bleiben noch immer offene Fragen. Warum besaß der Attentäter trotz psychischer Probleme einen Waffenschein? Weshalb wurde er in der Tatnacht nicht gestoppt? Wie gefährlich ist sein Vater? Wo bleibt die von der Politik versprochene Zäsur nach Hanau, wo der entschlossene Kampf gegen Rassismus?
Doch der Kampf für die Aufklärung war Serpil nicht genug. Sie entschied sich, schwerpunktmäßig zu Rassismus im Bildungssystem zu arbeiten und gründete am 14. November 2020 die Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Ferhat hätte an diesem Tag seinen 24. Geburtstag gefeiert.
Serpil Temiz Unvar sitzt während des Gesprächs in den Räumen ihrer Initiative. Auf mehreren nebeneinanderstehenden Tischen liegen Aufkleber, Poster und Flyer mit Ferhats Gesicht. An einer Wand ist das Logo gemalt, daneben hängt eingerahmt die Auszeichnung zum Aachener Friedenspreis, den sich die Initiative 19. Februar und die Bildungsinitiative teilen.
Hanau: Anschlagsopfer erlebte Diskriminierung in der Schule
In der Schule hatte Ferhat immer wieder mit Diskriminierung zu kämpfen, sagt seine Mutter. In den ersten Monaten nach dem Anschlag hatte sie sich Vorwürfe gemacht. Sie hätte ihn stärker unterstützen sollen. "Ich konnte nichts machen. Er dachte oft, dass ich ihn nicht schütze. Aber was konnte ich machen?" Wieder wischt sie sich eine Träne aus dem Auge.
Serpil Temiz Unvar weiß heute, dass nicht er das Problem war, und auch nicht sie – sondern ein Bildungssystem, das nachweislich Jugendliche mit Migrationsgeschichte strukturell benachteiligt. "Wenn es in der Schule eine Schlägerei gab, erzählte mir Ferhat, dass oft er beschuldigt wurde. Nur, weil er schwarze Haare hatte. Weißt du, was das für ein Kind bedeutet?" Sie hält inne. Stille. Dann nickt sie leicht. "Bildung ist der wichtigste Schlüssel gegen Rassismus und Diskriminierung."
Sie kämpfe nun für andere Kinder und Familien. "Damit sie nicht das erleben müssen, was mein Sohn und viele andere Kinder erleben mussten."
Bildungsinitiative Ferhat Unvar: Sensibilisierung und Empowerment
In der Bildungsinitiative bringen sich vor allem junge Menschen ein und gehen an Schulen. In Workshops schulen sie Jugendliche mit Rassismuserfahrungen, sensibilisieren Mitschülerinnen und Mitschüler und vor allem die Lehrkräfte. An den Schulen erzählen sie vom 19. Februar. Von der Tat, den Ermordeten und den Fehlern der Behörden.
Am zweiten Jahrestag des Anschlags wird Serpil Temiz Unvar mit den anderen Angehörigen an den beiden Tatorten am Heumarkt in der Innenstadt und im Stadtteil Kesselstadt an die neun Opfer erinnern.
Doch je näher der Tag rückt, desto bedrückender, desto schmerzhafter wird der 19. Februar für sie. "Jeden Tag sage ich: 'Ferhat, du hast noch drei Tage. Ferhat, du hast noch zwei Tage. Ferhat, du hast noch zwei Stunden."
- Gespräch in Hanau mit Serpil Temiz Unvar
- Eigene Recherche