"Krebspatientinnen stehen weinend in meiner Apotheke"
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Apotheker schlagen Alarm: Viele Medikamente sind in Deutschland kaum mehr lieferbar. Kinder, Krebspatienten und Herzkranke leiden darunter.
Der Medikamentenmangel in Deutschland wird immer schwerwiegender: Produzenten kommen nicht hinterher oder nehmen Wirkstoffe aus wirtschaftlichen GrΓΌnden aus dem Sortiment β weil sie nicht mehr kostendeckend produziert werden kΓΆnnen. AuΓerdem zeigt sich die empfindliche AbhΓ€ngigkeit von Lieferketten aus dem Ausland. Ein Hamburger Apotheker berichtet t-online von dramatischen Szenen, die sich in seiner Filiale abspielen.
Jeden Tag muss Lutz Schehrer gestresste Eltern oder verzweifelte schwerkranke Menschen enttΓ€uschen, weil Medikamente nicht verfΓΌgbar sind. "Krebspatientinnen stehen weinend in meiner Apotheke. Eltern sind mit den Nerven am Ende, weil sie nichts gegen die Schmerzen ihrer Kinder tun kΓΆnnen", erzΓ€hlt der Hamburger Apotheker t-online. "Der Frust ist riesengroΓ, manche Patienten mΓΌssen stundenlang rumtelefonieren, bevor sie fΓΌndig werden."
Hamburger Apotheker: "RiesengroΓe Belastung fΓΌr Kranke und das medizinische System"
Viele Medikamente seien derzeit gar nicht oder nur selten lieferbar, sagt Schehrer. Schmerzmittel fΓΌr Kinder, Breitbandantibiotika, verschiedene Arzneien fΓΌr Menschen mit HerzschwΓ€chen und HerzrhythmusstΓΆrungen, oder PrΓ€parate fΓΌr schwerstkranke Brustkrebspatientinnen sind nur einige aktuelle Beispiele. "Das ist eine riesengroΓe Belastung fΓΌr Kranke und das gesamte medizinische System", prangert Schehrer den Missstand an. Eine schnelle LΓΆsung der Situation sei nicht in Sicht.
Die Probleme seien vielfΓ€ltig, so Schehrer. "Deutschland ist vom Ausland abhΓ€ngig, wir haben kaum eigene ProduktionsstΓ€tten. Die Lieferketten laufen unrund oder gar nicht, auch die Lockdowns in China haben massive Auswirkungen." Doch die GrΓΌnde liegen laut Schehrer auch im deutschen System: "Wir haben zwar mitunter die hΓΆchsten QualitΓ€tsstandards, zahlen aber lΓ€ngst keine vernΓΌnftigen Preise mehr. Der Kostendruck der Krankenkassen ist zu hoch", sagt er.
Beschaffung von Medikamenten ist kompliziert
"Vereinfacht gesagt verhandelt jede Kasse mit jedem Produzenten fΓΌr jeden rezeptpflichtigen Wirkstoff eigene Preise", erklΓ€rt der Sprecher des Hamburger Apothekervereins. Das mache die Beschaffung extrem kompliziert und Deutschland zudem zu einem unattraktiven Markt fΓΌr Produzenten. "Viele Medikamente kΓΆnnen bei diesen Preisen nicht kostendeckend hergestellt werden." Die Folge: Deutschland geht leer aus.
Noch komme jeder Patient irgendwie zu einer Medikation, vermutet Schehrer. "Das ist oft aber mit riesigem Aufwand verbunden und erfordert viel KreativitΓ€t." Die Alternativen: Jonglieren mit Wirkstoffkonzentration und Dosierung oder ausweichen auf andere Apotheken β zur Not auch in Kliniken. "Jede Abweichung vom Rezept muss mit dem behandelnden Arzt abgesprochen werden. Es bleibt aber die Gefahr, dass die Krankenkassen sich bei der Abrechnung querstellen und Apotheker auf den Kosten sitzen bleiben."
- Patienten geht Zeit verloren: Schmerzmittel und Insulin sind knapp
Manche Mittel wie Paracetamol-SΓ€fte fΓΌr Kinder kΓΆnnten zwar auch selbst von den Apothekern hergestellt werden, doch das sei um ein Vielfaches teurer. "Das wird uns nicht bezahlt", sagt Schehrer. Es gebe auch noch ein viel praktischeres Problem: "Wir bekommen diese SΓ€fte nicht so schmackhaft hin wie die groΓen Produzenten, das will kein Kind zu sich nehmen."
Medikamentenknappheit: "Die Situation wird immer katastrophaler"
Schehrer fordert sofortiges Handeln der Politik. "Die Situation wird immer katastrophaler. Dabei dΓΌrfen wir nicht vergessen: Wir sind immer noch in einem hoch entwickelten Land in Westeuropa." In der vergangenen Woche war bekannt geworden, dass die intensivmedizinische Versorgung fΓΌr Kinder vielerorts am Limit ist (Lesen Sie hier mehr dazu).
"Gesundheitsminister Lauterbach ist natΓΌrlich ΓΌber die Problematik informiert", sagt Apotheker Schehrer, "er hat aber auch viele andere Probleme, die zu lΓΆsen sind". Er fordert, dass schnellstmΓΆglich KrisengesprΓ€che zwischen Politik, Krankenkassen, Γrzten, Apothekern und Produzenten gefΓΌhrt werden. "Perspektivisch brauchen wir wieder ausreichend ProduktionsstΓ€tten in Europa. Aber es braucht auch kurzfristig einen Notfallplan."