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Russe hilft queeren Ukrainern in München


Russe hilft queeren Ukrainern in München
"Wenn wir kommen, werden Schwule mit Messern aufgeschlitzt"


16.05.2022Lesedauer: 7 Min.
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Polina Kramarchuk und Kamil Safin vorm Baader Café in München. Kramartschuk ist erst vor wenigen Wochen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet.Vergrößern des Bildes
Polina Kramarchuk und Kamil Safin vorm Baader Café in München. Kramartschuk ist erst vor wenigen Wochen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. (Quelle: Tobias Friedauer)

Der Russe Kamil Safin lebt seit zehn Jahren in München. Hier engagiert er sich in der LGBTQ-Szene, hilft nun auch Flüchtlingen in der Stadt. Er und die Ukrainerin Polina Kramarchuk erzählen von Angst, Bedrohungen und Homophobie in ihrer Heimat – und im eigenen Kopf.

Kamil Safin kennt das Gefühl, in Deutschland ein Fremder zu sein. 2012 zieht er von Ufa, einer Millionenstadt am Uralgebirge, nach München; ein Studentenvisum macht es möglich. Seinen Bekannten und seiner Familie gegenüber behauptet er, seine Heimat aufgrund der besseren akademischen Möglichkeiten zu verlassen. Die Wahrheit verschweigt er.

Kamil Safin liebt Männer. Ein unmöglicher Zustand für die Gesellschaft, in die er geboren wurde. Nun, eine Dekade später, ist er ein Münchner durch und durch. Safin lebt mit seinem Ehemann im Glockenbach-Viertel, ist im Vorstand des Kulturvereins "Ahoj Nachbarn" und engagiert sich für die queere Szene. Und auch für Flüchtlinge aus der Ukraine – dem Land, das von den Truppen aus Safins Heimat Russland überfallen worden ist.

Russe in München engagiert sich für Ukrainer

Für viele ukrainische Flüchtlinge sind Menschen wie er ein Symbol der Hoffnung: In Städten wie in München ist es auch queeren Menschen möglich, sich ein neues Leben in Freiheit und Sicherheit aufzubauen. Dabei hilft ihnen unter anderem die Kontaktgruppe "Munich Kyiv Queer", die 2012 nach dem Christopher Street Day in München entstanden ist und bei der der 33-jährige Safin Mitglied ist.

Er und seine Mitstreiter setzen sich speziell für die Menschenrechte von homo-, bi- und intersexuellen sowie trans Menschen in der Ukraine ein. Als Ehrenamtlicher lernt Safin Polina Kramarchuk kennen. t-online trifft die beiden im "Baader Café", einem auch zur Mittagszeit rappelvollen Kiez-Treff im Glockenbachviertel.

Die trans Frau Kramarchuk ist einer der ersten Flüchtlinge, die sich bei "Munich Kyiv Queer" gemeldet hatte und die erste queere Ukrainerin, der Safin in München begegnet ist. Auch wenn ihr die geografische Orientierung noch zu schaffen macht, schwärmt sie von der Lebensqualität: "In meiner Heimat war es mir nicht möglich, über die Straße zu gehen, ohne Angst zu haben, angegriffen zu werden."

Berichte von Homophobie aus Russland und der Ukraine

Und das, obwohl Kramarchuk den Alltag der LGBTQ-Gemeinschaft in Russland – die englische Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Queere – als noch beschwerlicher als in der Ukraine einschätzt. Doch auch aus ihrer Heimat berichtet sie: "Es passierte ständig, dass Menschen mit dem Finger auf mich zeigten und mit beleidigenden Worten auf meine Transsexualität hinwiesen. Hier scheint sich keiner an meiner Existenz zu stören."

Ihre Angst vor der anti-queeren Propaganda der russischen Regierung habe bei ihrer Entscheidung, aus der Ukraine zu flüchten, eine große Rolle gespielt. Sie und Safin erklären: Während Russlands Politik in den vergangenen 20 Jahren eine rechtsnationale Richtung eingeschlagen hat, gebe es in Kyjiw, wie sie sagen, durchaus progressive Strömungen und eine zunehmend emanzipierte queere Community.

Kyjiw, das ist die Transkription der ukrainischen Schreibweise der Landeshauptstadt. Das in Deutschland gebräuchlichere Wort, Kiew, hat einen russischen Ursprung. Kramarchuk und Safin legen deshalb Wert darauf, die ukrainische Hauptstadt Kyjiw zu nennen. Die Schreibweise in der Initiative "Munich Kyiv Queer" wiederum entspricht der englischen Übersetzung.

Ukrainerin hat Angst vor übergriffigen Russen

Aktuell betreut die Gruppe ungefähr 100 Personen in der bayerischen Hauptstadt, die sich aus dem Kriegsgebiet gerettet haben. Kramarchuk half sie beispielsweise dabei, bei einer Privatperson im Münchner Stadtteil Sendling unterzukommen.

Die Angst vor übergriffigen Russen sitzt in der aus dem Donbass stammenden Kramarchuk besonders tief. Denn vor acht Jahren, als die russische Föderation die Krim annektierte und prorussische Bewaffnete im Osten der Ukraine aktiv wurden, musste sie schon einmal fliehen: "Wir hörten Gerüchte über angeblich sehr konkrete Drohungen der russischen Besatzer: 'Wenn wir kommen, werden Schwule mit Messern aufgeschlitzt'. Damit meinten sie generell queere Menschen wie mich."

In Kiew arbeitete Kramarchuk als Näherin, kochte gerne, ging gerne mit ihren Freunden spazieren oder besuchte das Theater. Sie war zufrieden, obwohl es ihr beinahe unmöglich war, aufgeschlossene Freunde außerhalb der LGBTIQ-Szene zu finden.

Trans Frau aus der Ukraine darf das Land im Krieg verlassen

Auch auf partnerschaftliche Liebe konnte sie kaum hoffen, erzählt sie. Sie fühlte sich als heterosexuelle Frau. Einen Mann zu finden, der sie in ihrem Geschlecht akzeptiert, sie als Frau begehrt und Privilegien für sie aufgibt, die als Norm gesehene heterosexuelle Paare genießen, wagte sie nicht zu hoffen.

Trotzdem war Kramarchuk glücklich, zumindest in ihrer gefühlten Geschlechteridentität leben zu dürfen: Seit drei Jahren ist ihr Geschlecht auch offiziell auf allen ukrainischen Dokumenten und ihrem Reisepass angeglichen. Im Krieg wurde das für sie zum Glück.

Sie hatte deshalb keine Schwierigkeiten, mit den anderen Frauen, Kindern und Rentnern das Land zu verlassen, als Russland die Ukraine überfiel. Im Gegensatz zu vielen anderen trans Menschen, die in ihrer Entwicklung und Namensänderung noch nicht so weit waren. Nun beginnt für Kramarchuk ein neues biografisches Kapitel.

Ukrainerin und Russe teilen Erfahrungen in München

Was ihr hier bevorsteht, kann Safin erahnen. Denn Frieden mit der eigenen Vergangenheit zu schließen, kann manchmal ungewöhnlich schwierig sein, wie er aus eigener Erfahrung berichten kann. Heute ist es vor allem sein Netzwerk, was er in München nutzt, um unter anderem queeren Flüchtlingen aus der Ukraine zu helfen.

Safin ist bekannt und kennt Leute in der ganzen Stadt. Für Neuankömmlinge vermittelt er Kontakte, sucht nach Unterkünften oder organisiert Spendenaktionen, nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch die queere Gemeinde in Kiew. Und er hilft als Übersetzer. Das alles tut er nie allein, darauf legt Safin Wert. In der Gruppe "Munich Kyiv Queer" arbeite man zusammen, die Hierarchien seien flach.

In Russland startete Safin seine berufliche Laufbahn als Englischlehrer. Ein Outing schien unmöglich. Er verbarg seine sexuelle Orientierung, doch gelegentlich traute er sich zum Beispiel, Fotoshootings mit Federboas zu posten: "Unter all diesen Bildern kommentierten Menschen Dinge wie: 'Du Schwuchtel, du solltest getötet werden.'"

Böse Vorurteile gegen Homosexuelle in Russland

Er sagt: "Ich habe das lange ignoriert, allerdings kamen dann auch viele Erpressungsversuche auf mich zu, in denen verschiedene Drohungen gegen mich ausgesprochen wurden." 2011 beginnt der damals 20-Jährige sich um eine Möglichkeit zu bemühen, im weniger homophoben Westeuropa zu leben.

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Denn auch in seiner eigenen Familie gibt es kein Verständnis für seine sexuelle Orientierung. In der Vergangenheit teilt er subtile Hinweise auf seine Verbindung zur queeren Szene. Seine Mutter sieht das. "Daraufhin schrieb sie mir sehr lange Nachrichten: 'Warum beschäftigst du dich mit diesen schmutzigen Menschen?' Meine Reaktion: 'Oh Gott Mama, wir müssen reden.'"

Doch für seine Mutter sei Homosexualität untrennbar mit HIV und Drogenkonsum verbunden. Sie empfiehlt ihm dringlich, mit solchen Leuten nichts zu tun zu haben. "Da brachte ich es nicht über mich, zu sagen: 'Mama ich bin auch so.'"

Russe in München kann mit Familie nicht über Krieg sprechen

In den vergangenen Wochen stellt Safin zudem fest, dass es für seine Mutter noch weitere Tabuthemen gibt, zum Beispiel den Krieg in der Ukraine. "Wenn du die meisten Russen fragst, was sie über Nawalny oder Putin denken, dann sagen sie dir: 'Bitte lass uns nicht über Politik reden. Das ist so kompliziert, wir sind nicht fähig, das zu besprechen'."

Erst in Deutschland habe er verstanden, dass Politik für jeden Bürger ein wichtiges Thema ist. In Russland hingegen hätten die Menschen Angst vor zu große Nähe zu Informationen. Instagram-Beiträge zum russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, der aktuell in einem russischen Straflager sitzt, werden von seiner Mutter mit einer langen Privatnachricht kommentiert. Sie schreibt, dass er das unbedingt lassen müsse, sonst bekäme er Probleme.

Kamil Safin ist queerer Influencer

Danach habe er seine Mutter auf allen sozialen Netzwerken blockiert – um zu verhindern, dass sie sieht, was er dort veröffentlicht. Er tut es, um belastende Diskussionen zu vermeiden – aber auch, damit sie sich keine Sorgen macht. Wenn er jetzt versucht, am Telefon die Lage in der Ukraine mit ihr zu besprechen, dann wechselt sie sofort das Thema. "Sie sagt zum Beispiel 'Ach Söhnchen, lass das, das wollten wir doch gar nicht besprechen. Hab einen schönen Abend Kamilchen, ich hoffe das Wetter bleibt gut' – und legt auf."

Für Kamil Safin, der seine kulturellen Engagements an über 30.000-Instagram-Follower ausspielt, gehört der Austausch von Wissen zwischen verschiedenen Ländern zu einem guten Leben dazu. Der Polyglott kann sich in zehn Sprachen verständigen, aktuell schreibt er seine Masterarbeit zum Thema "Identität und Zugehörigkeit in der russischen Literatur". Er hat viele kulturelle Heimaten, "Munich Kyiv Queer" liege ihm aber besonders am Herzen.

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"Ich spüre noch sehr viel internalisierte Homophobie in mir", gibt er zu. "Wenn jemand in russischer Sprache über Homosexualität spricht, sogar wenn es ganz neutral oder wohlwollend geschieht, dann finde ich mein eigenes Schwulsein in diesem kurzen Moment immer noch ekelhaft. Und wenn mich mein Mann zum Flughafen fährt, dann bekommt er den letzten Kuss im Auto. Am Gate gibt es nicht mal eine Umarmung. Denn meine Heimat fängt schon in der Schlange zum Flieger nach Moskau an."

Wenn Kamil Safin russisch spricht, dann ist seine Stimme zudem tiefer und seine Körpersprache rauer. Ein Identitätskonflikt, den sein Engagement zumindest beschwichtigt, wie er es beschreibt. Safin ist oft in das russische "Bruderland" Ukraine gereist, wie er es nennt.

"Munich Kyiv Queer" gehört zur Münchner Szene

Er besucht unter anderem den Christopher Street Day in Kiew und Odesa. Menschen in seiner ersten Muttersprache über queere Themen sprechen zu hören, sei ein sehr heilsames Erlebnis gewesen.

Vor dem Krieg habe er immer die weit entfernte Hoffnung gehabt, eines Tages als Lehrer ins Uralgebirge zurückzukehren, um den Jugendlichen dort eine erweiterte Perspektive auf die Welt zu schenken. Falls dies niemals passieren sollte, freue er sich, anderen russischsprachigen Menschen aus der LGBTIQ-Community dabei zu helfen, eine neue Heimat in München zu finden.

"Am Anfang dachte ich, ich müsste am besten nach Berlin", erinnert Safin sich. "Die Schwulenszene dort ist berühmt. Aber mittlerweile bin ich sehr glücklich über das Schicksal, in München gelandet zu sein. Und in München werde ich vielleicht mehr gebraucht."

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Kamil Safin und Polina Kramarchuk
  • "Munich Kyiv Queer": Wer wir sind
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