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EM 2021 | Effenberg: Dieses Problem im Fußball wird Löw nicht mehr lösen


Nationalmannschaft unter Druck
Das größte Problem im deutschen Fußball wird Löw nicht mehr lösen

MeinungEine Kolumne von Stefan Effenberg

Aktualisiert am 19.06.2021Lesedauer: 6 Min.
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Joachim Löw hat ein Problem: Seine Mannschaft schießt zu wenig Tore. Das kommt allerdings nicht von ungefähr, wie Stefan Effenberg erläutert.Vergrößern des Bildes
Joachim Löw hat ein Problem: Seine Mannschaft schießt zu wenig Tore. Das kommt allerdings nicht von ungefähr, wie Stefan Effenberg erläutert. (Quelle: ULMER Pressebildagentur/imago-images-bilder)

Deutschland spielt gegen Portugal und kämpft gegen ein frühes Aus bei der EM. Warum der Bundestrainer nur eine Änderung vornehmen sollte und die Nationalmannschaft so wenig Torgefahr ausstrahlt.

Die deutsche Gruppe komplettiert heute den zweiten Spieltag – und die Europameisterschaft hat schon erste Erkenntnisse und Überraschungen geliefert. Die Niederlande und Belgien sind bereits fürs Achtelfinale qualifiziert – genauso wie die italienische Mannschaft, die bisher vielleicht den besten Fußball gespielt hat. Mir imponiert bei den Italienern alleine schon, wie sie ihre Hymne brüllen. Als Zuschauer weißt du: Sie lieben und leben ihr Land und den Fußball. Sie sind wach, bereit – und sie überraschen in diesem Jahr mit ihrer Spielweise.

Die Bewertung war mir zu negativ

Früher ging es darum, kompakt zu stehen und im Optimalfall ein 1:0 über die Zeit zu bringen. Heute gehen sie auf das nächste Tor und spielen nach vorne. Man kann sagen: Die Italiener spielen wie vor einigen Jahren die Franzosen, die stattdessen deutlich defensiver zu Werke gehen als gewohnt. Bisher allerdings genauso erfolgreich.

Ähnlich erstaunt war ich beim Echo in den Medien und unter Experten nach dem 0:1 gegen Frankreich. Die deutsche Mannschaft hatte die Spielkontrolle – vielleicht auch, weil Frankreich sie uns überlassen hat. Aber wir haben ein gutes Spiel gemacht und weiterhin alle Chancen auf das Achtelfinale. Die Bewertung fiel mir an einigen Stellen zu negativ aus.

Die Stürmerliste ist lang

In einem Punkt muss ich den Kritikern allerdings recht geben: Deutschland hat es nicht geschafft, Chancen zu kreieren. Im letzten Drittel des Spielfelds hatten wir enorme Probleme. Aber die kommen nicht von ungefähr.

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Nahezu alle Konkurrenten und insbesondere die Topnationen haben mindestens einen wuchtigen Mittelstürmer. Belgien hat Romelu Lukaku, England Harry Kane, Italien Ciro Immobile, die Niederlande haben Wout Weghorst, Frankreich hat Karim Benzema und Olivier Giroud, Polen Robert Lewandowski, Tschechien hat Patrik Schick, Spanien Alvaro Morata und unser nächster Gegner Portugal hat Cristiano Ronaldo. Die Liste könnte man so weiterführen.

Kein Mittelstürmer seit Klose

Sie führt zu dem Ergebnis: Wir sind die einzige unter den Topnationen der Europameisterschaft, die keinen Mittelstürmer von internationalem Format hat, ohne dass ich Kevin Volland oder anderen Spielern zu nahe treten möchte. Aber letztlich ist auch Volland genau wie Thomas Müller, Serge Gnabry, Leroy Sané, Timo Werner oder Kai Havertz kein echter Mittelstürmer. Um ehrlich zu sein, hatten wir seit Miroslav Klose keinen mehr – zumindest keinen, der auf dieser Position unumstritten war und uns Tore garantiert hat.

Nun diskutieren Fans und Experten vor dem Duell mit Portugal (ab 18 Uhr im Liveticker bei t-online), wie Bundestrainer Joachim Löw umstellen muss. Müsste Joshua Kimmich in die Mitte rücken? Braucht es Emre Can auf der rechten Seite oder im defensiven Mittelfeld? Muss Sané spielen und Löw nicht sowieso viel offensiver agieren? Am besten mit einem neuen System? Oder bleibt Löw stur, wie es die "Bild"-Zeitung formulierte?

Ich sage: Das ist alles Quatsch – und hat auch mit Sturheit nichts zu tun, sondern mit logischem Denken. Joachim Löw ist nicht stur. Er behält einfach die Nerven, wenn er nicht alles auf den Kopf stellt.

Das wird die größte Aufgabe für Flick

Wir haben keinen Mittelstürmer und somit auch niemanden, den wir über die Außen und mit hohen Flanken bedienen können. Das ist ein Nachteil, weil uns Variabilität im Angriffsspiel fehlt, weil wir nicht auf zweite Bälle gehen können, weil uns dadurch Torgefahr abgeht. Und umso bitterer ist es, weil es mit Robin Gosens und Joshua Kimmich Top-Flankengeber gibt.

In Wahrheit ist dieses das größte Problem im deutschen Fußball. Zumal auch die Topklubs in der Bundesliga erfolgreich sind mit einem klaren Mittelstürmer. Der FC Bayern hat mit Robert Lewandowski sechs Titel in einer Saison geholt. Borussia Dortmund hat Erling Haaland und Eintracht Frankfurt hat mit André Silva überrascht, genauso wie Wolfsburg mit Weghorst. Leider ist da keiner für die deutsche Nationalmannschaft dabei. Da wieder einen zu finden oder auszubilden, wird die größte Aufgabe für Hansi Flick als Nachfolger von Joachim Löw.

Ich möchte aber betonen: Für Löw selbst wird dieses Problem nicht mehr zu lösen sein in diesem Turnier – und dementsprechend helfen auch kein Aktionismus und keine Umstellungen.

Keine Alternative zu Kimmich

Für mich gibt es deshalb auch nur eine einzige Änderung für das Gruppenspiel gegen Portugal, die Sinn ergibt. Und das ist die Hereinnahme von Leon Goretzka. Löw kündigte bei der Spieltags-Pressekonferenz gestern Abend an, ihn nach der Verletzungspause eher nicht von Beginn an zu bringen, sondern im Laufe des Spiels als Option zu betrachten. Je länger Goretzka spielen kann, desto besser. Er hat eine enorme Power im Spiel nach vorne, ist groß gewachsen und extrem präsent im Mittelfeld. Er ist offensiver als Ilkay Gündogan und Toni Kroos. Er wird enorm helfen – auch und gerade bei Standardsituationen.

Alle anderen Überlegungen bringen die Nationalmannschaft nicht weiter. Beispiel Kimmich: Es gibt schlichtweg keine Alternative auf der rechten Seite. Erst recht nach dem Ausfall von Lukas Klostermann für die nächsten zwei Wochen.

Wir haben nicht mal jemanden für 15 Minuten

In meinen Augen kann die Lehre aus diesem Turnier nur sein, dass wir im deutschen Fußball über Mittelstürmer reden müssen – und überlegen, wie wir sie ausbilden. Das fing alles an mit der falschen Neun und der Philosophie, über Ballbesitz und ballsichere Spieler das Spiel machen zu wollen. Ganz offensichtlich hat man das übertrieben. Der Deutsche Fußballbund und die Vereine müssen daran arbeiten.

Wir brauchen wieder Spieler wie Miro Klose oder die zahlreichen Topstürmer in den Neunzigern. Zu meiner aktiven Zeit hatten wir teilweise ein Überangebot – von Jürgen Klinsmann über Rudi Völler, Karl-Heinz Riedle bis später Stefan Kuntz, Ulf Kirsten, Oliver Bierhoff. Es geht auch gar nicht zwangsläufig darum, dass die Stürmer immer von Beginn an spielen. Unser aktuelles Problem ist, dass wir nicht mal jemanden haben, den wir für die letzten 15 bis 20 Minuten bringen können. Da müssen wir im Notfall einen Innenverteidiger einwechseln, der kopfballstark ist.

Eine Niederlage wäre fatal

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Wir haben tolle Offensivspieler in der deutschen Nationalmannschaft, die technisch brillant sind, ballsicher, im Dribbling überzeugen und auch Zug zum Tor haben – aber Mittelstürmer fehlen uns eben total. Und deshalb müssen wir das Spiel erst mal weiter überwiegend auf dem Boden halten statt mit Flanken und Kopfbällen zu operieren. Auch gegen Portugal.

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Ich bin trotzdem optimistisch. Der Anspruch muss natürlich sein, den Europameister und auch Cristiano Ronaldo zu schlagen. Deshalb muss die Mannschaft auch mit Anspannung und voller Fokussierung in das Spiel gehen. Dennoch könnten wir am Ende mit einem Unentschieden leben. Eine Niederlage wäre fatal. Ich persönlich denke da allerdings gar nicht erst dran.

Baut Ronaldo ab? Da kann ich nur schmunzeln

Der frühere Stürmer Nuno Gomes hat im t-online-Interview gesagt, dass Portugal keine Schwächen hat. Ich widerspreche ihm. Jede Mannschaft hat Schwächen. Und auf jeden Fall auch die portugiesische. Wenn die erst mal in Rückstand gerät und Cristiano Ronaldo keinen Stich sieht, will ich mal sehen, wie sie reagiert. Allein die Abhängigkeit von Ronaldo ist durchaus eine Schwäche, weil sie weiterhin enorm ist. Natürlich ist das auch nachvollziehbar, weil Ronaldo nach wie vor absolute Weltklasse ist.

Ich kann ohnehin nur schmunzeln, wenn es heißt, dass Ronaldo womöglich langsam abbaut. Wer in drei Jahren in 133 Spielen an 123 Toren für Juventus Turin beteiligt ist und gerade zum EM-Auftakt gegen Ungarn zwei Tore erzielt hat, der baut ganz sicher kein bisschen ab. Wenn es einen Unterschied zu seinen erfolgreichsten Jahren bei Real Madrid gibt, dann sind es die Mitspieler, die dort perfekt für ihn waren und sich bei Juve oder Portugal auf einem etwas niedrigeren Niveau bewegen.

Ronaldo ist gefährlicher als Mbappé

Ronaldo ist schon jetzt Rekordtorschütze bei Europameisterschaften mit elf Treffern – und Rekordteilnehmer, weil er fünfmal dabei war. Ich gehe davon aus, dass er sich die Weltmeisterschaft in Katar 2022 nicht nehmen lässt – und womöglich auch bei der nächsten EM 2024 noch mal dabei ist. Er ist gesegnet mit seinem Körper, den er perfekt pflegt. So eine lange Zeit auf so einem Niveau – ich ziehe davor den Hut.

Deutschland hatte Kylian Mbappé im Duell mit Frankreich gut im Griff. Ich hoffe, dass das mit Ronaldo ebenfalls gelingt. Beiden darfst du keine Luft lassen, Ronaldo ist mit seinen Freistößen und seiner Erfahrung allerdings wahrscheinlich noch eine Spur gefährlicher.

Ich bin dennoch überzeugt, dass Deutschland nicht verliert – selbst wenn wir kein Tor schießen.

Transparenzhinweis
  • Stefan Effenberg ist Botschafter des FC Bayern München und sagt dazu: „Ich repräsentiere den FC Bayern, insbesondere im Ausland. Mein Engagement hat keinen Einfluss auf meine Kolumnen bei t-online. Hier setze ich mich weiterhin kritisch und unabhängig mit dem Fußball auseinander — auch und insbesondere mit dem FC Bayern.“
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