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Corona-Krise: Warum ist es jetzt so schwer sich an die Regeln zu halten?


Steigende Corona-Zahlen
Warum ist es jetzt so schwer, sich an die Regeln zu halten?

MeinungEine Kolumne von Ulrike Scheuermann

Aktualisiert am 11.10.2020Lesedauer: 4 Min.
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Polizisten führen einen Teilnehmer einer illegalen Corona-Party in München ab: Nicht alle Menschen halten sich an die Regeln zur Eindämmung der Pandemie.Vergrößern des Bildes
Polizisten führen einen Teilnehmer einer illegalen Corona-Party in München ab: Nicht alle Menschen halten sich an die Regeln zur Eindämmung der Pandemie. (Quelle: Peter Kneffel/dpa-bilder)

Am Anfang haben sich die meisten Menschen an die Corona-Regeln gehalten. Nun steigen die Infektionszahlen wieder. Denn aus psychologischer Sicht ist die Situation in vielen Punkten jetzt anders.

Es wird immer deutlicher, dass psychologische Phänomene und daraus resultierende Verhaltensweisen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der Pandemie nehmen. Denn nach bisherigem Wissensstand müssen wir uns an die Regeln halten, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.

Wer sich mit den psychologischen Herausforderungen einer Pandemie beschäftigt, kann eigenes und fremdes Verhalten verstehen und zumindest das eigene gegebenenfalls korrigieren.

Der Corona-Frühling

Im Frühjahr hatte Angela Merkel den weitgehenden Lockdown ausgerufen. Wir haben überwiegend einig reagiert und einen vernünftigen Umgang mit Corona gezeigt. Daher war die Hoffnung, dass wir in Phase 1 von Corona zurück gelangen, in der es um Einzelfälle ging und diese zurückverfolgt werden können. Dass wir uns so vorbildlich verhalten haben, hat auch psychologisch erklärbare Gründe:

  • Die meisten stimmten den Regeln zu, denn sie waren aufgrund der vorhandenen Informationen nachvollziehbar.
  • Man vertraute der Regierung, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen entscheidet. Zudem war klar, dass es noch zu wenig Erfahrungen gab, um gesichert einen richtigen Weg zu wissen.
  • Die Regeln galten weitgehend einheitlich für ganz Deutschland.
  • Wir hatten EIN Ziel und dabei ging es um das Gemeinwohl: "Wir schaffen das. Es geht um Menschenleben, um den Schutz meiner Gesundheit und die der anderen. Wir ziehen alle an einem Strang".
  • Die Situation schien zeitlich begrenzt auf einige Wochen, maximal zwei oder drei Monate. Mit der Aussicht auf ein baldiges Ende können sich Menschen gut für eine Weile einschränken und etwas aus- und durchhalten.
  • Es gab – auch mit Blick auf andere Länder – einen Stolz, der motivierte: Wir sind ein wohlhabendes und gut organisiertes Land, das soziale Sicherungssysteme wie Kurzarbeitergeld und Soforthilfen zur Verfügung stellen kann, und das Gesundheitswesen ist vergleichsweise gut aufgestellt.

Heute haben wir wieder steigende Infektionszahlen, ähnlich wie im Frühjahr. Doch aus psychologischer Sicht ist die Situation in vielen Punkten jetzt anders.

Der Corona-Herbst

  • Viele wollen nachholen, was monatelang schmerzlich gefehlt hat: Sozialkontakte, körperliche Nähe und Geselligkeit.
  • Die Komplexität der Informationen führt dazu, dass viele nicht mehr verstehen, was los ist. Wir hören viel, auch, dass es das Virus nicht gäbe.
  • Es gibt einen Flickenteppich an Corona-Regeln in den Bundesländern. Was in meinem Bundesland verboten ist, ist im anderen schon wieder erlaubt. Wo ist die Einigkeit geblieben? Diese Verwirrungen demotivieren.
  • Psychische, wirtschaftliche, soziale Belastungen und die Überanstrengung der letzten Monate führen in Kombination mit der zweiten Welle zu Enttäuschung und Frustration: "Alles, was wir im Frühjahr so mühevoll hinbekommen hatten, war umsonst."
  • Eine anti-wissenschaftliche Stimmung nimmt zu. Das ist auch der Grund, warum sich Gerüchte schnell ausbreiten können.

Psychologische Phänomene in der zweiten Welle

Wir befinden uns in einem sozialen Dilemma: Wenn man eine Maske trägt, Abstand hält und die Regeln befolgt, kann man davon ausgehen, dass man alles richtig macht. Aber hier kann ein soziales Dilemma entstehen: Wenn sich nämlich jemand zurückhalten, aber nicht auch gleichzeitig der oder die Dumme sein will, die sich bemüht, während andere es sich leicht machen.

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Im Zusammenhang mit diesem Dilemma gibt es weitere psychologische Muster:

  • "Selektive Wahrnehmung", das heißt: Man nimmt nur das wahr, was die eigene Meinung bestätigt oder worauf man besonders achtet. Beispiel: In der S-Bahn tragen alle eine Maske bis auf einen. Dieser eine fällt einem auf und prägt sich ein. Man denkt: "Dann brauche ich es ja auch nicht so eng zu sehen."
  • "Kognitive Verfügbarkeitsverzerrung": Man sieht in einer Kneipe alle ohne Maske eng zusammenstehen. Die vielen, die daheim sind, sieht man nicht. Es entsteht irrtümlich der Eindruck, dass sich keiner mehr an die Regeln hält.
  • "Trittbrettfahren": Ein Trittbrettfahrer nutzt die Vorteile, wenn sich die anderen an die Regeln halten, aber leistet selbst keinen Beitrag: "Es geht ja auch so". Deshalb schränkt er sich nicht ein.
  • "Reaktanz": Es gibt einen inneren Widerstand gegen Einschränkungen durch Verbote und Regeln, verbunden mit einer Trotzreaktion, gerade das zu tun, was verboten ist: "Jetzt erst recht!".
  • Zudem hat sich das "Regel-Ausnahme-Verhältnis" verändert: "Können Sie bitte den Abstand einhalten?", wird schwieriger zu äußern, wenn immer mehr Leute Ausnahmen machen.

Psychologische Herausforderungen angehen

Der weitere Verlauf der Pandemie wird wesentlich mit auf der psychologischen Ebene entschieden. Bisher achten wir darauf aber zu wenig. Wie können wir positiv Einfluss nehmen?

  • Fragen wir uns, ob bei uns gerade eines dieser psychologischen Muster im Gange ist, die ich eben beschrieben habe. Versuchen wir, das zu ändern.
  • Setzen wir mehr Energie in Bemühungen, mit unseren eigenen Sorgen, Ängsten und Nöten fürsorglich umzugehen. Zum Beispiel, indem wir sie erst einmal anerkennen und sie mit anderen teilen, anstatt zu schimpfen, wüten, egoistisch und trotzig zu handeln.
  • Erinnern wir uns an unseren Beitrag zum Gemeinwohl. Vieles, was wir im Moment tun müssen, ist erst einmal wichtig für die Gemeinschaft, für die Gesundheit aller und dafür, dass wir so schnell wie möglich wieder unser hoffentlich normales Leben leben können.

Aufs Ganze geschaut, sehe ich es so: Wir machen vieles immer noch gut. Aber: Wir müssen viele psychische Fähigkeiten (weiter-)entwickeln – etwa Unsicherheitskompetenz, Verbundenheitsgefühl mit anderen Menschen trotz körperlicher Distanz, Sinn für das Gemeinwohl und Zusammenstehen in einer schwierigen Situation. Anstatt an Einzelinteressen festzuhalten.

Diese psychischen Kompetenzen brauchen wir jetzt dringend. Um die aktuelle Krise bestmöglich zu bewältigen, und auch, damit wir auf eine mögliche nächste Krise besser vorbereitet sind.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Steven Taylor: "Die Pandemie als psychologische Herausforderung: Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement“. Psychosozial Verlag 2020
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