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Ukrainer nach Russland verschleppt? Die "Konzentrationslager"-Vorwürfe


Ukrainer nach Russland verschleppt?
Das steckt hinter den "Konzentrationslager"-Vorwürfen

Von Liesa Wölm

Aktualisiert am 26.04.2022Lesedauer: 7 Min.
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Eine Frau steht vor Trümmern in Mariupol: Viele Zivilisten suchen Schutz in Kellerräumen.Vergrößern des Bildes
Eine Frau steht vor Trümmern in Mariupol: Viele Zivilisten suchen Schutz in Kellerräumen. (Quelle: Sergei Bobylev/TASS)

Begeht die russische Armee weitere Kriegsverbrechen? Die Ukraine wirft dem Kreml vor, Zivilisten in "Konzentrationslager" zu bringen. Zeugen berichten: Es gibt nicht für alle einen Ausweg.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von "Konzentrationslagern", in die Bewohner aus den umkämpften Gebieten angeblich gebracht würden; Politiker und Menschenrechtler vergleichen die Geschehnisse mit Verbrechen unter Josef Stalin im Zweiten Weltkrieg: Rund zwei Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine mehren sich die Berichte über Verschleppungen ukrainischer Einwohner nach Russland.

Anfang dieses Monats erklärte der US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Michael Carpenter, eine Untersuchungsmission habe Beweise für die Deportation ukrainischer Zivilisten nach Russland gefunden. Aber was ist tatsächlich dran an den Vorwürfen? Und was erleben die Menschen vor Ort?

Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:

Was wirft die Ukraine Russland vor?

Die Ukraine beschuldigt die russischen Behörden, Tausende Menschen aus besetzten Gebieten nach Russland zu deportieren. Demzufolge sollen zahlreiche Ukrainer in Filtrationslager nahe der russischen Grenze gebracht werden – nach offiziellen Angaben des Kremls seien dies Sammelstellen, in denen eventuelle Kämpfer von Zivilisten getrennt werden sollen.

"Der ehrliche Name dafür ist ein anderer – das sind Konzentrationslager. So wie sie die Nazis seinerzeit gebaut haben", sagte hingegen der ukrainische Präsident Selenskyj am Sonntag. Er kritisierte, dass Ukrainer aus diesen Lagern auch nach Russland gebracht würden. "Unter anderem deportieren sie Kinder – in der Hoffnung, dass sie vergessen, wo sie herkommen, wo ihr Zuhause ist", so Selenskyj.

Die Genfer Konventionen von 1949, die internationale Rechtsstandards für die humanitäre Behandlung in Konflikten festlegen, verbieten individuelle oder massenhafte Zwangsumsiedlungen sowie Deportationen geschützter Personen aus besetzten Gebieten unabhängig von ihren Motiven und stufen derartige Aktivitäten als Kriegsverbrechen ein. Tatyana Lokshina, stellvertretende Direktorin der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch, erklärte dem "Guardian": "Nach den internationalen Menschenrechtsvorschriften bedeutet Zwangsumsiedlung oder -transfer nicht unbedingt, dass die Menschen mit vorgehaltener Waffe in ein Fahrzeug gezwungen wurden, sondern vielmehr, dass sie sich in einer Situation befanden, die ihnen keine andere Wahl ließ."

Die Ukraine wirft Russland vor, dass die Zivilisten den Soldaten in ihren eigenen Häusern oder in Schutzräumen größtenteils schutzlos ausgeliefert seien. "Russische Soldaten öffnen einfach diese Unterkünfte und sagen ihnen: 'Seht her, ihr habt fünf Minuten Zeit (...). Geht einfach fünf, drei oder sieben Kilometer, und die Busse werden euch in das vorübergehend von Russland kontrollierte Gebiet bringen. Wenn ihr nicht geht, wird dieses Haus in einer Stunde bombardiert werden", berichtete der stellvertretende Bürgermeister von Mariupol, Sergej Orlow, dem britischen Nachrichtensender BBC.

Der Stadtrat von Mariupol beschuldigt Russland zudem, die Filtrationszentren einzurichten, um mögliche Kriegsverbrechen in der Stadt zu vertuschen. Alle potenziellen Zeugen der Gräueltaten der Besatzer sollten durch Filtrationslager identifiziert und vernichtet werden, so der Rat laut CNN.

Was geschieht in den Filtrationslagern?

Der Stadtrat von Mariupol schrieb bereits im März auf seinem Telegramkanal: "Es ist bekannt, dass die gefangenen Bewohner von Mariupol in Filtrationslager gebracht wurden, wo die Besatzer die Telefone und Dokumente der Menschen überprüften." Inzwischen gibt es mehrere Berichte von Augenzeugen, die schildern, wie das Prozedere ablaufen soll.

So erzählte eine Frau der US-Zeitung "Washington Post" von ihren Erfahrungen in einem Lager in Bezimenne, einem Küstendorf etwa 90 Kilometer östlich von Mariupol. Die Region steht unter der Kontrolle der von Russland unterstützten Separatisten, die seit 2014 im Osten des Landes gegen die ukrainischen Streitkräfte kämpfen.

Normalerweise dauert die Fahrt mit dem Auto von der Hafenstadt dorthin etwa eine Dreiviertelstunde. Die Augenzeugin erzählte jedoch von einer "langen und verworrenen Fahrt", die Fahrer hätten aufgrund der Zerstörungen durch Kämpfe immer wieder ihre Route ändern müssen. Während der Reise sei sie wie eine Gefangene oder Kriminelle behandelt worden: "Ich fühlte mich wie ein Sack Kartoffeln, der herumgeworfen wird." Man habe keinen Willen. Eine Flucht sei nicht möglich.

Von russischer Seite heißt es, etwa 5.000 Geflüchtete seien in Bezimenne in Zelten, einer Schule und einem Club untergebracht worden. Das berichtete das Amtsblatt der russischen Regierung, die "Rossijskaja gaseta", vor wenigen Wochen. Die Menschen im Lager würden gründlichen Sicherheitskontrollen unterzogen. So soll verhindert werden, dass "ukrainische Nationalisten als Flüchtlinge getarnt nach Russland eindringen, um zu fliehen und einer Bestrafung zu entgehen."

Satellitenbilder, die mehreren Medien vorliegen, bestätigten den Aufbau von Zelten in dem Ort. In diesen Militärzelten werde "jede vorübergehend vertriebene Person" von allen Seiten fotografiert und es würden Fingerabdrücke genommen, sagte eine Zeugin der "Washington Post". Dann sollten die Menschen den Soldaten ihre Handys, Passwörter und Telefonkontakte aushändigen. Wie die "Rossijskaja gaseta" berichtete, würden die Daten in einer Datenbank für gesuchte Verbrecher überprüft.

Danach gebe es ein Verhör, sagte die Betroffene. Die Soldaten hätten sie gefragt, ob sie Verwandte im ukrainischen Militär oder in der Ukraine zurückgebliebene Verwandte habe. Sie wollten demnach auch wissen, was sie von den Behörden in Mariupol hält, beschrieb die Frau den Prozess.

Wie geht es nach den Filtrationslagern weiter?

"Nachdem sie die Filtrationslager passiert haben, werden die Ukrainer in wirtschaftlich schwache Gebiete der Russischen Föderation geschickt", heißt es vonseiten des ukrainischen Verteidigungsministeriums. Eine Reihe von nördlichen Regionen werde als Endziel genannt, insbesondere Sachalin, die größte Insel Russlands, die im Pazifik liegt. Die Insel war schon zur Zeit der russischen Zaren (1547–1721) ein bekannter Ort der Verbannung.

Laut Plan der russischen Regierung von Mitte März sollen dort rund 1.200 Ukrainerinnen und Ukrainer untergebracht werden. Insgesamt sollen demnach zunächst 95.000 Geflüchtete verteilt werden, größere Kontingente sind etwa für den europäischen Teil des Landes mit Ausnahme Moskaus und Sankt Petersburgs oder für die annektierte Halbinsel Krim vorgesehen.

Den Ukrainern werde über Arbeitsvermittlungszentren eine offizielle Beschäftigung "angeboten", sagt das ukrainische Verteidigungsministerium. Diejenigen, die zustimmten, erhielten Dokumente, die ihnen das Verlassen der russischen Regionen für zwei Jahre verböten. Diese Angaben wurden jedoch nicht von unabhängiger Seite bestätigt.

Die Augenzeugin der "Washington Post" berichtete, sie sei nach der Abfertigung im Filtrationslager mit mehreren Hundert weiteren Personen über die Grenze nach Russland eskortiert worden. Dort sei sie erneut befragt worden, dieses Mal von Beamten des FSB, des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes. Dieses Verhör sei "viel härter" gewesen: Die Soldaten hätten sie über den Zugang zu ihren Konten in den sozialen Medien ausgefragt und ob sie etwas über die Bewegungen des ukrainischen Militärs wisse.

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Die Menschen seien schließlich nach Taganrog, eine russische Hafenstadt am Asowschen Meer, gebracht worden. Erst dort hätten sie erfahren, dass ihr endgültiges Ziel Wladimir sei, eine Stadt etwa 200 Kilometer östlich von Moskau.

Der Frau sei es jedoch gelungen, die russischen Soldaten davon zu überzeugen, dass sie einen Freund in der Nähe habe, der bereit sei, ihre Familie aufzunehmen. Sie habe sich geweigert, Dokumente zu unterschreiben, die ihrer Familie einen offiziellen Flüchtlingsstatus in Russland verschaffen würden. Viele andere Menschen seien jedoch zurückgeblieben, so die Augenzeugin. Auch der Stadtrat von Mariupol sagte, bei zahlreichen Zivilisten sei es ungewiss, wo sie verblieben.

Zudem befürchten viele Ukrainer, dass Männer dazu verpflichtet würden, gegen ihr eigenes Land zu kämpfen. "Ich mache mir Sorgen, dass sie unsere ukrainischen Männer nehmen, ihnen russische Uniformen anziehen, sie in einen Bus setzen und in die Ukraine bringen", sagte eine Mutter dem US-Nachrichtensender "NBC News", nachdem ihr Sohn deportiert worden sein soll. Sie befürchte, dass die Männer dort einer Gehirnwäsche unterzogen und gezwungen würden, zu den Waffen zu greifen.

Was sagt Russland zu den Vorwürfen?

Russland bestreitet, Menschen aus der Ukraine zwangsweise umzusiedeln. Der Kreml bezeichnete derartige Berichte bisher stets als "Lügen". Russische Regierungsvertreter sowie Journalisten des staatlichen Fernsehens behaupten, dass ukrainische "nationalistische Bataillone" die Menschen in Mariupol "als menschliche Schutzschilde" benutzen und sich weigern, sie gehen zu lassen. Russische Streitkräfte retteten sie deshalb und brachten sie in Sicherheit – außerhalb der Ukraine.

Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums wurden seit Beginn der "militärischen Sonderoperation", wie der Kreml den Krieg bezeichnet, mehr als 951.000 Einwohner aus der Ukraine und den selbst ernannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk nach Russland evakuiert. Darunter sollen mehr als 174.600 Kinder sein.

Mykyta Poturayev, der Vorsitzende des humanitären Ausschusses des ukrainischen Parlaments, sprach in diesem Zusammenhang von einer halben Million Menschen, die ohne ihre Zustimmung aus der Ukraine in die Russische Föderation deportiert worden seien. Die Angaben ließen sich jedoch nicht unabhängig überprüfen. Das tatsächliche Ausmaß bleibt also vorerst unklar.

Welche Folgen haben die angeblichen Deportationen?

Die angeblichen Zwangsabschiebungen haben internationale Menschenrechtsgruppen auf den Plan gerufen. "Diesen Menschen wurde keine Möglichkeit gegeben, an einen sichereren Ort in der Ukraine zu fliehen", sagte Tatyana Lokshina, stellvertretende Direktorin der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch, dem "Guardian". Viele hätten sich in einer Situation wiedergefunden, in der ihre einzige Wahl darin bestand, nach Russland überzusetzen oder zu sterben, während der Beschuss immer intensiver geworden sei.

Die Menschenrechtsverteidigerin Swetlana Gannuschkina, die eine Flüchtlingsorganisation in Moskau leitet, sagte "CNN", sie habe Dutzende Hilfeersuchen von Ukrainern erhalten, die nun in Städten in ganz Russland gestrandet seien. "Das sind Menschen, die sich in einer absolut schrecklichen Situation zwischen zwei Feuern befinden", sagte Gannushkina. Von freiem Willen könne hier keine Rede sein. "Es gab keinen anderen Weg als den Weg nach Russland."

Diese Schilderungen legen ebenso wie die Augenzeugenberichte nahe, dass es sich tatsächlich um Deportationen und somit um Kriegsverbrechen handelt. Dementsprechend könnte der Kreml, wenn die Berichte bestätigt werden, dafür belangt werden.

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Gab es Filtrationslager in der russischen Geschichte schon einmal?

Die Praxis der Filtrationslager weckt Erinnerungen an die Deportation von Millionen von Menschen in entlegene Teile der Sowjetunion durch den sowjetischen Führer Josef Stalin während des Zweiten Weltkriegs (1939-1945). Massenerschießungen angeblicher "Nationalisten" gingen mit systematischen und gewaltvollen Umsiedlungen einher. In der Sowjetukraine und Belarus etwa deportierten die sowjetischen Behörden mehrere Zehntausend Menschen ukrainischer, polnischer und belarussischer Nationalität nach Zentralasien.

Auch während des Tschetschenienkriegs in den 1990er-Jahren setzten die russischen Streitkräfte Filtrationslager ein, in denen Menschenrechtsgruppen umfangreiche Misshandlungen, darunter Folter, Geiselnahmen und außergerichtliche Tötungen, dokumentierten.

"Was die Besatzer heute tun, ist der älteren Generation vertraut, die die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat, als die Nazis Menschen gewaltsam gefangen nahmen", sagte der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Boitschenko.

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